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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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heimischen Singvögel an Gesang und Federn kennen, Ahorn und Esche,
Erle und Buche nicht zu unterscheiden wissen! Es kann nicht stark genug
darauf gedrungen werden, daß die Phantasie vom Naturgefühl aus-
geht und daß "ein idealischer Anfang in der Kunst und Poesie immer
verdächtig ist" (Hegel Aesth. B. 1, S. 362).

§. 386.

1

Zur Anschauung gehört jedoch in diesem Zusammenhang auch die Aneig-
nung des an sich zwar Anschaulichen, jedoch Entfernten und nur durch eine,
zum Theil bereits vergeistigende, Kunde Ueberlieferten. Diese geht durch mehr
oder minder abstracte Mittel vor sich, welche aber dem Begabten hinreichen,
2das Ueberlieferte zu erfassen, als wäre es gegenwärtig. Allseitige, unbefangene
Erregbarkeit, besondere Schärfe und Wärme, Fülle und treue Aufbewahrung
im Gedächtnisse zeichnen den Letzteren in diesem wie im vorhergehenden Gebiete
(§. 385) aus und die Menge des Gesammelten wird an sich schon ein Vor-
schub für die höhere Verarbeitung.

1. Es handelt sich hier von der Geschichte im weitesten Sinne, auch
die gleichzeitigen, aber in entferntem Raume geschehenen Ereignisse des
Lebens miteinbegriffen. Sie werden durch das abstracte Wort, sei es in
lebendiger Rede oder Schrift, überliefert. Wir begehen kein useron proteron
wenn wir nun sogleich die Vorstellung des Entfernten und zwar die lebendig
vergegenwärtigende einer begabten Natur herbeiziehen; denn die Vor-
stellung, wie wir sie im folgenden, zweiten Momente aufzuführen haben,
ist schon die ungebundene, entfesselte, frei innerliche, welche in Abwesenheit
des Gegenstands ihr Spiel beginnt. Abwesend ist nun freilich auch der
geschichtlich überlieferte Gegenstand, aber jetzt reden wir noch von dem
Falle, wo die Ueberlieferung anwesend ist, die uns bindet, uns den Ge-
genstand so und nicht anders vorzustellen, also das Spiel der Imagination
noch ferne hält. Nun hat freilich die Ueberlieferung (noch ganz abgesehen
zwar von der Sage) schon an sich einen sichtenden, vergeistigenden Cha-
rakter; da verschwinden die mikroskopischen Züge der Erdenschwere und
sehr treffend sagt Ranke, die Geschichte berühre, jemehr sie in das
Gedächtniß der Menschen übergehe, desto mehr das Gebiet der Mythologie.
Allein trotzdem ist die Geschichte immer noch Prosa und wenn der Be-
gabte, wie wir dieß bedingen, sich ihre Auftritte wie gegenwärtige vor-
stellt, so bekommt er doch theils eine Masse von Vermittlungen mit in
Kauf, welche eine Veranschaulichung gar nicht zulassen, theils ist auch die
lebhaftere Vorstellung, die er sich vom Ueberlieferten macht, immer noch mit
viel Stoffartigem, was den anschaulichen Theil des Inhalts trübt, beladen.

heimiſchen Singvögel an Geſang und Federn kennen, Ahorn und Eſche,
Erle und Buche nicht zu unterſcheiden wiſſen! Es kann nicht ſtark genug
darauf gedrungen werden, daß die Phantaſie vom Naturgefühl aus-
geht und daß „ein idealiſcher Anfang in der Kunſt und Poeſie immer
verdächtig iſt“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 362).

§. 386.

1

Zur Anſchauung gehört jedoch in dieſem Zuſammenhang auch die Aneig-
nung des an ſich zwar Anſchaulichen, jedoch Entfernten und nur durch eine,
zum Theil bereits vergeiſtigende, Kunde Ueberlieferten. Dieſe geht durch mehr
oder minder abſtracte Mittel vor ſich, welche aber dem Begabten hinreichen,
2das Ueberlieferte zu erfaſſen, als wäre es gegenwärtig. Allſeitige, unbefangene
Erregbarkeit, beſondere Schärfe und Wärme, Fülle und treue Aufbewahrung
im Gedächtniſſe zeichnen den Letzteren in dieſem wie im vorhergehenden Gebiete
(§. 385) aus und die Menge des Geſammelten wird an ſich ſchon ein Vor-
ſchub für die höhere Verarbeitung.

1. Es handelt ſich hier von der Geſchichte im weiteſten Sinne, auch
die gleichzeitigen, aber in entferntem Raume geſchehenen Ereigniſſe des
Lebens miteinbegriffen. Sie werden durch das abſtracte Wort, ſei es in
lebendiger Rede oder Schrift, überliefert. Wir begehen kein ὕςερον πρώτερον
wenn wir nun ſogleich die Vorſtellung des Entfernten und zwar die lebendig
vergegenwärtigende einer begabten Natur herbeiziehen; denn die Vor-
ſtellung, wie wir ſie im folgenden, zweiten Momente aufzuführen haben,
iſt ſchon die ungebundene, entfeſſelte, frei innerliche, welche in Abweſenheit
des Gegenſtands ihr Spiel beginnt. Abweſend iſt nun freilich auch der
geſchichtlich überlieferte Gegenſtand, aber jetzt reden wir noch von dem
Falle, wo die Ueberlieferung anweſend iſt, die uns bindet, uns den Ge-
genſtand ſo und nicht anders vorzuſtellen, alſo das Spiel der Imagination
noch ferne hält. Nun hat freilich die Ueberlieferung (noch ganz abgeſehen
zwar von der Sage) ſchon an ſich einen ſichtenden, vergeiſtigenden Cha-
rakter; da verſchwinden die mikroskopiſchen Züge der Erdenſchwere und
ſehr treffend ſagt Ranke, die Geſchichte berühre, jemehr ſie in das
Gedächtniß der Menſchen übergehe, deſto mehr das Gebiet der Mythologie.
Allein trotzdem iſt die Geſchichte immer noch Proſa und wenn der Be-
gabte, wie wir dieß bedingen, ſich ihre Auftritte wie gegenwärtige vor-
ſtellt, ſo bekommt er doch theils eine Maſſe von Vermittlungen mit in
Kauf, welche eine Veranſchaulichung gar nicht zulaſſen, theils iſt auch die
lebhaftere Vorſtellung, die er ſich vom Ueberlieferten macht, immer noch mit
viel Stoffartigem, was den anſchaulichen Theil des Inhalts trübt, beladen.

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[318/0032] heimiſchen Singvögel an Geſang und Federn kennen, Ahorn und Eſche, Erle und Buche nicht zu unterſcheiden wiſſen! Es kann nicht ſtark genug darauf gedrungen werden, daß die Phantaſie vom Naturgefühl aus- geht und daß „ein idealiſcher Anfang in der Kunſt und Poeſie immer verdächtig iſt“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 362). §. 386. Zur Anſchauung gehört jedoch in dieſem Zuſammenhang auch die Aneig- nung des an ſich zwar Anſchaulichen, jedoch Entfernten und nur durch eine, zum Theil bereits vergeiſtigende, Kunde Ueberlieferten. Dieſe geht durch mehr oder minder abſtracte Mittel vor ſich, welche aber dem Begabten hinreichen, das Ueberlieferte zu erfaſſen, als wäre es gegenwärtig. Allſeitige, unbefangene Erregbarkeit, beſondere Schärfe und Wärme, Fülle und treue Aufbewahrung im Gedächtniſſe zeichnen den Letzteren in dieſem wie im vorhergehenden Gebiete (§. 385) aus und die Menge des Geſammelten wird an ſich ſchon ein Vor- ſchub für die höhere Verarbeitung. 1. Es handelt ſich hier von der Geſchichte im weiteſten Sinne, auch die gleichzeitigen, aber in entferntem Raume geſchehenen Ereigniſſe des Lebens miteinbegriffen. Sie werden durch das abſtracte Wort, ſei es in lebendiger Rede oder Schrift, überliefert. Wir begehen kein ὕςερον πρώτερον wenn wir nun ſogleich die Vorſtellung des Entfernten und zwar die lebendig vergegenwärtigende einer begabten Natur herbeiziehen; denn die Vor- ſtellung, wie wir ſie im folgenden, zweiten Momente aufzuführen haben, iſt ſchon die ungebundene, entfeſſelte, frei innerliche, welche in Abweſenheit des Gegenſtands ihr Spiel beginnt. Abweſend iſt nun freilich auch der geſchichtlich überlieferte Gegenſtand, aber jetzt reden wir noch von dem Falle, wo die Ueberlieferung anweſend iſt, die uns bindet, uns den Ge- genſtand ſo und nicht anders vorzuſtellen, alſo das Spiel der Imagination noch ferne hält. Nun hat freilich die Ueberlieferung (noch ganz abgeſehen zwar von der Sage) ſchon an ſich einen ſichtenden, vergeiſtigenden Cha- rakter; da verſchwinden die mikroskopiſchen Züge der Erdenſchwere und ſehr treffend ſagt Ranke, die Geſchichte berühre, jemehr ſie in das Gedächtniß der Menſchen übergehe, deſto mehr das Gebiet der Mythologie. Allein trotzdem iſt die Geſchichte immer noch Proſa und wenn der Be- gabte, wie wir dieß bedingen, ſich ihre Auftritte wie gegenwärtige vor- ſtellt, ſo bekommt er doch theils eine Maſſe von Vermittlungen mit in Kauf, welche eine Veranſchaulichung gar nicht zulaſſen, theils iſt auch die lebhaftere Vorſtellung, die er ſich vom Ueberlieferten macht, immer noch mit viel Stoffartigem, was den anſchaulichen Theil des Inhalts trübt, beladen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/32>, abgerufen am 29.03.2024.