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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Menschen zwischen dem Großen, was sie thaten, mit Aus- und Ankleiden
Essen, Trinken, Katarrh u. s. w. Zeit verloren. Dieß Verdämmern des
Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demselben drängen sich
der irgend aufmerksameren Betrachtung auch am scheinbar schönsten Ge-
genstande sehr sichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf. Wären
also z. B. an einer menschlichen Gestalt auch alle die störenden Zufällig-
keiten der Oberfläche nicht, die zu einem guten Theile schon im einfachen
Sehen das Auge verzehrt, so drängt sich doch in den Grundformen irgend
eine Verletzung des Verhältnisses überall auf. Man sehe nur ein Gyps-
modell über die Natur abgezogen, ganze Figur oder Maske, so wird dieß
schlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abh. zu s. ital.
Forschungen bei aller Feinheit des praktischen Kunstsinns eine ungemeine
Verwirrung in allen hieher gehörigen Begriffen angerichtet; wir haben
soweit auf die Sache einzugehen, als wir hier die einfachen Bestimmungen
entwickeln, durch welche sich der Streit über Naturnachahmung selber lösen
soll. Rumohr will den falschen Idealismus der Kunst, welcher die Natur
in ihren reinen und bleibenden Formen verbessern will, in seiner Nichtig-
keit aufweisen. Gegen ihn führt er mit vollem Rechte und ächter Wärme
des Naturgefühls aus, daß die Kunst die unveränderlichen Naturformen
nicht verrücken dürfe, daß diese nothwendig und schlechthin für sie gegeben
seien, daß verfehlte Formen, Abweichungen von den Naturgesetzen jeder-
zeit als etwas "Ungethümliches, Leeres oder Schauderhaftes" erscheinen.
Allein nun fragt es sich erst, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung
natürlich vorausgesetzt, sich in der Natur auch wirklich in reiner Ausbildung
vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müsse nur wohl unterscheiden,
was Natur sei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht
das einzelne Modell sei die Natur, sondern die Gesammtheit der lebendigen
Formen, die "Gesammtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft
selbst." An sie müsse sich der Künstler mit absichtsloser Wärme hingeben
und unabhängig von einzelnen Vorbildern immer umherschauen. Ganz
gut, und eben diese "Gesammtheit" ist die Idee der Natur; in dieser
Idee, als dem Ganzen, ist die Idee des einzelnen Naturwesens, wie es
zeitlos und mangellos lebt, eingeschlossen, und so vermittelst der Idee des
Ganzen in die einzelne Erscheinung ihr wahres Urbild, ungetrübt von
den Störungen der Einzelnheit, Hinein- oder aus ihr Heraus-Schauen:
dieß ist es, was der wahre, der ächte Idealismus verlangt. Dieser "ver-
bessert" die Natur nicht in dem verwerflichen Sinn, den Rumohr mit
diesem Worte verbindet; oder er verbessert sie nur mit sich selbst, er appellirt
von der getrübten Natur an die ewige Natur und bringt so "die Typen
der Natur in ihrem ursprünglichen und eigenen Sinne in Anwendung."
Soweit könnte man Alles für Wortstreit, Rumohrs Widerwillen gegen

Menſchen zwiſchen dem Großen, was ſie thaten, mit Aus- und Ankleiden
Eſſen, Trinken, Katarrh u. ſ. w. Zeit verloren. Dieß Verdämmern des
Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demſelben drängen ſich
der irgend aufmerkſameren Betrachtung auch am ſcheinbar ſchönſten Ge-
genſtande ſehr ſichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf. Wären
alſo z. B. an einer menſchlichen Geſtalt auch alle die ſtörenden Zufällig-
keiten der Oberfläche nicht, die zu einem guten Theile ſchon im einfachen
Sehen das Auge verzehrt, ſo drängt ſich doch in den Grundformen irgend
eine Verletzung des Verhältniſſes überall auf. Man ſehe nur ein Gyps-
modell über die Natur abgezogen, ganze Figur oder Maſke, ſo wird dieß
ſchlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abh. zu ſ. ital.
Forſchungen bei aller Feinheit des praktiſchen Kunſtſinns eine ungemeine
Verwirrung in allen hieher gehörigen Begriffen angerichtet; wir haben
ſoweit auf die Sache einzugehen, als wir hier die einfachen Beſtimmungen
entwickeln, durch welche ſich der Streit über Naturnachahmung ſelber löſen
ſoll. Rumohr will den falſchen Idealiſmus der Kunſt, welcher die Natur
in ihren reinen und bleibenden Formen verbeſſern will, in ſeiner Nichtig-
keit aufweiſen. Gegen ihn führt er mit vollem Rechte und ächter Wärme
des Naturgefühls aus, daß die Kunſt die unveränderlichen Naturformen
nicht verrücken dürfe, daß dieſe nothwendig und ſchlechthin für ſie gegeben
ſeien, daß verfehlte Formen, Abweichungen von den Naturgeſetzen jeder-
zeit als etwas „Ungethümliches, Leeres oder Schauderhaftes“ erſcheinen.
Allein nun fragt es ſich erſt, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung
natürlich vorausgeſetzt, ſich in der Natur auch wirklich in reiner Ausbildung
vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müſſe nur wohl unterſcheiden,
was Natur ſei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht
das einzelne Modell ſei die Natur, ſondern die Geſammtheit der lebendigen
Formen, die „Geſammtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft
ſelbſt.“ An ſie müſſe ſich der Künſtler mit abſichtsloſer Wärme hingeben
und unabhängig von einzelnen Vorbildern immer umherſchauen. Ganz
gut, und eben dieſe „Geſammtheit“ iſt die Idee der Natur; in dieſer
Idee, als dem Ganzen, iſt die Idee des einzelnen Naturweſens, wie es
zeitlos und mangellos lebt, eingeſchloſſen, und ſo vermittelſt der Idee des
Ganzen in die einzelne Erſcheinung ihr wahres Urbild, ungetrübt von
den Störungen der Einzelnheit, Hinein- oder aus ihr Heraus-Schauen:
dieß iſt es, was der wahre, der ächte Idealiſmus verlangt. Dieſer „ver-
beſſert“ die Natur nicht in dem verwerflichen Sinn, den Rumohr mit
dieſem Worte verbindet; oder er verbeſſert ſie nur mit ſich ſelbſt, er appellirt
von der getrübten Natur an die ewige Natur und bringt ſo „die Typen
der Natur in ihrem urſprünglichen und eigenen Sinne in Anwendung.“
Soweit könnte man Alles für Wortſtreit, Rumohrs Widerwillen gegen

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[306/0020] Menſchen zwiſchen dem Großen, was ſie thaten, mit Aus- und Ankleiden Eſſen, Trinken, Katarrh u. ſ. w. Zeit verloren. Dieß Verdämmern des Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demſelben drängen ſich der irgend aufmerkſameren Betrachtung auch am ſcheinbar ſchönſten Ge- genſtande ſehr ſichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf. Wären alſo z. B. an einer menſchlichen Geſtalt auch alle die ſtörenden Zufällig- keiten der Oberfläche nicht, die zu einem guten Theile ſchon im einfachen Sehen das Auge verzehrt, ſo drängt ſich doch in den Grundformen irgend eine Verletzung des Verhältniſſes überall auf. Man ſehe nur ein Gyps- modell über die Natur abgezogen, ganze Figur oder Maſke, ſo wird dieß ſchlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abh. zu ſ. ital. Forſchungen bei aller Feinheit des praktiſchen Kunſtſinns eine ungemeine Verwirrung in allen hieher gehörigen Begriffen angerichtet; wir haben ſoweit auf die Sache einzugehen, als wir hier die einfachen Beſtimmungen entwickeln, durch welche ſich der Streit über Naturnachahmung ſelber löſen ſoll. Rumohr will den falſchen Idealiſmus der Kunſt, welcher die Natur in ihren reinen und bleibenden Formen verbeſſern will, in ſeiner Nichtig- keit aufweiſen. Gegen ihn führt er mit vollem Rechte und ächter Wärme des Naturgefühls aus, daß die Kunſt die unveränderlichen Naturformen nicht verrücken dürfe, daß dieſe nothwendig und ſchlechthin für ſie gegeben ſeien, daß verfehlte Formen, Abweichungen von den Naturgeſetzen jeder- zeit als etwas „Ungethümliches, Leeres oder Schauderhaftes“ erſcheinen. Allein nun fragt es ſich erſt, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung natürlich vorausgeſetzt, ſich in der Natur auch wirklich in reiner Ausbildung vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müſſe nur wohl unterſcheiden, was Natur ſei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht das einzelne Modell ſei die Natur, ſondern die Geſammtheit der lebendigen Formen, die „Geſammtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft ſelbſt.“ An ſie müſſe ſich der Künſtler mit abſichtsloſer Wärme hingeben und unabhängig von einzelnen Vorbildern immer umherſchauen. Ganz gut, und eben dieſe „Geſammtheit“ iſt die Idee der Natur; in dieſer Idee, als dem Ganzen, iſt die Idee des einzelnen Naturweſens, wie es zeitlos und mangellos lebt, eingeſchloſſen, und ſo vermittelſt der Idee des Ganzen in die einzelne Erſcheinung ihr wahres Urbild, ungetrübt von den Störungen der Einzelnheit, Hinein- oder aus ihr Heraus-Schauen: dieß iſt es, was der wahre, der ächte Idealiſmus verlangt. Dieſer „ver- beſſert“ die Natur nicht in dem verwerflichen Sinn, den Rumohr mit dieſem Worte verbindet; oder er verbeſſert ſie nur mit ſich ſelbſt, er appellirt von der getrübten Natur an die ewige Natur und bringt ſo „die Typen der Natur in ihrem urſprünglichen und eigenen Sinne in Anwendung.“ Soweit könnte man Alles für Wortſtreit, Rumohrs Widerwillen gegen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/20>, abgerufen am 19.04.2024.