Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist viel zu wenig geschehen, wenn man das Häßliche einfach auf
das Böse reduzirt. Zunächst halten wir einfach an dem allgemein
Geltenden, daß, was zuerst die genannten Uebergangsformen betrifft,
z. B. viele Amphibien, der Affe u. s. w. häßlich sind. Die Redensart,
sie seyen schön in ihrer Art, sagt gar nichts; es liegt bei jenem Urtheil
eine ganz wahre Idee der Bedeutung des Organismus zu Grunde. Die
ganze Wendung, die nun die Gährung im Schönen nimmt, muß aber
vor Allem darin bestehen, daß nun die vom Erhabenen streng beherrschte
Zufälligkeit entfesselt wird, und zwar in allen §. 30 ff. unterschiedenen
Formen; zuerst die Zufälligkeit, ob ein Subject da ist oder nicht. Man erinnere
sich nur z. B. an das zweckwidrige, den von den übrigen Personen be-
absichtigten Zusammenhang störende Auftreten unbequemer Personen im Lust-
spiel u. s. w. Dies ist komisch, aber wenn man die Wendung des Verlaufs,
wodurch es komisch wird, wegläßt (und wir lassen sie hier noch weg)
ist es häßlich. Die unendliche Eigenheit: das ganze Feld der Grillen,
Willkürlichkeiten, Absonderlichkeiten, Launen, und an seiner Spitze erst
diese Welt zum Prinzip erhoben: das Böse. Hier aber ist sogleich zu
bevorworten, daß das Böse nicht furchtbar seyn darf, sonst entsteht Häß-
lichkeit erhabener Art; ehe dieser Punkt weiter verfolgt wird, nennen wir
statt des Bösen das Schlechte. Die Zufälligkeit der Sollizitation: alle
die Handlungen, Naturzufälle, wodurch dargestellte Individuen ganz
außer dem Zusammenhange ihrer begründeten Zwecke gereizt, zu unzeitiger
Thätigkeit durch unzeitige Erfahrung genöthigt werden: Diarrhoe im
Eilwagen und dergl. Hiedurch nun ist die schlimmste Form der Zufälligkeit,
die schlechtweg störende Verkümmerung durch sinnloses Uebel bereits ein-
gebrochen: alle Abnormitäten und Krankheiten, Höcker, Kropf, Schielen,
was es seyn mag, der widerlichste Krampf des Leidens, die Vernichtung
alles Zusammenhangs, Ernst zur Unzeit, Scherz zur Unzeit. Im Er-
habenen war der Zufall keineswegs ganz ausgeschlossen (vergl. §. 117.
130. 133. 134), aber er war in einen solchen sittlichen Zusammenhang
gerückt, daß er Sinn bekam, daher war diese Form ganz abgewiesen.
Alles Uebel mußte gerecht erscheinen. Untergang eines Helden durch
einen Ziegel vom Dache u. dergl. wäre absolut unstatthaft. Das Häßliche
der Kraft zwar (§. 98) und wie es als angeborne Mißgestalt gerne in
der Erscheinung des Bösen (§. 108) zu der Häßlichkeit des Ausdrucks
noch hinzugegeben wird, kann in gewissen Formen auch als Zufälligkeit
betrachtet werden, aber nur wenn von dem Zusammenhange, den es dort
hat, abgesehen wird. Es ist nämlich Störung der Idee als Gattungs-

Es iſt viel zu wenig geſchehen, wenn man das Häßliche einfach auf
das Böſe reduzirt. Zunächſt halten wir einfach an dem allgemein
Geltenden, daß, was zuerſt die genannten Uebergangsformen betrifft,
z. B. viele Amphibien, der Affe u. ſ. w. häßlich ſind. Die Redensart,
ſie ſeyen ſchön in ihrer Art, ſagt gar nichts; es liegt bei jenem Urtheil
eine ganz wahre Idee der Bedeutung des Organismus zu Grunde. Die
ganze Wendung, die nun die Gährung im Schönen nimmt, muß aber
vor Allem darin beſtehen, daß nun die vom Erhabenen ſtreng beherrſchte
Zufälligkeit entfeſſelt wird, und zwar in allen §. 30 ff. unterſchiedenen
Formen; zuerſt die Zufälligkeit, ob ein Subject da iſt oder nicht. Man erinnere
ſich nur z. B. an das zweckwidrige, den von den übrigen Perſonen be-
abſichtigten Zuſammenhang ſtörende Auftreten unbequemer Perſonen im Luſt-
ſpiel u. ſ. w. Dies iſt komiſch, aber wenn man die Wendung des Verlaufs,
wodurch es komiſch wird, wegläßt (und wir laſſen ſie hier noch weg)
iſt es häßlich. Die unendliche Eigenheit: das ganze Feld der Grillen,
Willkürlichkeiten, Abſonderlichkeiten, Launen, und an ſeiner Spitze erſt
dieſe Welt zum Prinzip erhoben: das Böſe. Hier aber iſt ſogleich zu
bevorworten, daß das Böſe nicht furchtbar ſeyn darf, ſonſt entſteht Häß-
lichkeit erhabener Art; ehe dieſer Punkt weiter verfolgt wird, nennen wir
ſtatt des Böſen das Schlechte. Die Zufälligkeit der Sollizitation: alle
die Handlungen, Naturzufälle, wodurch dargeſtellte Individuen ganz
außer dem Zuſammenhange ihrer begründeten Zwecke gereizt, zu unzeitiger
Thätigkeit durch unzeitige Erfahrung genöthigt werden: Diarrhoe im
Eilwagen und dergl. Hiedurch nun iſt die ſchlimmſte Form der Zufälligkeit,
die ſchlechtweg ſtörende Verkümmerung durch ſinnloſes Uebel bereits ein-
gebrochen: alle Abnormitäten und Krankheiten, Höcker, Kropf, Schielen,
was es ſeyn mag, der widerlichſte Krampf des Leidens, die Vernichtung
alles Zuſammenhangs, Ernſt zur Unzeit, Scherz zur Unzeit. Im Er-
habenen war der Zufall keineswegs ganz ausgeſchloſſen (vergl. §. 117.
130. 133. 134), aber er war in einen ſolchen ſittlichen Zuſammenhang
gerückt, daß er Sinn bekam, daher war dieſe Form ganz abgewieſen.
Alles Uebel mußte gerecht erſcheinen. Untergang eines Helden durch
einen Ziegel vom Dache u. dergl. wäre abſolut unſtatthaft. Das Häßliche
der Kraft zwar (§. 98) und wie es als angeborne Mißgeſtalt gerne in
der Erſcheinung des Böſen (§. 108) zu der Häßlichkeit des Ausdrucks
noch hinzugegeben wird, kann in gewiſſen Formen auch als Zufälligkeit
betrachtet werden, aber nur wenn von dem Zuſammenhange, den es dort
hat, abgeſehen wird. Es iſt nämlich Störung der Idee als Gattungs-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0354" n="340"/>
              <p> <hi rendition="#et">Es i&#x017F;t viel zu wenig ge&#x017F;chehen, wenn man das Häßliche einfach auf<lb/>
das Bö&#x017F;e reduzirt. Zunäch&#x017F;t halten wir einfach an dem allgemein<lb/>
Geltenden, daß, was zuer&#x017F;t die genannten Uebergangsformen betrifft,<lb/>
z. B. viele Amphibien, der Affe u. &#x017F;. w. häßlich &#x017F;ind. Die Redensart,<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;eyen &#x017F;chön in ihrer Art, &#x017F;agt gar nichts; es liegt bei jenem Urtheil<lb/>
eine ganz wahre Idee der Bedeutung des Organismus zu Grunde. Die<lb/>
ganze Wendung, die nun die Gährung im Schönen nimmt, muß aber<lb/>
vor Allem darin be&#x017F;tehen, daß nun die vom Erhabenen &#x017F;treng beherr&#x017F;chte<lb/><hi rendition="#g">Zufälligkeit</hi> entfe&#x017F;&#x017F;elt wird, und zwar in allen §. 30 ff. unter&#x017F;chiedenen<lb/>
Formen; zuer&#x017F;t die Zufälligkeit, ob ein Subject da i&#x017F;t oder nicht. Man erinnere<lb/>
&#x017F;ich nur z. B. an das zweckwidrige, den von den übrigen Per&#x017F;onen be-<lb/>
ab&#x017F;ichtigten Zu&#x017F;ammenhang &#x017F;törende Auftreten unbequemer Per&#x017F;onen im Lu&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;piel u. &#x017F;. w. Dies i&#x017F;t komi&#x017F;ch, aber wenn man die Wendung des Verlaufs,<lb/>
wodurch es komi&#x017F;ch wird, wegläßt (und wir la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie hier noch weg)<lb/>
i&#x017F;t es häßlich. Die unendliche Eigenheit: das ganze Feld der Grillen,<lb/>
Willkürlichkeiten, Ab&#x017F;onderlichkeiten, Launen, und an &#x017F;einer Spitze er&#x017F;t<lb/>
die&#x017F;e Welt zum Prinzip erhoben: das Bö&#x017F;e. Hier aber i&#x017F;t &#x017F;ogleich zu<lb/>
bevorworten, daß das Bö&#x017F;e nicht furchtbar &#x017F;eyn darf, &#x017F;on&#x017F;t ent&#x017F;teht Häß-<lb/>
lichkeit erhabener Art; ehe die&#x017F;er Punkt weiter verfolgt wird, nennen wir<lb/>
&#x017F;tatt des Bö&#x017F;en das Schlechte. Die Zufälligkeit der Sollizitation: alle<lb/>
die Handlungen, Naturzufälle, wodurch darge&#x017F;tellte Individuen ganz<lb/>
außer dem Zu&#x017F;ammenhange ihrer begründeten Zwecke gereizt, zu unzeitiger<lb/>
Thätigkeit durch unzeitige Erfahrung genöthigt werden: Diarrhoe im<lb/>
Eilwagen und dergl. Hiedurch nun i&#x017F;t die &#x017F;chlimm&#x017F;te Form der Zufälligkeit,<lb/>
die &#x017F;chlechtweg &#x017F;törende Verkümmerung durch &#x017F;innlo&#x017F;es Uebel bereits ein-<lb/>
gebrochen: alle Abnormitäten und Krankheiten, Höcker, Kropf, Schielen,<lb/>
was es &#x017F;eyn mag, der widerlich&#x017F;te Krampf des Leidens, die Vernichtung<lb/>
alles Zu&#x017F;ammenhangs, Ern&#x017F;t zur Unzeit, Scherz zur Unzeit. Im Er-<lb/>
habenen war der Zufall keineswegs ganz ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en (vergl. §. 117.<lb/>
130. 133. 134), aber er war in einen &#x017F;olchen &#x017F;ittlichen Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
gerückt, daß er Sinn bekam, daher war <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Form ganz abgewie&#x017F;en.<lb/>
Alles Uebel mußte gerecht er&#x017F;cheinen. Untergang eines Helden durch<lb/>
einen Ziegel vom Dache u. dergl. wäre ab&#x017F;olut un&#x017F;tatthaft. Das Häßliche<lb/>
der Kraft zwar (§. 98) und wie es als angeborne Mißge&#x017F;talt gerne in<lb/>
der Er&#x017F;cheinung des Bö&#x017F;en (§. 108) zu der Häßlichkeit des Ausdrucks<lb/>
noch hinzugegeben wird, kann in gewi&#x017F;&#x017F;en Formen auch als Zufälligkeit<lb/>
betrachtet werden, aber nur wenn von dem Zu&#x017F;ammenhange, den es dort<lb/>
hat, abge&#x017F;ehen wird. Es i&#x017F;t nämlich Störung der Idee als Gattungs-<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0354] Es iſt viel zu wenig geſchehen, wenn man das Häßliche einfach auf das Böſe reduzirt. Zunächſt halten wir einfach an dem allgemein Geltenden, daß, was zuerſt die genannten Uebergangsformen betrifft, z. B. viele Amphibien, der Affe u. ſ. w. häßlich ſind. Die Redensart, ſie ſeyen ſchön in ihrer Art, ſagt gar nichts; es liegt bei jenem Urtheil eine ganz wahre Idee der Bedeutung des Organismus zu Grunde. Die ganze Wendung, die nun die Gährung im Schönen nimmt, muß aber vor Allem darin beſtehen, daß nun die vom Erhabenen ſtreng beherrſchte Zufälligkeit entfeſſelt wird, und zwar in allen §. 30 ff. unterſchiedenen Formen; zuerſt die Zufälligkeit, ob ein Subject da iſt oder nicht. Man erinnere ſich nur z. B. an das zweckwidrige, den von den übrigen Perſonen be- abſichtigten Zuſammenhang ſtörende Auftreten unbequemer Perſonen im Luſt- ſpiel u. ſ. w. Dies iſt komiſch, aber wenn man die Wendung des Verlaufs, wodurch es komiſch wird, wegläßt (und wir laſſen ſie hier noch weg) iſt es häßlich. Die unendliche Eigenheit: das ganze Feld der Grillen, Willkürlichkeiten, Abſonderlichkeiten, Launen, und an ſeiner Spitze erſt dieſe Welt zum Prinzip erhoben: das Böſe. Hier aber iſt ſogleich zu bevorworten, daß das Böſe nicht furchtbar ſeyn darf, ſonſt entſteht Häß- lichkeit erhabener Art; ehe dieſer Punkt weiter verfolgt wird, nennen wir ſtatt des Böſen das Schlechte. Die Zufälligkeit der Sollizitation: alle die Handlungen, Naturzufälle, wodurch dargeſtellte Individuen ganz außer dem Zuſammenhange ihrer begründeten Zwecke gereizt, zu unzeitiger Thätigkeit durch unzeitige Erfahrung genöthigt werden: Diarrhoe im Eilwagen und dergl. Hiedurch nun iſt die ſchlimmſte Form der Zufälligkeit, die ſchlechtweg ſtörende Verkümmerung durch ſinnloſes Uebel bereits ein- gebrochen: alle Abnormitäten und Krankheiten, Höcker, Kropf, Schielen, was es ſeyn mag, der widerlichſte Krampf des Leidens, die Vernichtung alles Zuſammenhangs, Ernſt zur Unzeit, Scherz zur Unzeit. Im Er- habenen war der Zufall keineswegs ganz ausgeſchloſſen (vergl. §. 117. 130. 133. 134), aber er war in einen ſolchen ſittlichen Zuſammenhang gerückt, daß er Sinn bekam, daher war dieſe Form ganz abgewieſen. Alles Uebel mußte gerecht erſcheinen. Untergang eines Helden durch einen Ziegel vom Dache u. dergl. wäre abſolut unſtatthaft. Das Häßliche der Kraft zwar (§. 98) und wie es als angeborne Mißgeſtalt gerne in der Erſcheinung des Böſen (§. 108) zu der Häßlichkeit des Ausdrucks noch hinzugegeben wird, kann in gewiſſen Formen auch als Zufälligkeit betrachtet werden, aber nur wenn von dem Zuſammenhange, den es dort hat, abgeſehen wird. Es iſt nämlich Störung der Idee als Gattungs-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/354
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/354>, abgerufen am 19.04.2024.