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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Bild zur Idee: du brauchst mich, du bist nichts außer mir, ich bin du.
Diesen letzten Sinn des Komischen hat Solger zuerst in Worte gebracht
(Aesth. S. 104): "auch im Komischen zeigt sich ein Widerspruch zwischen
Idee und Wirklichkeit, mit welchem aber zugleich eine Beruhigung ver-
bunden ist, und zwar die umgekehrte, wie beim Tragischen, bestehend
in der Wahrnehmung, daß Alles doch zuletzt gemeine Existenz und auch
in dieser überall die Idee (des Schönen, setzt Solger ungenau hinzu)
gegenwärtig ist, daß wir mithin in unserer Zeitlichkeit doch immer im
Schönen leben." -- "Wir finden in der gesammten menschlichen Natur
und in allen ihren Widersprüchen doch immer die Idee. Dies Gefühl,
daß die Idee in der Existenz bleibt und wir nie ganz von ihr verstoßen
sind, macht uns froh und glücklich" (105). -- "Im Komischen zeigt
sich die Idee als den Widersprüchen unterworfen, in sie aufgelöst, blos
durch den Zusammenhang des gemeinen Bewußtseyns erhalten; aber wir
sehen in dem flüchtigen Augenblick immer die Offenbarung der Idee, und
dies eben ist es, was uns aufheitert" (106). Vergl. Erwin Th. 1,
S. 248 ff., wo die edlere Freude darüber geschildert wird, daß "auch
das Schlechteste und Gemeinste von dem Wesen und dessen Ausdruck durch
die Schönheit nicht entblöst ist, sollte sich dasselbe auch auf eine etwas
verzerrte Weise darin offenbaren" (251). Es ist von der behaglichen
Befriedigung die Rede, welche sich erzeugt, "indem wir uns zugleich
ganz gemein und darin ganz schön fühlen," -- wo wir "über das ganze
Zeitliche und über uns selbst, weil Nichtiges und Wesentliches für uns
Eins und dasselbe wird, unerbittert über das Gemeine und sehr demüthig
wegen des Edlen in uns, gemüthlich lachen" (252). Dieser Schilderung
fehlt das Eingehen in den subjectiven Prozeß, den wir zunächst im All-
gemeinen ausgesprochen und sofort im Einzelnen zu entwickeln haben,
und ebendaher fehlt der Schlußstein, der Begriff der unendlichen Sub-
jectivität. Was aber an sich der Bewegung dahin zu Grunde liegt, ist
treffend ausgesprochen. Seltsam ist es, daß Weiße nicht nur diesen
Inhalt des Komischen an sich, sondern auch seine Spitze, die unendliche
Subjectivität, ohne Weiteres aufnimmt, nachdem er sich durch die Jen-
seitigkeit der Idee, auf die er im Erhabenen anweist, den Weg dazu völlig
abgeschnitten hat. "Bei näherer Betrachtung" soll (Aesth. Th. 1, §. 29)
auf einmal die Idee als Diesseits erscheinen und das Subject sich im
Besitze derselben, das endliche Individuum als freien Inhaber der Substanz
wissen. Es wird der sehr richtige Ausdruck gebraucht, daß die
Selbstentäußerung des absoluten Geistes an das endliche Subject im

Bild zur Idee: du brauchſt mich, du biſt nichts außer mir, ich bin du.
Dieſen letzten Sinn des Komiſchen hat Solger zuerſt in Worte gebracht
(Aeſth. S. 104): „auch im Komiſchen zeigt ſich ein Widerſpruch zwiſchen
Idee und Wirklichkeit, mit welchem aber zugleich eine Beruhigung ver-
bunden iſt, und zwar die umgekehrte, wie beim Tragiſchen, beſtehend
in der Wahrnehmung, daß Alles doch zuletzt gemeine Exiſtenz und auch
in dieſer überall die Idee (des Schönen, ſetzt Solger ungenau hinzu)
gegenwärtig iſt, daß wir mithin in unſerer Zeitlichkeit doch immer im
Schönen leben.“ — „Wir finden in der geſammten menſchlichen Natur
und in allen ihren Widerſprüchen doch immer die Idee. Dies Gefühl,
daß die Idee in der Exiſtenz bleibt und wir nie ganz von ihr verſtoßen
ſind, macht uns froh und glücklich“ (105). — „Im Komiſchen zeigt
ſich die Idee als den Widerſprüchen unterworfen, in ſie aufgelöst, blos
durch den Zuſammenhang des gemeinen Bewußtſeyns erhalten; aber wir
ſehen in dem flüchtigen Augenblick immer die Offenbarung der Idee, und
dies eben iſt es, was uns aufheitert“ (106). Vergl. Erwin Th. 1,
S. 248 ff., wo die edlere Freude darüber geſchildert wird, daß „auch
das Schlechteſte und Gemeinſte von dem Weſen und deſſen Ausdruck durch
die Schönheit nicht entblöst iſt, ſollte ſich dasſelbe auch auf eine etwas
verzerrte Weiſe darin offenbaren“ (251). Es iſt von der behaglichen
Befriedigung die Rede, welche ſich erzeugt, „indem wir uns zugleich
ganz gemein und darin ganz ſchön fühlen,“ — wo wir „über das ganze
Zeitliche und über uns ſelbſt, weil Nichtiges und Weſentliches für uns
Eins und dasſelbe wird, unerbittert über das Gemeine und ſehr demüthig
wegen des Edlen in uns, gemüthlich lachen“ (252). Dieſer Schilderung
fehlt das Eingehen in den ſubjectiven Prozeß, den wir zunächſt im All-
gemeinen ausgeſprochen und ſofort im Einzelnen zu entwickeln haben,
und ebendaher fehlt der Schlußſtein, der Begriff der unendlichen Sub-
jectivität. Was aber an ſich der Bewegung dahin zu Grunde liegt, iſt
treffend ausgeſprochen. Seltſam iſt es, daß Weiße nicht nur dieſen
Inhalt des Komiſchen an ſich, ſondern auch ſeine Spitze, die unendliche
Subjectivität, ohne Weiteres aufnimmt, nachdem er ſich durch die Jen-
ſeitigkeit der Idee, auf die er im Erhabenen anweist, den Weg dazu völlig
abgeſchnitten hat. „Bei näherer Betrachtung“ ſoll (Aeſth. Th. 1, §. 29)
auf einmal die Idee als Diesſeits erſcheinen und das Subject ſich im
Beſitze derſelben, das endliche Individuum als freien Inhaber der Subſtanz
wiſſen. Es wird der ſehr richtige Ausdruck gebraucht, daß die
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[349/0363] Bild zur Idee: du brauchſt mich, du biſt nichts außer mir, ich bin du. Dieſen letzten Sinn des Komiſchen hat Solger zuerſt in Worte gebracht (Aeſth. S. 104): „auch im Komiſchen zeigt ſich ein Widerſpruch zwiſchen Idee und Wirklichkeit, mit welchem aber zugleich eine Beruhigung ver- bunden iſt, und zwar die umgekehrte, wie beim Tragiſchen, beſtehend in der Wahrnehmung, daß Alles doch zuletzt gemeine Exiſtenz und auch in dieſer überall die Idee (des Schönen, ſetzt Solger ungenau hinzu) gegenwärtig iſt, daß wir mithin in unſerer Zeitlichkeit doch immer im Schönen leben.“ — „Wir finden in der geſammten menſchlichen Natur und in allen ihren Widerſprüchen doch immer die Idee. Dies Gefühl, daß die Idee in der Exiſtenz bleibt und wir nie ganz von ihr verſtoßen ſind, macht uns froh und glücklich“ (105). — „Im Komiſchen zeigt ſich die Idee als den Widerſprüchen unterworfen, in ſie aufgelöst, blos durch den Zuſammenhang des gemeinen Bewußtſeyns erhalten; aber wir ſehen in dem flüchtigen Augenblick immer die Offenbarung der Idee, und dies eben iſt es, was uns aufheitert“ (106). Vergl. Erwin Th. 1, S. 248 ff., wo die edlere Freude darüber geſchildert wird, daß „auch das Schlechteſte und Gemeinſte von dem Weſen und deſſen Ausdruck durch die Schönheit nicht entblöst iſt, ſollte ſich dasſelbe auch auf eine etwas verzerrte Weiſe darin offenbaren“ (251). Es iſt von der behaglichen Befriedigung die Rede, welche ſich erzeugt, „indem wir uns zugleich ganz gemein und darin ganz ſchön fühlen,“ — wo wir „über das ganze Zeitliche und über uns ſelbſt, weil Nichtiges und Weſentliches für uns Eins und dasſelbe wird, unerbittert über das Gemeine und ſehr demüthig wegen des Edlen in uns, gemüthlich lachen“ (252). Dieſer Schilderung fehlt das Eingehen in den ſubjectiven Prozeß, den wir zunächſt im All- gemeinen ausgeſprochen und ſofort im Einzelnen zu entwickeln haben, und ebendaher fehlt der Schlußſtein, der Begriff der unendlichen Sub- jectivität. Was aber an ſich der Bewegung dahin zu Grunde liegt, iſt treffend ausgeſprochen. Seltſam iſt es, daß Weiße nicht nur dieſen Inhalt des Komiſchen an ſich, ſondern auch ſeine Spitze, die unendliche Subjectivität, ohne Weiteres aufnimmt, nachdem er ſich durch die Jen- ſeitigkeit der Idee, auf die er im Erhabenen anweist, den Weg dazu völlig abgeſchnitten hat. „Bei näherer Betrachtung“ ſoll (Aeſth. Th. 1, §. 29) auf einmal die Idee als Diesſeits erſcheinen und das Subject ſich im Beſitze derſelben, das endliche Individuum als freien Inhaber der Subſtanz wiſſen. Es wird der ſehr richtige Ausdruck gebraucht, daß die Selbſtentäußerung des abſoluten Geiſtes an das endliche Subject im

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/363>, abgerufen am 28.03.2024.