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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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haftet wird, sich dem Lachen Preis gibt. Dabei können die bestimmten
Religions-Vorstellungen als bekannt vorausgesetzt werden und es ist dies,
obwohl dieselben in einem spätern Theile des Systems erst in ihrer all-
gemeinen ästhetischen Bedeutung aufzuführen sind, kein unerlaubter Vor-
griff, denn das Sinnliche, was durch diese Vorstellungen dem reinen Geiste
angeheftet wird, läßt sich von zwei ganz verschiedenen Seiten betrachten.
Es kann, wie irrig diese Zuthat seyn mag, eine Welt transcendenter
Schönheit begründen: dies ist die Seite, welche im weiteren Systeme
geltend gemacht wird. Es kann aber das Irrige daran durch Vergleichung
der sinnlichen Zuthat mit der reinen Geistigkeit des Gehalts auf-
gedeckt und der Widerspruch, der darin liegt, zur Anschauung gebracht
werden: dies ist die Seite, welche auf dem jetzt vorliegenden Standpunkte
der Komik geltend zu machen ist.

2. Aeußere Störungen der Andacht werden mit komischer Wirkung
in Menge dadurch herbeigeführt, daß gerade im Zusammenstoße mit der
reinen Geistigkeit, welche diese Stimmung darstellt, jedes kleine Ungeschick
zufälliger Verwicklung mit dem Aeußeren, in das sie ja doch hineingestellt
ist, doppelt fühlbar wird. Innere Störungen der Andacht: Feldprediger
Schmelzle beim Nachtmahl, der religiösen Thätigkeit: Freudel auf der
Kanzel, Eymanns Ungeduld im Religions-Unterricht u. dergl. Sittliche
Thätigkeit, die durch religiöse Begründung höher erscheinen soll, als wenn
sie rein ethisch wäre: hier fließen die Beispiele aus der gesammten Hand-
lungsweise der Frömmler und Hierarchen in Masse zu. Was die Vor-
stellungen der Religion betrifft, so gibt gewiß jeder die Fratzen Aegyptens
und Indiens, die Widersprüche der griechischen und römischen Götterlehre,
natürlich unter denselben Bedingungen, welche auch von sittlichen Ent-
artungen erst Mitleid und Furcht fern halten müssen, wenn sie komisch
werden sollen, einem Lucianischen Lachen Preis. Anders ist es mit
Religionsvorstellungen der Gegenwart, welche zwar zur Komik auffordern,
aber im Hinblick auf eine Menge solcher, welche sie noch bedürfen, außer-
ästhetische Rücksichten der Schonung auflegen. Ebendarum aber hat es
mit solchen Rücksichten nicht die Aesthetik, sondern die Pädagogik zu thun
und auch diese hat dreierlei wohl zu erwägen: zuerst, ob die Menge
der Bedürftigen so groß sey, als behauptet wird, und ob nicht das Geschrei
über Aergerniß vielmehr von solchen komme, welche auf die Erhaltung
des Irrthums ihren Lebenszweck begründet haben; ferner, was heraus-
kommen würde, wenn man mit der Komik gegen jede absurde Legende
so lange zurückhalten wollte, bis mathematisch ausgemacht wäre, daß

haftet wird, ſich dem Lachen Preis gibt. Dabei können die beſtimmten
Religions-Vorſtellungen als bekannt vorausgeſetzt werden und es iſt dies,
obwohl dieſelben in einem ſpätern Theile des Syſtems erſt in ihrer all-
gemeinen äſthetiſchen Bedeutung aufzuführen ſind, kein unerlaubter Vor-
griff, denn das Sinnliche, was durch dieſe Vorſtellungen dem reinen Geiſte
angeheftet wird, läßt ſich von zwei ganz verſchiedenen Seiten betrachten.
Es kann, wie irrig dieſe Zuthat ſeyn mag, eine Welt tranſcendenter
Schönheit begründen: dies iſt die Seite, welche im weiteren Syſteme
geltend gemacht wird. Es kann aber das Irrige daran durch Vergleichung
der ſinnlichen Zuthat mit der reinen Geiſtigkeit des Gehalts auf-
gedeckt und der Widerſpruch, der darin liegt, zur Anſchauung gebracht
werden: dies iſt die Seite, welche auf dem jetzt vorliegenden Standpunkte
der Komik geltend zu machen iſt.

2. Aeußere Störungen der Andacht werden mit komiſcher Wirkung
in Menge dadurch herbeigeführt, daß gerade im Zuſammenſtoße mit der
reinen Geiſtigkeit, welche dieſe Stimmung darſtellt, jedes kleine Ungeſchick
zufälliger Verwicklung mit dem Aeußeren, in das ſie ja doch hineingeſtellt
iſt, doppelt fühlbar wird. Innere Störungen der Andacht: Feldprediger
Schmelzle beim Nachtmahl, der religiöſen Thätigkeit: Freudel auf der
Kanzel, Eymanns Ungeduld im Religions-Unterricht u. dergl. Sittliche
Thätigkeit, die durch religiöſe Begründung höher erſcheinen ſoll, als wenn
ſie rein ethiſch wäre: hier fließen die Beiſpiele aus der geſammten Hand-
lungsweiſe der Frömmler und Hierarchen in Maſſe zu. Was die Vor-
ſtellungen der Religion betrifft, ſo gibt gewiß jeder die Fratzen Aegyptens
und Indiens, die Widerſprüche der griechiſchen und römiſchen Götterlehre,
natürlich unter denſelben Bedingungen, welche auch von ſittlichen Ent-
artungen erſt Mitleid und Furcht fern halten müſſen, wenn ſie komiſch
werden ſollen, einem Lucianiſchen Lachen Preis. Anders iſt es mit
Religionsvorſtellungen der Gegenwart, welche zwar zur Komik auffordern,
aber im Hinblick auf eine Menge ſolcher, welche ſie noch bedürfen, außer-
äſthetiſche Rückſichten der Schonung auflegen. Ebendarum aber hat es
mit ſolchen Rückſichten nicht die Aeſthetik, ſondern die Pädagogik zu thun
und auch dieſe hat dreierlei wohl zu erwägen: zuerſt, ob die Menge
der Bedürftigen ſo groß ſey, als behauptet wird, und ob nicht das Geſchrei
über Aergerniß vielmehr von ſolchen komme, welche auf die Erhaltung
des Irrthums ihren Lebenszweck begründet haben; ferner, was heraus-
kommen würde, wenn man mit der Komik gegen jede abſurde Legende
ſo lange zurückhalten wollte, bis mathematiſch ausgemacht wäre, daß

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[370/0384] haftet wird, ſich dem Lachen Preis gibt. Dabei können die beſtimmten Religions-Vorſtellungen als bekannt vorausgeſetzt werden und es iſt dies, obwohl dieſelben in einem ſpätern Theile des Syſtems erſt in ihrer all- gemeinen äſthetiſchen Bedeutung aufzuführen ſind, kein unerlaubter Vor- griff, denn das Sinnliche, was durch dieſe Vorſtellungen dem reinen Geiſte angeheftet wird, läßt ſich von zwei ganz verſchiedenen Seiten betrachten. Es kann, wie irrig dieſe Zuthat ſeyn mag, eine Welt tranſcendenter Schönheit begründen: dies iſt die Seite, welche im weiteren Syſteme geltend gemacht wird. Es kann aber das Irrige daran durch Vergleichung der ſinnlichen Zuthat mit der reinen Geiſtigkeit des Gehalts auf- gedeckt und der Widerſpruch, der darin liegt, zur Anſchauung gebracht werden: dies iſt die Seite, welche auf dem jetzt vorliegenden Standpunkte der Komik geltend zu machen iſt. 2. Aeußere Störungen der Andacht werden mit komiſcher Wirkung in Menge dadurch herbeigeführt, daß gerade im Zuſammenſtoße mit der reinen Geiſtigkeit, welche dieſe Stimmung darſtellt, jedes kleine Ungeſchick zufälliger Verwicklung mit dem Aeußeren, in das ſie ja doch hineingeſtellt iſt, doppelt fühlbar wird. Innere Störungen der Andacht: Feldprediger Schmelzle beim Nachtmahl, der religiöſen Thätigkeit: Freudel auf der Kanzel, Eymanns Ungeduld im Religions-Unterricht u. dergl. Sittliche Thätigkeit, die durch religiöſe Begründung höher erſcheinen ſoll, als wenn ſie rein ethiſch wäre: hier fließen die Beiſpiele aus der geſammten Hand- lungsweiſe der Frömmler und Hierarchen in Maſſe zu. Was die Vor- ſtellungen der Religion betrifft, ſo gibt gewiß jeder die Fratzen Aegyptens und Indiens, die Widerſprüche der griechiſchen und römiſchen Götterlehre, natürlich unter denſelben Bedingungen, welche auch von ſittlichen Ent- artungen erſt Mitleid und Furcht fern halten müſſen, wenn ſie komiſch werden ſollen, einem Lucianiſchen Lachen Preis. Anders iſt es mit Religionsvorſtellungen der Gegenwart, welche zwar zur Komik auffordern, aber im Hinblick auf eine Menge ſolcher, welche ſie noch bedürfen, außer- äſthetiſche Rückſichten der Schonung auflegen. Ebendarum aber hat es mit ſolchen Rückſichten nicht die Aeſthetik, ſondern die Pädagogik zu thun und auch dieſe hat dreierlei wohl zu erwägen: zuerſt, ob die Menge der Bedürftigen ſo groß ſey, als behauptet wird, und ob nicht das Geſchrei über Aergerniß vielmehr von ſolchen komme, welche auf die Erhaltung des Irrthums ihren Lebenszweck begründet haben; ferner, was heraus- kommen würde, wenn man mit der Komik gegen jede abſurde Legende ſo lange zurückhalten wollte, bis mathematiſch ausgemacht wäre, daß

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/384>, abgerufen am 28.03.2024.