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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Gefühl, wie krank die Welt ist, brausend in Jugendscherz hin. Man
denke an einen Mercutio.

2. Soll vom naiven Humor zum innerlichen der Uebergang gemacht
werden, so muß ein Punkt eintreten, wo ein Widerspruch gegen die in
§. 207 aufgestellte Forderung tiefen sittlichen Gehalts und die in §. 208
ausgesprochene Beschränkung der dem Humoristen nöthigen Erfahrung
auf feine, kleine Hindernisse und Leiden, die erst im Bewußtseyn un-
endlich werden, einzutreten scheint. Der naive Humor hat instinctive
Sittlichkeit und kommt mit oberflächlicher Erfahrung des Uebels weg.
Hier nun tritt eine Form ein, wo seine Auflösung in der Nähe ist: seine
substantielle Sittlichkeit wird gebrochen und die vertiefte innerliche ist noch
nicht da. Ein grober realer Prozeß liegt vor. Die Lustigkeit wird
liederlich, sie sinkt in Laster, wie die blinden Heiden, die kein Gesetz
haben. Soll nun ein Insichgehen, ein bewußtes sittliches Leben, ein
innerer Kampf beginnen, so braucht es grobe Püffe. Falstaff trägt schwer
an der Bürde seines Fetts und wird viel geplagt, Geld hat der Lump
ohnedies niemals. Jetzt stellt sich das Gewissen ein. Damit ist aber
die Sache nicht zu Ende; bliebe es dabei, so geriethen wir aus dem
komischen Standpunkt in den ethischen. Nun ist aber nicht zu vergessen,
daß die Liederlichkeit, von der hier die Rede ist, nicht raffinirte Ver-
dorbenheit ist; die gesunde Rohheit des naiven Humors ist noch nicht
verloren. Dem Gewissen tritt daher sogleich die Selbstbeschönigung des
guten alten Adams, der im Grunde so böse nicht ist, gegenüber; der
Lump bleibt Lump und entlastet sich durch stete Selbst-Freisprechung in
unverwüstlichem Witz und Scherz von seinem Bewußtseyn. Er ist eine
arme lustige Haut; hat Adam im Stande der Unschuld gesündigt, was
soll der arme Hans im Stande der Sünde thun? Dies ist die unver-
tilgbare Flüssigkeit im Humor eines Falstaff. Er ist der Vertreter eines
verbreiteten Geschlechts. Der Trinker vorzüglich pflegt als Surrogat
der Buße diesen Humor auszubilden, dessen beliebteste Heimath im
Wirthshaus ist. Falstaff sinkt immer zurück und indem er durch eigenes
Lachen dem fremden zuvorkommt, jede Ertappung, jedes Uebel mit
einem Witze abthut, schwebt er immer frei über sich selbst; ein klassisches,
vollkommenes Spiel des Humors.


Gefühl, wie krank die Welt iſt, brauſend in Jugendſcherz hin. Man
denke an einen Mercutio.

2. Soll vom naiven Humor zum innerlichen der Uebergang gemacht
werden, ſo muß ein Punkt eintreten, wo ein Widerſpruch gegen die in
§. 207 aufgeſtellte Forderung tiefen ſittlichen Gehalts und die in §. 208
ausgeſprochene Beſchränkung der dem Humoriſten nöthigen Erfahrung
auf feine, kleine Hinderniſſe und Leiden, die erſt im Bewußtſeyn un-
endlich werden, einzutreten ſcheint. Der naive Humor hat inſtinctive
Sittlichkeit und kommt mit oberflächlicher Erfahrung des Uebels weg.
Hier nun tritt eine Form ein, wo ſeine Auflöſung in der Nähe iſt: ſeine
ſubſtantielle Sittlichkeit wird gebrochen und die vertiefte innerliche iſt noch
nicht da. Ein grober realer Prozeß liegt vor. Die Luſtigkeit wird
liederlich, ſie ſinkt in Laſter, wie die blinden Heiden, die kein Geſetz
haben. Soll nun ein Inſichgehen, ein bewußtes ſittliches Leben, ein
innerer Kampf beginnen, ſo braucht es grobe Püffe. Falſtaff trägt ſchwer
an der Bürde ſeines Fetts und wird viel geplagt, Geld hat der Lump
ohnedies niemals. Jetzt ſtellt ſich das Gewiſſen ein. Damit iſt aber
die Sache nicht zu Ende; bliebe es dabei, ſo geriethen wir aus dem
komiſchen Standpunkt in den ethiſchen. Nun iſt aber nicht zu vergeſſen,
daß die Liederlichkeit, von der hier die Rede iſt, nicht raffinirte Ver-
dorbenheit iſt; die geſunde Rohheit des naiven Humors iſt noch nicht
verloren. Dem Gewiſſen tritt daher ſogleich die Selbſtbeſchönigung des
guten alten Adams, der im Grunde ſo böſe nicht iſt, gegenüber; der
Lump bleibt Lump und entlaſtet ſich durch ſtete Selbſt-Freiſprechung in
unverwüſtlichem Witz und Scherz von ſeinem Bewußtſeyn. Er iſt eine
arme luſtige Haut; hat Adam im Stande der Unſchuld geſündigt, was
ſoll der arme Hans im Stande der Sünde thun? Dies iſt die unver-
tilgbare Flüſſigkeit im Humor eines Falſtaff. Er iſt der Vertreter eines
verbreiteten Geſchlechts. Der Trinker vorzüglich pflegt als Surrogat
der Buße dieſen Humor auszubilden, deſſen beliebteſte Heimath im
Wirthshaus iſt. Falſtaff ſinkt immer zurück und indem er durch eigenes
Lachen dem fremden zuvorkommt, jede Ertappung, jedes Uebel mit
einem Witze abthut, ſchwebt er immer frei über ſich ſelbſt; ein klaſſiſches,
vollkommenes Spiel des Humors.


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[462/0476] Gefühl, wie krank die Welt iſt, brauſend in Jugendſcherz hin. Man denke an einen Mercutio. 2. Soll vom naiven Humor zum innerlichen der Uebergang gemacht werden, ſo muß ein Punkt eintreten, wo ein Widerſpruch gegen die in §. 207 aufgeſtellte Forderung tiefen ſittlichen Gehalts und die in §. 208 ausgeſprochene Beſchränkung der dem Humoriſten nöthigen Erfahrung auf feine, kleine Hinderniſſe und Leiden, die erſt im Bewußtſeyn un- endlich werden, einzutreten ſcheint. Der naive Humor hat inſtinctive Sittlichkeit und kommt mit oberflächlicher Erfahrung des Uebels weg. Hier nun tritt eine Form ein, wo ſeine Auflöſung in der Nähe iſt: ſeine ſubſtantielle Sittlichkeit wird gebrochen und die vertiefte innerliche iſt noch nicht da. Ein grober realer Prozeß liegt vor. Die Luſtigkeit wird liederlich, ſie ſinkt in Laſter, wie die blinden Heiden, die kein Geſetz haben. Soll nun ein Inſichgehen, ein bewußtes ſittliches Leben, ein innerer Kampf beginnen, ſo braucht es grobe Püffe. Falſtaff trägt ſchwer an der Bürde ſeines Fetts und wird viel geplagt, Geld hat der Lump ohnedies niemals. Jetzt ſtellt ſich das Gewiſſen ein. Damit iſt aber die Sache nicht zu Ende; bliebe es dabei, ſo geriethen wir aus dem komiſchen Standpunkt in den ethiſchen. Nun iſt aber nicht zu vergeſſen, daß die Liederlichkeit, von der hier die Rede iſt, nicht raffinirte Ver- dorbenheit iſt; die geſunde Rohheit des naiven Humors iſt noch nicht verloren. Dem Gewiſſen tritt daher ſogleich die Selbſtbeſchönigung des guten alten Adams, der im Grunde ſo böſe nicht iſt, gegenüber; der Lump bleibt Lump und entlaſtet ſich durch ſtete Selbſt-Freiſprechung in unverwüſtlichem Witz und Scherz von ſeinem Bewußtſeyn. Er iſt eine arme luſtige Haut; hat Adam im Stande der Unſchuld geſündigt, was ſoll der arme Hans im Stande der Sünde thun? Dies iſt die unver- tilgbare Flüſſigkeit im Humor eines Falſtaff. Er iſt der Vertreter eines verbreiteten Geſchlechts. Der Trinker vorzüglich pflegt als Surrogat der Buße dieſen Humor auszubilden, deſſen beliebteſte Heimath im Wirthshaus iſt. Falſtaff ſinkt immer zurück und indem er durch eigenes Lachen dem fremden zuvorkommt, jede Ertappung, jedes Uebel mit einem Witze abthut, ſchwebt er immer frei über ſich ſelbſt; ein klaſſiſches, vollkommenes Spiel des Humors.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/476>, abgerufen am 29.03.2024.