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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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die Wahrheit des Glaubens ist nicht, was er glaubt, sondern daß er glaubt.
Wirklich meint die Religion in dem, was ihr Bewußtsein vor sich hat, zwar
einen Gegenstand zu besitzen, der ohne ihr Bewußtseyn schon sey, hebt ihn aber
als Gegenstand unvermerkt auf, indem sie ihn in Bewegung setzt.

Der Inhalt der Religion scheint ihr selbst ein Gegenstand, der ohne
sie und außer ihr da sey. Daß dieß nicht Wahrheit ist, folgt aus allem
bisherigen. Die Religion setzt die absolute Idee als rein vollendet in
Gott als einem Einzelnen oder in Göttern als Einzelnen, näher bestimmt
zur Idee der Menschheit als rein vollendet im Sohne Gottes u. s. w.
Indem sie nun daran geht, die Eigenschaften und Thätigkeiten dieser
Wesen, welche einzelne seyn sollen, sich auseinanderzusetzen, hebt sie
unvermerkt das Subjekt dieser Eigenschaften und Thätigkeiten als einzel-
nes auf, Gott wird als allgegenwärtig und unzeitlich durch alle Zeit
wirkend und schaffend im Universum, der Sohn Gottes ebenso in der
besonderen Beziehung zum sittlichen Leben der Menschheit gefaßt u. s. w.,
d. h. sie sind keine Einzelnen mehr, sondern der Geist des Ganzen.
Die Religion merkt aber diese Auflösung, die sie selbst vornimmt, nicht,
sie glaubt trotz dem Widerspruch an die Gegenständlichkeit ihrer Vor-
stellung. Die Schönheit wird sich dagegen als eine Macht erweisen,
welche diesen verwechselnden Glauben auflöst, also weit entfernt, ihren
Inhalt als reinen Gegenstand von der Religion zu entlehnen, vielmehr
die Bestimmung dieses Inhalts, wonach er Gegenstand ist außer dem
Glauben, der ihn glaubt, aufhebt. Der Glaube, womit die Religion
glaubt, nicht das, was dieser Glaube glaubt, ist die Bedeutung der
Religion. Sie hat in dieser Intensität mehr, als sie weiß; was sie
glaubt, ist nicht als Geglaubtes Wirklichkeit, aber der Glaube selbst ist
diese Wirklichkeit; die Idee wird zur Gegenwart im glaubenden Subjekte,
das Vorgestellte in dieser Gegenwart ist nicht die Wahrheit, aber die
Innigkeit der Empfindung, aus der diese Vorstellung herauswächst, ist
die Wahrheit.

§. 26.

Die Religion und die Schönheit gehören also allerdings in dasselbe Gebiet,
denn beide sind Weisen, worin der Geist die Idee als wahrhaft wirkliche zu
seinem Inhalte hat, worin also die Idee ihre Wirklichkeit in die Gewißheit
von sich erhebt und dadurch der Gegensatz zwischen objektivem und subjek-

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die Wahrheit des Glaubens iſt nicht, was er glaubt, ſondern daß er glaubt.
Wirklich meint die Religion in dem, was ihr Bewußtſein vor ſich hat, zwar
einen Gegenſtand zu beſitzen, der ohne ihr Bewußtſeyn ſchon ſey, hebt ihn aber
als Gegenſtand unvermerkt auf, indem ſie ihn in Bewegung ſetzt.

Der Inhalt der Religion ſcheint ihr ſelbſt ein Gegenſtand, der ohne
ſie und außer ihr da ſey. Daß dieß nicht Wahrheit iſt, folgt aus allem
bisherigen. Die Religion ſetzt die abſolute Idee als rein vollendet in
Gott als einem Einzelnen oder in Göttern als Einzelnen, näher beſtimmt
zur Idee der Menſchheit als rein vollendet im Sohne Gottes u. ſ. w.
Indem ſie nun daran geht, die Eigenſchaften und Thätigkeiten dieſer
Weſen, welche einzelne ſeyn ſollen, ſich auseinanderzuſetzen, hebt ſie
unvermerkt das Subjekt dieſer Eigenſchaften und Thätigkeiten als einzel-
nes auf, Gott wird als allgegenwärtig und unzeitlich durch alle Zeit
wirkend und ſchaffend im Univerſum, der Sohn Gottes ebenſo in der
beſonderen Beziehung zum ſittlichen Leben der Menſchheit gefaßt u. ſ. w.,
d. h. ſie ſind keine Einzelnen mehr, ſondern der Geiſt des Ganzen.
Die Religion merkt aber dieſe Auflöſung, die ſie ſelbſt vornimmt, nicht,
ſie glaubt trotz dem Widerſpruch an die Gegenſtändlichkeit ihrer Vor-
ſtellung. Die Schönheit wird ſich dagegen als eine Macht erweiſen,
welche dieſen verwechſelnden Glauben auflöst, alſo weit entfernt, ihren
Inhalt als reinen Gegenſtand von der Religion zu entlehnen, vielmehr
die Beſtimmung dieſes Inhalts, wonach er Gegenſtand iſt außer dem
Glauben, der ihn glaubt, aufhebt. Der Glaube, womit die Religion
glaubt, nicht das, was dieſer Glaube glaubt, iſt die Bedeutung der
Religion. Sie hat in dieſer Intenſität mehr, als ſie weiß; was ſie
glaubt, iſt nicht als Geglaubtes Wirklichkeit, aber der Glaube ſelbſt iſt
dieſe Wirklichkeit; die Idee wird zur Gegenwart im glaubenden Subjekte,
das Vorgeſtellte in dieſer Gegenwart iſt nicht die Wahrheit, aber die
Innigkeit der Empfindung, aus der dieſe Vorſtellung herauswächst, iſt
die Wahrheit.

§. 26.

Die Religion und die Schönheit gehören alſo allerdings in daſſelbe Gebiet,
denn beide ſind Weiſen, worin der Geiſt die Idee als wahrhaft wirkliche zu
ſeinem Inhalte hat, worin alſo die Idee ihre Wirklichkeit in die Gewißheit
von ſich erhebt und dadurch der Gegenſatz zwiſchen objektivem und ſubjek-

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[83/0097] die Wahrheit des Glaubens iſt nicht, was er glaubt, ſondern daß er glaubt. Wirklich meint die Religion in dem, was ihr Bewußtſein vor ſich hat, zwar einen Gegenſtand zu beſitzen, der ohne ihr Bewußtſeyn ſchon ſey, hebt ihn aber als Gegenſtand unvermerkt auf, indem ſie ihn in Bewegung ſetzt. Der Inhalt der Religion ſcheint ihr ſelbſt ein Gegenſtand, der ohne ſie und außer ihr da ſey. Daß dieß nicht Wahrheit iſt, folgt aus allem bisherigen. Die Religion ſetzt die abſolute Idee als rein vollendet in Gott als einem Einzelnen oder in Göttern als Einzelnen, näher beſtimmt zur Idee der Menſchheit als rein vollendet im Sohne Gottes u. ſ. w. Indem ſie nun daran geht, die Eigenſchaften und Thätigkeiten dieſer Weſen, welche einzelne ſeyn ſollen, ſich auseinanderzuſetzen, hebt ſie unvermerkt das Subjekt dieſer Eigenſchaften und Thätigkeiten als einzel- nes auf, Gott wird als allgegenwärtig und unzeitlich durch alle Zeit wirkend und ſchaffend im Univerſum, der Sohn Gottes ebenſo in der beſonderen Beziehung zum ſittlichen Leben der Menſchheit gefaßt u. ſ. w., d. h. ſie ſind keine Einzelnen mehr, ſondern der Geiſt des Ganzen. Die Religion merkt aber dieſe Auflöſung, die ſie ſelbſt vornimmt, nicht, ſie glaubt trotz dem Widerſpruch an die Gegenſtändlichkeit ihrer Vor- ſtellung. Die Schönheit wird ſich dagegen als eine Macht erweiſen, welche dieſen verwechſelnden Glauben auflöst, alſo weit entfernt, ihren Inhalt als reinen Gegenſtand von der Religion zu entlehnen, vielmehr die Beſtimmung dieſes Inhalts, wonach er Gegenſtand iſt außer dem Glauben, der ihn glaubt, aufhebt. Der Glaube, womit die Religion glaubt, nicht das, was dieſer Glaube glaubt, iſt die Bedeutung der Religion. Sie hat in dieſer Intenſität mehr, als ſie weiß; was ſie glaubt, iſt nicht als Geglaubtes Wirklichkeit, aber der Glaube ſelbſt iſt dieſe Wirklichkeit; die Idee wird zur Gegenwart im glaubenden Subjekte, das Vorgeſtellte in dieſer Gegenwart iſt nicht die Wahrheit, aber die Innigkeit der Empfindung, aus der dieſe Vorſtellung herauswächst, iſt die Wahrheit. §. 26. Die Religion und die Schönheit gehören alſo allerdings in daſſelbe Gebiet, denn beide ſind Weiſen, worin der Geiſt die Idee als wahrhaft wirkliche zu ſeinem Inhalte hat, worin alſo die Idee ihre Wirklichkeit in die Gewißheit von ſich erhebt und dadurch der Gegenſatz zwiſchen objektivem und ſubjek- 6*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/97>, abgerufen am 28.03.2024.