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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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daß das Beschränkte ausdrücklich in seine Geltung eingesetzt und daß in dieser
Geltung ein Widerspruch aufzuspüren ist, scheint die Einheit des ästhetischen
Genusses aufgehoben zu werden. Allein die ganze Bewegung und die Ent-
lassung einzelner Kräfte zu besonderer Befriedigung faßt sich schließlich in
dem reinen und ungetheilten Gefühle der Freiheit zusammen. Das Subject
selbst vollzieht (§. 176--185) den ganzen Act; es spielt, sie zugleich setzend
und aufhebend, mit beiden Gliedern des Widerspruchs, und was bleibt, ist
ebendiese ungehemmte, unendlich freie Bewegung des Spielenden. Dieser volle
Genuß steigt in das innerste Nervenleben des Organismus und gibt sich den
Ausdruck seiner gegensätzlichen Bewegung durch eine schnellwechselnde Anspan-
nung und Loslassung der Eingeweide, welche als Lachen auf die Oberfläche tritt.

Kant hat das Lachen trefflich geschildert, aber durch das, was
schon zu §. 225 angeführt ist, unvollkommen erklärt. "In allen Fällen
muß der Spaß etwas in sich enthalten, welches auf einen Augenblick
täuschen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verschwindet, das
Gemüth wieder zurücksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen,
und so durch schnell hinter einander folgende Anspannung hin- und zu-
rückgeschnellt und in Schwankung versetzt wird, die, weil der Absprung
von dem, was gleichsam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein all-
mähliches Nachlassen) geschah, eine Gemüthsbewegung und mit ihr har-
monirende inwendige körperliche Bewegung verursachen muß, die un-
willkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die
Wirkungen einer zur Gesundheit gereichenden Motion) hervorbringt. Denn
wenn man annimmt, daß mit allen unsern Gedanken zugleich irgend
eine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sey,
so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des
Gemüths bald in den einen bald in den andern Standpunkt, um seinen
Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige Anspannung und Loslassung
der elastischen Theile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mit-
theilt, correspondiren könne (gleich derjenigen, welche kitzliche Leute füh-
len); wobei die Lunge die Luft mit schnell einander folgenden Absätzen
ausstößt und so eine der Gesundheit zuträgliche Bewegung bewirkt".
Diese, mit ihrem Wiederklang im Körper hier so fein dargestellte Be-
wegung nun ist ferner eine Entfeßlung einzelner bestimmter Kräfte; vergl.
namentl. §. 173, wo das Komische als ein deutlich gewordenes Erhabenes
gefaßt und in der Anm. das mikroskopische Sehen durch Sinne und Ver-
stand gerechtfertigt ist. Als einen Genuß freier Entbindung, als ein

daß das Beſchränkte ausdrücklich in ſeine Geltung eingeſetzt und daß in dieſer
Geltung ein Widerſpruch aufzuſpüren iſt, ſcheint die Einheit des äſthetiſchen
Genuſſes aufgehoben zu werden. Allein die ganze Bewegung und die Ent-
laſſung einzelner Kräfte zu beſonderer Befriedigung faßt ſich ſchließlich in
dem reinen und ungetheilten Gefühle der Freiheit zuſammen. Das Subject
ſelbſt vollzieht (§. 176—185) den ganzen Act; es ſpielt, ſie zugleich ſetzend
und aufhebend, mit beiden Gliedern des Widerſpruchs, und was bleibt, iſt
ebendieſe ungehemmte, unendlich freie Bewegung des Spielenden. Dieſer volle
Genuß ſteigt in das innerſte Nervenleben des Organiſmus und gibt ſich den
Ausdruck ſeiner gegenſätzlichen Bewegung durch eine ſchnellwechſelnde Anſpan-
nung und Loslaſſung der Eingeweide, welche als Lachen auf die Oberfläche tritt.

Kant hat das Lachen trefflich geſchildert, aber durch das, was
ſchon zu §. 225 angeführt iſt, unvollkommen erklärt. „In allen Fällen
muß der Spaß etwas in ſich enthalten, welches auf einen Augenblick
täuſchen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verſchwindet, das
Gemüth wieder zurückſieht, um es mit ihm noch einmal zu verſuchen,
und ſo durch ſchnell hinter einander folgende Anſpannung hin- und zu-
rückgeſchnellt und in Schwankung verſetzt wird, die, weil der Abſprung
von dem, was gleichſam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein all-
mähliches Nachlaſſen) geſchah, eine Gemüthsbewegung und mit ihr har-
monirende inwendige körperliche Bewegung verurſachen muß, die un-
willkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die
Wirkungen einer zur Geſundheit gereichenden Motion) hervorbringt. Denn
wenn man annimmt, daß mit allen unſern Gedanken zugleich irgend
eine Bewegung in den Organen des Körpers harmoniſch verbunden ſey,
ſo wird man ſo ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Verſetzung des
Gemüths bald in den einen bald in den andern Standpunkt, um ſeinen
Gegenſtand zu betrachten, eine wechſelſeitige Anſpannung und Loslaſſung
der elaſtiſchen Theile unſerer Eingeweide, die ſich dem Zwerchfell mit-
theilt, correſpondiren könne (gleich derjenigen, welche kitzliche Leute füh-
len); wobei die Lunge die Luft mit ſchnell einander folgenden Abſätzen
ausſtößt und ſo eine der Geſundheit zuträgliche Bewegung bewirkt“.
Dieſe, mit ihrem Wiederklang im Körper hier ſo fein dargeſtellte Be-
wegung nun iſt ferner eine Entfeßlung einzelner beſtimmter Kräfte; vergl.
namentl. §. 173, wo das Komiſche als ein deutlich gewordenes Erhabenes
gefaßt und in der Anm. das mikroſkopiſche Sehen durch Sinne und Ver-
ſtand gerechtfertigt iſt. Als einen Genuß freier Entbindung, als ein

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[478/0492] daß das Beſchränkte ausdrücklich in ſeine Geltung eingeſetzt und daß in dieſer Geltung ein Widerſpruch aufzuſpüren iſt, ſcheint die Einheit des äſthetiſchen Genuſſes aufgehoben zu werden. Allein die ganze Bewegung und die Ent- laſſung einzelner Kräfte zu beſonderer Befriedigung faßt ſich ſchließlich in dem reinen und ungetheilten Gefühle der Freiheit zuſammen. Das Subject ſelbſt vollzieht (§. 176—185) den ganzen Act; es ſpielt, ſie zugleich ſetzend und aufhebend, mit beiden Gliedern des Widerſpruchs, und was bleibt, iſt ebendieſe ungehemmte, unendlich freie Bewegung des Spielenden. Dieſer volle Genuß ſteigt in das innerſte Nervenleben des Organiſmus und gibt ſich den Ausdruck ſeiner gegenſätzlichen Bewegung durch eine ſchnellwechſelnde Anſpan- nung und Loslaſſung der Eingeweide, welche als Lachen auf die Oberfläche tritt. Kant hat das Lachen trefflich geſchildert, aber durch das, was ſchon zu §. 225 angeführt iſt, unvollkommen erklärt. „In allen Fällen muß der Spaß etwas in ſich enthalten, welches auf einen Augenblick täuſchen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verſchwindet, das Gemüth wieder zurückſieht, um es mit ihm noch einmal zu verſuchen, und ſo durch ſchnell hinter einander folgende Anſpannung hin- und zu- rückgeſchnellt und in Schwankung verſetzt wird, die, weil der Abſprung von dem, was gleichſam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein all- mähliches Nachlaſſen) geſchah, eine Gemüthsbewegung und mit ihr har- monirende inwendige körperliche Bewegung verurſachen muß, die un- willkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkungen einer zur Geſundheit gereichenden Motion) hervorbringt. Denn wenn man annimmt, daß mit allen unſern Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen des Körpers harmoniſch verbunden ſey, ſo wird man ſo ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Verſetzung des Gemüths bald in den einen bald in den andern Standpunkt, um ſeinen Gegenſtand zu betrachten, eine wechſelſeitige Anſpannung und Loslaſſung der elaſtiſchen Theile unſerer Eingeweide, die ſich dem Zwerchfell mit- theilt, correſpondiren könne (gleich derjenigen, welche kitzliche Leute füh- len); wobei die Lunge die Luft mit ſchnell einander folgenden Abſätzen ausſtößt und ſo eine der Geſundheit zuträgliche Bewegung bewirkt“. Dieſe, mit ihrem Wiederklang im Körper hier ſo fein dargeſtellte Be- wegung nun iſt ferner eine Entfeßlung einzelner beſtimmter Kräfte; vergl. namentl. §. 173, wo das Komiſche als ein deutlich gewordenes Erhabenes gefaßt und in der Anm. das mikroſkopiſche Sehen durch Sinne und Ver- ſtand gerechtfertigt iſt. Als einen Genuß freier Entbindung, als ein

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/492>, abgerufen am 20.04.2024.