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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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als nichtig gesetzt sey: eine unsterbliche Nichtigkeit, also allgemeine Ideell-
setzung der Endlichkeit des Geistes (a. a. O. S. 174. 175). In der
Ironie selbst konnten wir diese Allgemeinheit, Universalität noch nicht
finden; vielmehr dies fanden wir, daß ihr Mangel dieselbe erst zu suchen
fordert. Ferner ist im vorh. §. Anm. hervorgehoben, daß diese Bestimmung
des Endlichen als eines Nichtigen den komischen Standpunkt verläßt.
Zwar liegt ein unentwickelter Keim der Anerkennung des Endlichen darin,
daß die endliche Gestalt des Geistes als unsterblich ausgesprochen ist;
allein in dieser Unsterblichkeit liegt zweierlei: der ewige Geist gibt sich,
um in ihr wirklich zu seyn, stets und unendlich auf's Neue die endliche
Gestalt, und: er gibt sie sich stets, um sie zu negiren. Ruge nun
legt den ganzen Nachdruck auf das zweite Moment, das vielmehr dem
Erhabenen zu Grunde liegt, statt auf das erste. Im Komischen heißt es
ja: diese endliche Gestalt taucht trotz ihrer Vernichtung stets auf's Neue
auf, weil der unendliche Geist selbst sie nicht entbehren kann; aus der
Vernichtung selbst sieht sie schon wieder heraus. Dies hat Ruge nicht
ausgesprochen, nicht entwickelt. Richtig aber ist, daß er zum Humor,
zur wahren und ganzen Komik die innere, geistig allgemeine Continuität
der Idealität des Endlichen (Idealität nämlich nach unserer Bestimmung,
im Sinne von: Berechtigung genommen, weil die Idee in den Wider-
sprüchen selbst sich fortbehauptet) gegen Weiße fordert, welcher die Con-
tinuität, in der sich das Totalbewußtseyn des Humors seinen Ausdruck
geben soll, nur in quantitativem Sinne als einen in zusammenhängende
Reihen oder Ketten fortgezogenen Witz versteht. Diese Continuität hat
auch der Witz schon als bloser Witz, er sucht sie sogar, und was in
§. 200 vom bildlichen Witze gesagt wurde, gilt nun von allem. Im
Gefühle seiner Punktualität sucht er durch quantitative Fülle zu ersetzen,
was ihm an Qualität fehlt. J. Paul, im Gefühle der Nothwendigkeit
der Selbstvertheidigung, fordert, weil der einzelne Witz schnell verpufft
und wie die Biene mit ihrem Stich den Stachel verliert, daß der Witz
fortreize, denn jeder Reiz mache einen zweiten nöthig und sofort, daß er
gieße, nicht tröpfle (a. a. O. §. 53). Dies ist so weit wahr, als diese
kleine Münze, wenn Einer zeigen will, daß er reich ist, in Menge aus-
geworfen werden muß. Allein kleine Münze bleibt kleine Münze, der
Reiche hat auch Diamanten. Den sprudelnden Witz soll eine höhere
Komik ablösen, welche da eintritt, wo er durch die Fortsetzung seiner
scharfen, aber immer vereinzelten, Reize anfängt zu ermüden und abzu-
stumpfen. Der Witz verbessert durch Anhäufung seinen Mangel nicht.

als nichtig geſetzt ſey: eine unſterbliche Nichtigkeit, alſo allgemeine Ideell-
ſetzung der Endlichkeit des Geiſtes (a. a. O. S. 174. 175). In der
Ironie ſelbſt konnten wir dieſe Allgemeinheit, Univerſalität noch nicht
finden; vielmehr dies fanden wir, daß ihr Mangel dieſelbe erſt zu ſuchen
fordert. Ferner iſt im vorh. §. Anm. hervorgehoben, daß dieſe Beſtimmung
des Endlichen als eines Nichtigen den komiſchen Standpunkt verläßt.
Zwar liegt ein unentwickelter Keim der Anerkennung des Endlichen darin,
daß die endliche Geſtalt des Geiſtes als unſterblich ausgeſprochen iſt;
allein in dieſer Unſterblichkeit liegt zweierlei: der ewige Geiſt gibt ſich,
um in ihr wirklich zu ſeyn, ſtets und unendlich auf’s Neue die endliche
Geſtalt, und: er gibt ſie ſich ſtets, um ſie zu negiren. Ruge nun
legt den ganzen Nachdruck auf das zweite Moment, das vielmehr dem
Erhabenen zu Grunde liegt, ſtatt auf das erſte. Im Komiſchen heißt es
ja: dieſe endliche Geſtalt taucht trotz ihrer Vernichtung ſtets auf’s Neue
auf, weil der unendliche Geiſt ſelbſt ſie nicht entbehren kann; aus der
Vernichtung ſelbſt ſieht ſie ſchon wieder heraus. Dies hat Ruge nicht
ausgeſprochen, nicht entwickelt. Richtig aber iſt, daß er zum Humor,
zur wahren und ganzen Komik die innere, geiſtig allgemeine Continuität
der Idealität des Endlichen (Idealität nämlich nach unſerer Beſtimmung,
im Sinne von: Berechtigung genommen, weil die Idee in den Wider-
ſprüchen ſelbſt ſich fortbehauptet) gegen Weiße fordert, welcher die Con-
tinuität, in der ſich das Totalbewußtſeyn des Humors ſeinen Ausdruck
geben ſoll, nur in quantitativem Sinne als einen in zuſammenhängende
Reihen oder Ketten fortgezogenen Witz verſteht. Dieſe Continuität hat
auch der Witz ſchon als bloſer Witz, er ſucht ſie ſogar, und was in
§. 200 vom bildlichen Witze geſagt wurde, gilt nun von allem. Im
Gefühle ſeiner Punktualität ſucht er durch quantitative Fülle zu erſetzen,
was ihm an Qualität fehlt. J. Paul, im Gefühle der Nothwendigkeit
der Selbſtvertheidigung, fordert, weil der einzelne Witz ſchnell verpufft
und wie die Biene mit ihrem Stich den Stachel verliert, daß der Witz
fortreize, denn jeder Reiz mache einen zweiten nöthig und ſofort, daß er
gieße, nicht tröpfle (a. a. O. §. 53). Dies iſt ſo weit wahr, als dieſe
kleine Münze, wenn Einer zeigen will, daß er reich iſt, in Menge aus-
geworfen werden muß. Allein kleine Münze bleibt kleine Münze, der
Reiche hat auch Diamanten. Den ſprudelnden Witz ſoll eine höhere
Komik ablöſen, welche da eintritt, wo er durch die Fortſetzung ſeiner
ſcharfen, aber immer vereinzelten, Reize anfängt zu ermüden und abzu-
ſtumpfen. Der Witz verbeſſert durch Anhäufung ſeinen Mangel nicht.

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[442/0456] als nichtig geſetzt ſey: eine unſterbliche Nichtigkeit, alſo allgemeine Ideell- ſetzung der Endlichkeit des Geiſtes (a. a. O. S. 174. 175). In der Ironie ſelbſt konnten wir dieſe Allgemeinheit, Univerſalität noch nicht finden; vielmehr dies fanden wir, daß ihr Mangel dieſelbe erſt zu ſuchen fordert. Ferner iſt im vorh. §. Anm. hervorgehoben, daß dieſe Beſtimmung des Endlichen als eines Nichtigen den komiſchen Standpunkt verläßt. Zwar liegt ein unentwickelter Keim der Anerkennung des Endlichen darin, daß die endliche Geſtalt des Geiſtes als unſterblich ausgeſprochen iſt; allein in dieſer Unſterblichkeit liegt zweierlei: der ewige Geiſt gibt ſich, um in ihr wirklich zu ſeyn, ſtets und unendlich auf’s Neue die endliche Geſtalt, und: er gibt ſie ſich ſtets, um ſie zu negiren. Ruge nun legt den ganzen Nachdruck auf das zweite Moment, das vielmehr dem Erhabenen zu Grunde liegt, ſtatt auf das erſte. Im Komiſchen heißt es ja: dieſe endliche Geſtalt taucht trotz ihrer Vernichtung ſtets auf’s Neue auf, weil der unendliche Geiſt ſelbſt ſie nicht entbehren kann; aus der Vernichtung ſelbſt ſieht ſie ſchon wieder heraus. Dies hat Ruge nicht ausgeſprochen, nicht entwickelt. Richtig aber iſt, daß er zum Humor, zur wahren und ganzen Komik die innere, geiſtig allgemeine Continuität der Idealität des Endlichen (Idealität nämlich nach unſerer Beſtimmung, im Sinne von: Berechtigung genommen, weil die Idee in den Wider- ſprüchen ſelbſt ſich fortbehauptet) gegen Weiße fordert, welcher die Con- tinuität, in der ſich das Totalbewußtſeyn des Humors ſeinen Ausdruck geben ſoll, nur in quantitativem Sinne als einen in zuſammenhängende Reihen oder Ketten fortgezogenen Witz verſteht. Dieſe Continuität hat auch der Witz ſchon als bloſer Witz, er ſucht ſie ſogar, und was in §. 200 vom bildlichen Witze geſagt wurde, gilt nun von allem. Im Gefühle ſeiner Punktualität ſucht er durch quantitative Fülle zu erſetzen, was ihm an Qualität fehlt. J. Paul, im Gefühle der Nothwendigkeit der Selbſtvertheidigung, fordert, weil der einzelne Witz ſchnell verpufft und wie die Biene mit ihrem Stich den Stachel verliert, daß der Witz fortreize, denn jeder Reiz mache einen zweiten nöthig und ſofort, daß er gieße, nicht tröpfle (a. a. O. §. 53). Dies iſt ſo weit wahr, als dieſe kleine Münze, wenn Einer zeigen will, daß er reich iſt, in Menge aus- geworfen werden muß. Allein kleine Münze bleibt kleine Münze, der Reiche hat auch Diamanten. Den ſprudelnden Witz ſoll eine höhere Komik ablöſen, welche da eintritt, wo er durch die Fortſetzung ſeiner ſcharfen, aber immer vereinzelten, Reize anfängt zu ermüden und abzu- ſtumpfen. Der Witz verbeſſert durch Anhäufung ſeinen Mangel nicht.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/456>, abgerufen am 23.04.2024.