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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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und Troilus und Cressida und den Timon nicht übersieht, sich zum reinen
Humor erhoben habe. Er wurde gegen das Ende seines Lebens durch
Erfahrungen von Bedrückung der Kunst, Intriken, durch den Anblick
wachsender Verdorbenheit, Heucheley, Ungerechtigkeit im höchsten Grade
verbittert. Damit man nicht meine, es sey hier blos von einer bestimmten
Zeitform der Bildung die Rede, muß noch an Aristophanes erinnert
werden. Hier ist freilich nicht nach unmittelbar an der eigenen Person
erlebtem Uebel zu fragen, aber der Anblick des Verfalls altgriechischen
Lebens gehört auch zu den allzuherben persönlichen Erfahrungen und es
wäre auch hier von Interesse, zu untersuchen, ob nicht durch die Ge-
sammtheit seiner Werke ein Geist sich verfolgen lasse, dessen Bitterkeit
nicht in das reine Element der komischen Befreiung völlig aufging.

2. Die Melancholiker und Hypochondristen. Sie brauchen wenig
Uebel erlebt zu haben, um den Humor auszubilden, der seine beste Flamme
aus dem Schmerze nährt. Sie sind feinere, innerliche, nervöse Naturen
und von Trübung des eigenen Lebens durch schwere Verirrung ist hier
auch nicht die Rede, vielmehr hier gilt, was J. Paul (a. a. O. §. 34)
sagt, daß der Cynismus des Humors freier Entschluß sey und seine
Flamme ohne Schaden durch die brennbare Sinnlichkeit hindurchlaufe,
wozu er denn als Beleg die Platonische Enthaltsamkeit des sehr unan-
ständigen und verfänglichen Swift anführt. Jenes kranke Denken
aber, das einen vorhandenen geringen Schmerz mit unseliger Metaphysik
zu einem unendlichen verinnerlicht und mit selbstquälerischer Erfindsamkeit
Uebel sieht und fürchtet, wo keine sind, hat Niemand besser dargestellt, als
Jean Paul. Auch die trefflich dargestellte Natur des Jacques aus:
So wie es euch gefällt, gehört hieher. Solche Hypochondristen nun
können und wollen sich ebenfalls von der Last des Bewußtseyns menschlicher
Schwäche und Noth nicht in reinem Scherze befreien; ihr Scherz ist
ärgerlich, aber dieser Aerger und Eigensinn ist freilich schon ungleich
unschädlicher als jene schneidende Verzweiflung der wirklich durch Erfahrung
Verbitterten. Doch kann man von beiden sagen, was der Schlußsatz des
§. ausspricht: die Gesundheit und Flüßigkeit des Geistes stockt, weil diese
Naturen die Erfahrung nicht überwinden können. Von Hippel mag es
dahingestellt bleiben, ob das Trübe, was in der Mischung seines Humors
sich nicht rein auflöst, mehr den bekannten Härten und Flecken seiner
Persönlichkeit oder mehr seinem kranken Wühlen in Grabesgedanken
angehöre.


und Troilus und Creſſida und den Timon nicht überſieht, ſich zum reinen
Humor erhoben habe. Er wurde gegen das Ende ſeines Lebens durch
Erfahrungen von Bedrückung der Kunſt, Intriken, durch den Anblick
wachſender Verdorbenheit, Heucheley, Ungerechtigkeit im höchſten Grade
verbittert. Damit man nicht meine, es ſey hier blos von einer beſtimmten
Zeitform der Bildung die Rede, muß noch an Ariſtophanes erinnert
werden. Hier iſt freilich nicht nach unmittelbar an der eigenen Perſon
erlebtem Uebel zu fragen, aber der Anblick des Verfalls altgriechiſchen
Lebens gehört auch zu den allzuherben perſönlichen Erfahrungen und es
wäre auch hier von Intereſſe, zu unterſuchen, ob nicht durch die Ge-
ſammtheit ſeiner Werke ein Geiſt ſich verfolgen laſſe, deſſen Bitterkeit
nicht in das reine Element der komiſchen Befreiung völlig aufging.

2. Die Melancholiker und Hypochondriſten. Sie brauchen wenig
Uebel erlebt zu haben, um den Humor auszubilden, der ſeine beſte Flamme
aus dem Schmerze nährt. Sie ſind feinere, innerliche, nervöſe Naturen
und von Trübung des eigenen Lebens durch ſchwere Verirrung iſt hier
auch nicht die Rede, vielmehr hier gilt, was J. Paul (a. a. O. §. 34)
ſagt, daß der Cynismus des Humors freier Entſchluß ſey und ſeine
Flamme ohne Schaden durch die brennbare Sinnlichkeit hindurchlaufe,
wozu er denn als Beleg die Platoniſche Enthaltſamkeit des ſehr unan-
ſtändigen und verfänglichen Swift anführt. Jenes kranke Denken
aber, das einen vorhandenen geringen Schmerz mit unſeliger Metaphyſik
zu einem unendlichen verinnerlicht und mit ſelbſtquäleriſcher Erfindſamkeit
Uebel ſieht und fürchtet, wo keine ſind, hat Niemand beſſer dargeſtellt, als
Jean Paul. Auch die trefflich dargeſtellte Natur des Jacques aus:
So wie es euch gefällt, gehört hieher. Solche Hypochondriſten nun
können und wollen ſich ebenfalls von der Laſt des Bewußtſeyns menſchlicher
Schwäche und Noth nicht in reinem Scherze befreien; ihr Scherz iſt
ärgerlich, aber dieſer Aerger und Eigenſinn iſt freilich ſchon ungleich
unſchädlicher als jene ſchneidende Verzweiflung der wirklich durch Erfahrung
Verbitterten. Doch kann man von beiden ſagen, was der Schlußſatz des
§. ausſpricht: die Geſundheit und Flüßigkeit des Geiſtes ſtockt, weil dieſe
Naturen die Erfahrung nicht überwinden können. Von Hippel mag es
dahingeſtellt bleiben, ob das Trübe, was in der Miſchung ſeines Humors
ſich nicht rein auflöst, mehr den bekannten Härten und Flecken ſeiner
Perſönlichkeit oder mehr ſeinem kranken Wühlen in Grabesgedanken
angehöre.


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[466/0480] und Troilus und Creſſida und den Timon nicht überſieht, ſich zum reinen Humor erhoben habe. Er wurde gegen das Ende ſeines Lebens durch Erfahrungen von Bedrückung der Kunſt, Intriken, durch den Anblick wachſender Verdorbenheit, Heucheley, Ungerechtigkeit im höchſten Grade verbittert. Damit man nicht meine, es ſey hier blos von einer beſtimmten Zeitform der Bildung die Rede, muß noch an Ariſtophanes erinnert werden. Hier iſt freilich nicht nach unmittelbar an der eigenen Perſon erlebtem Uebel zu fragen, aber der Anblick des Verfalls altgriechiſchen Lebens gehört auch zu den allzuherben perſönlichen Erfahrungen und es wäre auch hier von Intereſſe, zu unterſuchen, ob nicht durch die Ge- ſammtheit ſeiner Werke ein Geiſt ſich verfolgen laſſe, deſſen Bitterkeit nicht in das reine Element der komiſchen Befreiung völlig aufging. 2. Die Melancholiker und Hypochondriſten. Sie brauchen wenig Uebel erlebt zu haben, um den Humor auszubilden, der ſeine beſte Flamme aus dem Schmerze nährt. Sie ſind feinere, innerliche, nervöſe Naturen und von Trübung des eigenen Lebens durch ſchwere Verirrung iſt hier auch nicht die Rede, vielmehr hier gilt, was J. Paul (a. a. O. §. 34) ſagt, daß der Cynismus des Humors freier Entſchluß ſey und ſeine Flamme ohne Schaden durch die brennbare Sinnlichkeit hindurchlaufe, wozu er denn als Beleg die Platoniſche Enthaltſamkeit des ſehr unan- ſtändigen und verfänglichen Swift anführt. Jenes kranke Denken aber, das einen vorhandenen geringen Schmerz mit unſeliger Metaphyſik zu einem unendlichen verinnerlicht und mit ſelbſtquäleriſcher Erfindſamkeit Uebel ſieht und fürchtet, wo keine ſind, hat Niemand beſſer dargeſtellt, als Jean Paul. Auch die trefflich dargeſtellte Natur des Jacques aus: So wie es euch gefällt, gehört hieher. Solche Hypochondriſten nun können und wollen ſich ebenfalls von der Laſt des Bewußtſeyns menſchlicher Schwäche und Noth nicht in reinem Scherze befreien; ihr Scherz iſt ärgerlich, aber dieſer Aerger und Eigenſinn iſt freilich ſchon ungleich unſchädlicher als jene ſchneidende Verzweiflung der wirklich durch Erfahrung Verbitterten. Doch kann man von beiden ſagen, was der Schlußſatz des §. ausſpricht: die Geſundheit und Flüßigkeit des Geiſtes ſtockt, weil dieſe Naturen die Erfahrung nicht überwinden können. Von Hippel mag es dahingeſtellt bleiben, ob das Trübe, was in der Miſchung ſeines Humors ſich nicht rein auflöst, mehr den bekannten Härten und Flecken ſeiner Perſönlichkeit oder mehr ſeinem kranken Wühlen in Grabesgedanken angehöre.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/480>, abgerufen am 28.03.2024.