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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Das Bild kann eine ganze Erzählung werden, die auch für sich
komisch wäre, indem sie alle Bedingungen, die zu einer komischen Er-
zählung gehören, enthält, wie z. B. Folgendes. Es beutete Jemand
den Tod einer theuren Verwandten zu mehreren Schriften aus. Einer,
der um sein Urtheil darüber befragt wurde, erzählte statt aller Antwort:
ein Fischer vermißte viele Tage sein Weib, endlich fand man ihren
Leichnam im Wasser voll von Krebsen, die sich in ihrem Fleische gütlich
thaten. Diese wurden verkauft und warfen ein Hübsches ab; der Fischer
beschloß nun, seine Frau noch einmal in's Wasser zu werfen, und so
noch mehrmals. Wird auf diese Weise das Bild umständlich ausgeführt,
so wird es selbständig und man kann von der Pointe absehen. Allein
nicht alle Bilder sind so glücklich, einen schon vorher fertigen komischen
Vorgang herbeizubringen; vielmehr es wird irgend ein einzelnes Sinn-
liches aufgegriffen, Zug um Zug an ihm aufgesucht und so Zug um Zug
mit dem Gegenstande verglichen. Allein unter der Hand fühlt man die
Beschwerlichkeit, verläßt das erste Bild und schiebt wechselnd andere Bilder
ein. Lessing liebt diese Art, welche J. Paul unpassend Allegorie nennt
und richtiger als Witzkette bezeichnet hätte, denn die Allegorie ist nicht
komisch. An einem ausgesponnenen Bilde, das freilich eben gerade für den
Zusammenhang des Komischen von J. Paul nicht glücklich gewählt ist,
weist er Lessing nach, wie er es unvermerkt immer mit andern vertauscht
a. a. O. §. 51). Allein nicht das Vertauschen ist ein wirklicher Fehler;
dies ist dem bildlichen Witze völlig erlaubt, sondern daß Witz nur Witz ist.
Als solcher will er von der Kraft der breiteren Sinnlichkeit Gebrauch
machen, allein wenn er nicht das Glück hat, ein ganzes fertiges Komische
vorzufinden, das diese Breite hat, so sieht man gerade dem Ausspinnen
vielmehr die Absichtlichkeit doppelt an und daher wird im Umwenden das
Bild mit immer andern vertauscht. Hier kommt die Punktualität, die
allem Witz eigen ist, zum Vorschein; sie ist noch weiter hervorzuheben,
wenn unten die Mängel des Witzes werden zusammengefaßt werden. Es
ist also, wenn man den Witz als solchen und seine Bedingungen im Auge
hat, gleichgültig, ob gerade das zuerst gewählte Bild ausgesponnen
werde; es fällt doch auseinander und der Witz mag ohne die Bemühung
um einen solchen Zusammenhang seine Bilder häufen. Sprudeln müssen
sie gerade deswegen, weil jedes einzelne äußerlich und unorganisch neben
seinen Gegenstand fällt: dieser qualitative Mangel treibt zur quantitativen
Häufung, und so sprudelt besonders Shakespeare. Welcher Ueberfluß
wird nur über Falstaffs Bauch und Bardolfs Nase ausgegossen!


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Das Bild kann eine ganze Erzählung werden, die auch für ſich
komiſch wäre, indem ſie alle Bedingungen, die zu einer komiſchen Er-
zählung gehören, enthält, wie z. B. Folgendes. Es beutete Jemand
den Tod einer theuren Verwandten zu mehreren Schriften aus. Einer,
der um ſein Urtheil darüber befragt wurde, erzählte ſtatt aller Antwort:
ein Fiſcher vermißte viele Tage ſein Weib, endlich fand man ihren
Leichnam im Waſſer voll von Krebſen, die ſich in ihrem Fleiſche gütlich
thaten. Dieſe wurden verkauft und warfen ein Hübſches ab; der Fiſcher
beſchloß nun, ſeine Frau noch einmal in’s Waſſer zu werfen, und ſo
noch mehrmals. Wird auf dieſe Weiſe das Bild umſtändlich ausgeführt,
ſo wird es ſelbſtändig und man kann von der Pointe abſehen. Allein
nicht alle Bilder ſind ſo glücklich, einen ſchon vorher fertigen komiſchen
Vorgang herbeizubringen; vielmehr es wird irgend ein einzelnes Sinn-
liches aufgegriffen, Zug um Zug an ihm aufgeſucht und ſo Zug um Zug
mit dem Gegenſtande verglichen. Allein unter der Hand fühlt man die
Beſchwerlichkeit, verläßt das erſte Bild und ſchiebt wechſelnd andere Bilder
ein. Leſſing liebt dieſe Art, welche J. Paul unpaſſend Allegorie nennt
und richtiger als Witzkette bezeichnet hätte, denn die Allegorie iſt nicht
komiſch. An einem ausgeſponnenen Bilde, das freilich eben gerade für den
Zuſammenhang des Komiſchen von J. Paul nicht glücklich gewählt iſt,
weist er Leſſing nach, wie er es unvermerkt immer mit andern vertauſcht
a. a. O. §. 51). Allein nicht das Vertauſchen iſt ein wirklicher Fehler;
dies iſt dem bildlichen Witze völlig erlaubt, ſondern daß Witz nur Witz iſt.
Als ſolcher will er von der Kraft der breiteren Sinnlichkeit Gebrauch
machen, allein wenn er nicht das Glück hat, ein ganzes fertiges Komiſche
vorzufinden, das dieſe Breite hat, ſo ſieht man gerade dem Ausſpinnen
vielmehr die Abſichtlichkeit doppelt an und daher wird im Umwenden das
Bild mit immer andern vertauſcht. Hier kommt die Punktualität, die
allem Witz eigen iſt, zum Vorſchein; ſie iſt noch weiter hervorzuheben,
wenn unten die Mängel des Witzes werden zuſammengefaßt werden. Es
iſt alſo, wenn man den Witz als ſolchen und ſeine Bedingungen im Auge
hat, gleichgültig, ob gerade das zuerſt gewählte Bild ausgeſponnen
werde; es fällt doch auseinander und der Witz mag ohne die Bemühung
um einen ſolchen Zuſammenhang ſeine Bilder häufen. Sprudeln müſſen
ſie gerade deswegen, weil jedes einzelne äußerlich und unorganiſch neben
ſeinen Gegenſtand fällt: dieſer qualitative Mangel treibt zur quantitativen
Häufung, und ſo ſprudelt beſonders Shakespeare. Welcher Ueberfluß
wird nur über Falſtaffs Bauch und Bardolfs Naſe ausgegoſſen!


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[435/0449] Das Bild kann eine ganze Erzählung werden, die auch für ſich komiſch wäre, indem ſie alle Bedingungen, die zu einer komiſchen Er- zählung gehören, enthält, wie z. B. Folgendes. Es beutete Jemand den Tod einer theuren Verwandten zu mehreren Schriften aus. Einer, der um ſein Urtheil darüber befragt wurde, erzählte ſtatt aller Antwort: ein Fiſcher vermißte viele Tage ſein Weib, endlich fand man ihren Leichnam im Waſſer voll von Krebſen, die ſich in ihrem Fleiſche gütlich thaten. Dieſe wurden verkauft und warfen ein Hübſches ab; der Fiſcher beſchloß nun, ſeine Frau noch einmal in’s Waſſer zu werfen, und ſo noch mehrmals. Wird auf dieſe Weiſe das Bild umſtändlich ausgeführt, ſo wird es ſelbſtändig und man kann von der Pointe abſehen. Allein nicht alle Bilder ſind ſo glücklich, einen ſchon vorher fertigen komiſchen Vorgang herbeizubringen; vielmehr es wird irgend ein einzelnes Sinn- liches aufgegriffen, Zug um Zug an ihm aufgeſucht und ſo Zug um Zug mit dem Gegenſtande verglichen. Allein unter der Hand fühlt man die Beſchwerlichkeit, verläßt das erſte Bild und ſchiebt wechſelnd andere Bilder ein. Leſſing liebt dieſe Art, welche J. Paul unpaſſend Allegorie nennt und richtiger als Witzkette bezeichnet hätte, denn die Allegorie iſt nicht komiſch. An einem ausgeſponnenen Bilde, das freilich eben gerade für den Zuſammenhang des Komiſchen von J. Paul nicht glücklich gewählt iſt, weist er Leſſing nach, wie er es unvermerkt immer mit andern vertauſcht a. a. O. §. 51). Allein nicht das Vertauſchen iſt ein wirklicher Fehler; dies iſt dem bildlichen Witze völlig erlaubt, ſondern daß Witz nur Witz iſt. Als ſolcher will er von der Kraft der breiteren Sinnlichkeit Gebrauch machen, allein wenn er nicht das Glück hat, ein ganzes fertiges Komiſche vorzufinden, das dieſe Breite hat, ſo ſieht man gerade dem Ausſpinnen vielmehr die Abſichtlichkeit doppelt an und daher wird im Umwenden das Bild mit immer andern vertauſcht. Hier kommt die Punktualität, die allem Witz eigen iſt, zum Vorſchein; ſie iſt noch weiter hervorzuheben, wenn unten die Mängel des Witzes werden zuſammengefaßt werden. Es iſt alſo, wenn man den Witz als ſolchen und ſeine Bedingungen im Auge hat, gleichgültig, ob gerade das zuerſt gewählte Bild ausgeſponnen werde; es fällt doch auseinander und der Witz mag ohne die Bemühung um einen ſolchen Zuſammenhang ſeine Bilder häufen. Sprudeln müſſen ſie gerade deswegen, weil jedes einzelne äußerlich und unorganiſch neben ſeinen Gegenſtand fällt: dieſer qualitative Mangel treibt zur quantitativen Häufung, und ſo ſprudelt beſonders Shakespeare. Welcher Ueberfluß wird nur über Falſtaffs Bauch und Bardolfs Naſe ausgegoſſen! 28*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/449>, abgerufen am 16.04.2024.