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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Bedeutung ist in anderem Zusammenhang schon §. 23, 3. ausgesprochen.
-- Der Schmuck der eigenen persönlichen Erscheinung ist mit der Ver-
schönerung eines todten Products der Zweckmäßigkeit, obwohl er zunächst
auch an einem solchen, der Kleidung, angebracht wird, nicht zu verwech-
seln, denn nicht die Kleidung wird geschmückt, sondern durch sie der Leib als
Erscheinung des Geistes; der Schmuck will aber sagen, daß diese Erschei-
nung ein Unendliches anzeigt, das in keinem seiner bestimmten Zwecke
erschöpft ist, sondern frei schwebend eine Welt in sich trägt: indem sich
der Mensch schmückt, erklärt er spielend die Noth und den Drang des
Lebens für Schein. Uebertreibt er es freilich, so kehrt sich die Sache um
und der Schmuck, statt die Unendlichkeit seines Herrn auszusprechen,
macht ihn zu seinem Narren und Knecht. Wie frühe übrigens diese Form
auftritt, wie selbst der Wilde durch sie über die Arbeit für die Nothdurft
sich erhebt, zeigen die höchst feinen Schmuck-Erzeugnisse selbst der rohesten
Völker. -- Es tritt nun aber natürlich eine höhere und selbständigere
Form des Spiels erst ein, wenn ein Ganzes, ein Stück aus dem Lebens-
bilde vorneherein fingirt wird. Wir nennen diese höhere Form Nach-
ahmungstrieb, ohne zu verkennen, daß es zwei Arten des Nach-
ahmungstriebs giebt, einen stoffartigen, der im wirklichen Lebensernste
unbewußt den Sitten und Gewohnheiten Anderer nachgeht, und einen
freien, den eigentlich mimischen: nur der letztere gehört als eine Gattung
des Spieltriebs der Aesthetik an. Mit der subjectiven Form desselben
stehen wir an der Hülse, worin der Keim des Schauspiels liegt, denn
die Lust, sich zu maskiren und andere Personen darzustellen, ist sein
Ausgangspunct. Es ist nicht der Keim selbst, dieser liegt vielmehr, wie
für das Schauspiel (Drama und darstellende Kunst), in dem geistigen
Schöpfungstriebe der Phantasie; aber in dieser Gattung trifft die Phan-
tasie, wenn sie sich äußern soll, gewisse Fertigkeiten solcher Art schon aus-
gebildet an, wie sie der Spieltrieb entwickelt (Mummenschanz, religiöse,
nachahmende Tänze, Chöre), und eben von solchen vorausgesetzten Uebun-
gen ist die Rede, sonst dürften wir nur einfach für alle Kunst die Spiele
der Einbildungskraft, welche der Ausbildung der Phantasie vorausgehen,
als Vorstufe anführen, was aber eben nicht hieher, sondern in die Lehre
von der Phantasie gehört. Aber nicht nur das Drama, sondern was in
allen Gattungen der Poesie objective Darstellung heißt, zieht irgendwie
aus dieser vorausgehenden Verlarvungslust (die ja auch in dem mehr
epischen und lyrischen, als dramatischen Göthe so stark war) Vortheil;
der Tanz ferner ist ursprünglich mimische Darstellung nicht blos von
Empfindungen, sondern auch von Sitten und Handlungen, und auch die
einfachsten Anfänge der Musik kann man als ein Spiel ansehen, das seine
Luft daran hatte, Empfindungen mit Anklang von Naturlauten nachzuahmen.

Bedeutung iſt in anderem Zuſammenhang ſchon §. 23, 3. ausgeſprochen.
— Der Schmuck der eigenen perſönlichen Erſcheinung iſt mit der Ver-
ſchönerung eines todten Products der Zweckmäßigkeit, obwohl er zunächſt
auch an einem ſolchen, der Kleidung, angebracht wird, nicht zu verwech-
ſeln, denn nicht die Kleidung wird geſchmückt, ſondern durch ſie der Leib als
Erſcheinung des Geiſtes; der Schmuck will aber ſagen, daß dieſe Erſchei-
nung ein Unendliches anzeigt, das in keinem ſeiner beſtimmten Zwecke
erſchöpft iſt, ſondern frei ſchwebend eine Welt in ſich trägt: indem ſich
der Menſch ſchmückt, erklärt er ſpielend die Noth und den Drang des
Lebens für Schein. Uebertreibt er es freilich, ſo kehrt ſich die Sache um
und der Schmuck, ſtatt die Unendlichkeit ſeines Herrn auszuſprechen,
macht ihn zu ſeinem Narren und Knecht. Wie frühe übrigens dieſe Form
auftritt, wie ſelbſt der Wilde durch ſie über die Arbeit für die Nothdurft
ſich erhebt, zeigen die höchſt feinen Schmuck-Erzeugniſſe ſelbſt der roheſten
Völker. — Es tritt nun aber natürlich eine höhere und ſelbſtändigere
Form des Spiels erſt ein, wenn ein Ganzes, ein Stück aus dem Lebens-
bilde vorneherein fingirt wird. Wir nennen dieſe höhere Form Nach-
ahmungstrieb, ohne zu verkennen, daß es zwei Arten des Nach-
ahmungstriebs giebt, einen ſtoffartigen, der im wirklichen Lebensernſte
unbewußt den Sitten und Gewohnheiten Anderer nachgeht, und einen
freien, den eigentlich mimiſchen: nur der letztere gehört als eine Gattung
des Spieltriebs der Aeſthetik an. Mit der ſubjectiven Form deſſelben
ſtehen wir an der Hülſe, worin der Keim des Schauſpiels liegt, denn
die Luſt, ſich zu maskiren und andere Perſonen darzuſtellen, iſt ſein
Ausgangspunct. Es iſt nicht der Keim ſelbſt, dieſer liegt vielmehr, wie
für das Schauſpiel (Drama und darſtellende Kunſt), in dem geiſtigen
Schöpfungstriebe der Phantaſie; aber in dieſer Gattung trifft die Phan-
taſie, wenn ſie ſich äußern ſoll, gewiſſe Fertigkeiten ſolcher Art ſchon aus-
gebildet an, wie ſie der Spieltrieb entwickelt (Mummenſchanz, religiöſe,
nachahmende Tänze, Chöre), und eben von ſolchen vorausgeſetzten Uebun-
gen iſt die Rede, ſonſt dürften wir nur einfach für alle Kunſt die Spiele
der Einbildungskraft, welche der Ausbildung der Phantaſie vorausgehen,
als Vorſtufe anführen, was aber eben nicht hieher, ſondern in die Lehre
von der Phantaſie gehört. Aber nicht nur das Drama, ſondern was in
allen Gattungen der Poeſie objective Darſtellung heißt, zieht irgendwie
aus dieſer vorausgehenden Verlarvungsluſt (die ja auch in dem mehr
epiſchen und lyriſchen, als dramatiſchen Göthe ſo ſtark war) Vortheil;
der Tanz ferner iſt urſprünglich mimiſche Darſtellung nicht blos von
Empfindungen, ſondern auch von Sitten und Handlungen, und auch die
einfachſten Anfänge der Muſik kann man als ein Spiel anſehen, das ſeine
Luft daran hatte, Empfindungen mit Anklang von Naturlauten nachzuahmen.

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[92/0104] Bedeutung iſt in anderem Zuſammenhang ſchon §. 23, 3. ausgeſprochen. — Der Schmuck der eigenen perſönlichen Erſcheinung iſt mit der Ver- ſchönerung eines todten Products der Zweckmäßigkeit, obwohl er zunächſt auch an einem ſolchen, der Kleidung, angebracht wird, nicht zu verwech- ſeln, denn nicht die Kleidung wird geſchmückt, ſondern durch ſie der Leib als Erſcheinung des Geiſtes; der Schmuck will aber ſagen, daß dieſe Erſchei- nung ein Unendliches anzeigt, das in keinem ſeiner beſtimmten Zwecke erſchöpft iſt, ſondern frei ſchwebend eine Welt in ſich trägt: indem ſich der Menſch ſchmückt, erklärt er ſpielend die Noth und den Drang des Lebens für Schein. Uebertreibt er es freilich, ſo kehrt ſich die Sache um und der Schmuck, ſtatt die Unendlichkeit ſeines Herrn auszuſprechen, macht ihn zu ſeinem Narren und Knecht. Wie frühe übrigens dieſe Form auftritt, wie ſelbſt der Wilde durch ſie über die Arbeit für die Nothdurft ſich erhebt, zeigen die höchſt feinen Schmuck-Erzeugniſſe ſelbſt der roheſten Völker. — Es tritt nun aber natürlich eine höhere und ſelbſtändigere Form des Spiels erſt ein, wenn ein Ganzes, ein Stück aus dem Lebens- bilde vorneherein fingirt wird. Wir nennen dieſe höhere Form Nach- ahmungstrieb, ohne zu verkennen, daß es zwei Arten des Nach- ahmungstriebs giebt, einen ſtoffartigen, der im wirklichen Lebensernſte unbewußt den Sitten und Gewohnheiten Anderer nachgeht, und einen freien, den eigentlich mimiſchen: nur der letztere gehört als eine Gattung des Spieltriebs der Aeſthetik an. Mit der ſubjectiven Form deſſelben ſtehen wir an der Hülſe, worin der Keim des Schauſpiels liegt, denn die Luſt, ſich zu maskiren und andere Perſonen darzuſtellen, iſt ſein Ausgangspunct. Es iſt nicht der Keim ſelbſt, dieſer liegt vielmehr, wie für das Schauſpiel (Drama und darſtellende Kunſt), in dem geiſtigen Schöpfungstriebe der Phantaſie; aber in dieſer Gattung trifft die Phan- taſie, wenn ſie ſich äußern ſoll, gewiſſe Fertigkeiten ſolcher Art ſchon aus- gebildet an, wie ſie der Spieltrieb entwickelt (Mummenſchanz, religiöſe, nachahmende Tänze, Chöre), und eben von ſolchen vorausgeſetzten Uebun- gen iſt die Rede, ſonſt dürften wir nur einfach für alle Kunſt die Spiele der Einbildungskraft, welche der Ausbildung der Phantaſie vorausgehen, als Vorſtufe anführen, was aber eben nicht hieher, ſondern in die Lehre von der Phantaſie gehört. Aber nicht nur das Drama, ſondern was in allen Gattungen der Poeſie objective Darſtellung heißt, zieht irgendwie aus dieſer vorausgehenden Verlarvungsluſt (die ja auch in dem mehr epiſchen und lyriſchen, als dramatiſchen Göthe ſo ſtark war) Vortheil; der Tanz ferner iſt urſprünglich mimiſche Darſtellung nicht blos von Empfindungen, ſondern auch von Sitten und Handlungen, und auch die einfachſten Anfänge der Muſik kann man als ein Spiel anſehen, das ſeine Luft daran hatte, Empfindungen mit Anklang von Naturlauten nachzuahmen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/104>, abgerufen am 18.04.2024.