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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Kommt aber die äußere Störung aus einem Bewußtseyn und ist wirklicher Plan,3
so ist dieser Theil des Leihens dem Zuschauer erspart. Allein in beiden Fällen4
geht nun das Leihen auf das verlachte Subject zurück. Hat nämlich der Zu-
schauer an sich selbst erfahren, daß das Selbstbewußtseyn auch dahin sich erwei-
tert, das Bewußtlose als ein Bewußtes vorzustellen, so kann er noch leichter
dem strauchelnden Bewußten zutrauen, es habe um den lauernden Feind wissen
können und wissend ihn doch nicht vermieden.

1. Es ist im zweiten Falle von einem Anstoße die Rede, der ohne
mögliches Vorherwissen der Person unvermeidlich durch ein Unpersönliches
eintritt; z. B. etwas lange suchen, das der Suchende nicht durch
Zerstreutheit
selbst verlegt hat, mitten in einer erhabenen Rede niesen
müssen und dergl. Hier muß zunächst von dem verlachten Subjecte ganz
abgesehen werden. Ein Leihen anderer Art tritt zuerst ein und muß so
gewiß eintreten, als das Selbstbewußtseyn der Angel der Welt ist und
sich durch einen nothwendigen Act des Vorgriffs selbst da als vorhan-
den vorstellt, wo es nicht ist; der starke Schein aber einer planmäßigen
Störung befördert dieses Leihen, welches dem Gegengliede, dem Bewußt-
losen, woran gestrauchelt wird, ein Bewußtseyn unterschiebt. Es sieht ja
auch gerade aus, als stecke ein Kobold dahinter; der Stein, an dem Einer
strauchelt, scheint ihm aufgelauert, das Glas, das seiner Hand ent-
gleitet, auf den Moment gepaßt zu haben und das Geklirr der Scherben
tönt wie Gelächter; so scheint auch, was Einer lange vergeblich sucht,
in seinem sicheren Winkel den Suchenden zu verhöhnen und jenes
Niesen sieht vollends wie ein Einfall des Satans aus.

2. Nun entsteht das Bild einer neckischen Macht, die überall mit-
handelnd die Welt des Bewußtseyns und Wollens durchkreuzt, ihre Be-
schränktheit aufdeckt, sie daran erinnert, damit sie sich nicht überhebe.
Ohne den Prozeß des Komischen in diese Geheimnisse verfolgt und ins-
besondere das unter 1. Gesagte entwickelt zu haben, hat St. Schütze
doch diesen Punkt sehr anerkennenswerth beleuchtet. Er stellt das Ko-
mische als einen Kampf dar, in welchem nothwendig beide Theile, der
Mensch und die Natur, als handelnd erscheinen müssen. Diese darf
keinen peinlichen Zwang ausüben, sondern muß der Freiheit einen Spiel-
raum lassen, aber ein Geist muß ihr zu Grunde liegen oder gelegt
werden, sie muß als ein wohlmeinender neckender Genius erscheinen, der
die Freiheit an ihre Grenze mahnt und in dieser Absicht überall seine
Hand im Spiele hat. Sehr treffend wird dieser Kampf einer auf beiden

Kommt aber die äußere Störung aus einem Bewußtſeyn und iſt wirklicher Plan,3
ſo iſt dieſer Theil des Leihens dem Zuſchauer erſpart. Allein in beiden Fällen4
geht nun das Leihen auf das verlachte Subject zurück. Hat nämlich der Zu-
ſchauer an ſich ſelbſt erfahren, daß das Selbſtbewußtſeyn auch dahin ſich erwei-
tert, das Bewußtloſe als ein Bewußtes vorzuſtellen, ſo kann er noch leichter
dem ſtrauchelnden Bewußten zutrauen, es habe um den lauernden Feind wiſſen
können und wiſſend ihn doch nicht vermieden.

1. Es iſt im zweiten Falle von einem Anſtoße die Rede, der ohne
mögliches Vorherwiſſen der Perſon unvermeidlich durch ein Unperſönliches
eintritt; z. B. etwas lange ſuchen, das der Suchende nicht durch
Zerſtreutheit
ſelbſt verlegt hat, mitten in einer erhabenen Rede nieſen
müſſen und dergl. Hier muß zunächſt von dem verlachten Subjecte ganz
abgeſehen werden. Ein Leihen anderer Art tritt zuerſt ein und muß ſo
gewiß eintreten, als das Selbſtbewußtſeyn der Angel der Welt iſt und
ſich durch einen nothwendigen Act des Vorgriffs ſelbſt da als vorhan-
den vorſtellt, wo es nicht iſt; der ſtarke Schein aber einer planmäßigen
Störung befördert dieſes Leihen, welches dem Gegengliede, dem Bewußt-
loſen, woran geſtrauchelt wird, ein Bewußtſeyn unterſchiebt. Es ſieht ja
auch gerade aus, als ſtecke ein Kobold dahinter; der Stein, an dem Einer
ſtrauchelt, ſcheint ihm aufgelauert, das Glas, das ſeiner Hand ent-
gleitet, auf den Moment gepaßt zu haben und das Geklirr der Scherben
tönt wie Gelächter; ſo ſcheint auch, was Einer lange vergeblich ſucht,
in ſeinem ſicheren Winkel den Suchenden zu verhöhnen und jenes
Nieſen ſieht vollends wie ein Einfall des Satans aus.

2. Nun entſteht das Bild einer neckiſchen Macht, die überall mit-
handelnd die Welt des Bewußtſeyns und Wollens durchkreuzt, ihre Be-
ſchränktheit aufdeckt, ſie daran erinnert, damit ſie ſich nicht überhebe.
Ohne den Prozeß des Komiſchen in dieſe Geheimniſſe verfolgt und ins-
beſondere das unter 1. Geſagte entwickelt zu haben, hat St. Schütze
doch dieſen Punkt ſehr anerkennenswerth beleuchtet. Er ſtellt das Ko-
miſche als einen Kampf dar, in welchem nothwendig beide Theile, der
Menſch und die Natur, als handelnd erſcheinen müſſen. Dieſe darf
keinen peinlichen Zwang ausüben, ſondern muß der Freiheit einen Spiel-
raum laſſen, aber ein Geiſt muß ihr zu Grunde liegen oder gelegt
werden, ſie muß als ein wohlmeinender neckender Genius erſcheinen, der
die Freiheit an ihre Grenze mahnt und in dieſer Abſicht überall ſeine
Hand im Spiele hat. Sehr treffend wird dieſer Kampf einer auf beiden

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[389/0403] Kommt aber die äußere Störung aus einem Bewußtſeyn und iſt wirklicher Plan, ſo iſt dieſer Theil des Leihens dem Zuſchauer erſpart. Allein in beiden Fällen geht nun das Leihen auf das verlachte Subject zurück. Hat nämlich der Zu- ſchauer an ſich ſelbſt erfahren, daß das Selbſtbewußtſeyn auch dahin ſich erwei- tert, das Bewußtloſe als ein Bewußtes vorzuſtellen, ſo kann er noch leichter dem ſtrauchelnden Bewußten zutrauen, es habe um den lauernden Feind wiſſen können und wiſſend ihn doch nicht vermieden. 1. Es iſt im zweiten Falle von einem Anſtoße die Rede, der ohne mögliches Vorherwiſſen der Perſon unvermeidlich durch ein Unperſönliches eintritt; z. B. etwas lange ſuchen, das der Suchende nicht durch Zerſtreutheit ſelbſt verlegt hat, mitten in einer erhabenen Rede nieſen müſſen und dergl. Hier muß zunächſt von dem verlachten Subjecte ganz abgeſehen werden. Ein Leihen anderer Art tritt zuerſt ein und muß ſo gewiß eintreten, als das Selbſtbewußtſeyn der Angel der Welt iſt und ſich durch einen nothwendigen Act des Vorgriffs ſelbſt da als vorhan- den vorſtellt, wo es nicht iſt; der ſtarke Schein aber einer planmäßigen Störung befördert dieſes Leihen, welches dem Gegengliede, dem Bewußt- loſen, woran geſtrauchelt wird, ein Bewußtſeyn unterſchiebt. Es ſieht ja auch gerade aus, als ſtecke ein Kobold dahinter; der Stein, an dem Einer ſtrauchelt, ſcheint ihm aufgelauert, das Glas, das ſeiner Hand ent- gleitet, auf den Moment gepaßt zu haben und das Geklirr der Scherben tönt wie Gelächter; ſo ſcheint auch, was Einer lange vergeblich ſucht, in ſeinem ſicheren Winkel den Suchenden zu verhöhnen und jenes Nieſen ſieht vollends wie ein Einfall des Satans aus. 2. Nun entſteht das Bild einer neckiſchen Macht, die überall mit- handelnd die Welt des Bewußtſeyns und Wollens durchkreuzt, ihre Be- ſchränktheit aufdeckt, ſie daran erinnert, damit ſie ſich nicht überhebe. Ohne den Prozeß des Komiſchen in dieſe Geheimniſſe verfolgt und ins- beſondere das unter 1. Geſagte entwickelt zu haben, hat St. Schütze doch dieſen Punkt ſehr anerkennenswerth beleuchtet. Er ſtellt das Ko- miſche als einen Kampf dar, in welchem nothwendig beide Theile, der Menſch und die Natur, als handelnd erſcheinen müſſen. Dieſe darf keinen peinlichen Zwang ausüben, ſondern muß der Freiheit einen Spiel- raum laſſen, aber ein Geiſt muß ihr zu Grunde liegen oder gelegt werden, ſie muß als ein wohlmeinender neckender Genius erſcheinen, der die Freiheit an ihre Grenze mahnt und in dieſer Abſicht überall ſeine Hand im Spiele hat. Sehr treffend wird dieſer Kampf einer auf beiden

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/403>, abgerufen am 28.03.2024.