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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Es hätte zu unendlicher Breite geführt, wenn der subjective Eindruck
jeder Form des Tragischen besonders hätte behandelt werden sollen. Im
positiv Tragischen nimmt die Unlust nicht ihren vollen Verlauf, da
Schuld und Leiden nicht bis zum Letzten und Aeußersten gehen; allerdings
ist ebendarum die Lust um so weniger tief. In den zwei ersten Formen
des negativ Tragischen dehnt sich die Unlust vollständig aus und geht
nicht in reine Lust über, man kann aber ebensogut auch hier sagen, daß
diese nicht vollständig sey, weil jene nicht tief genug geht, indem der
Schmerz über eine blos anhängende und beiläufige Schuld ungleich ober-
flächlicher ist, als der über die innere Schuld im sittlichen Streben selbst. --

Mit dem bisherigen glauben wir das Erhabene entwickelt zu haben
und fassen es in seiner Spitze mit den Worten des Dichters zusammen:
-- Das große, gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.



Es hätte zu unendlicher Breite geführt, wenn der ſubjective Eindruck
jeder Form des Tragiſchen beſonders hätte behandelt werden ſollen. Im
poſitiv Tragiſchen nimmt die Unluſt nicht ihren vollen Verlauf, da
Schuld und Leiden nicht bis zum Letzten und Aeußerſten gehen; allerdings
iſt ebendarum die Luſt um ſo weniger tief. In den zwei erſten Formen
des negativ Tragiſchen dehnt ſich die Unluſt vollſtändig aus und geht
nicht in reine Luſt über, man kann aber ebenſogut auch hier ſagen, daß
dieſe nicht vollſtändig ſey, weil jene nicht tief genug geht, indem der
Schmerz über eine blos anhängende und beiläufige Schuld ungleich ober-
flächlicher iſt, als der über die innere Schuld im ſittlichen Streben ſelbſt. —

Mit dem bisherigen glauben wir das Erhabene entwickelt zu haben
und faſſen es in ſeiner Spitze mit den Worten des Dichters zuſammen:
— Das große, gigantiſche Schickſal,
Welches den Menſchen erhebt, wenn es den Menſchen zermalmt.



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[333/0347] Es hätte zu unendlicher Breite geführt, wenn der ſubjective Eindruck jeder Form des Tragiſchen beſonders hätte behandelt werden ſollen. Im poſitiv Tragiſchen nimmt die Unluſt nicht ihren vollen Verlauf, da Schuld und Leiden nicht bis zum Letzten und Aeußerſten gehen; allerdings iſt ebendarum die Luſt um ſo weniger tief. In den zwei erſten Formen des negativ Tragiſchen dehnt ſich die Unluſt vollſtändig aus und geht nicht in reine Luſt über, man kann aber ebenſogut auch hier ſagen, daß dieſe nicht vollſtändig ſey, weil jene nicht tief genug geht, indem der Schmerz über eine blos anhängende und beiläufige Schuld ungleich ober- flächlicher iſt, als der über die innere Schuld im ſittlichen Streben ſelbſt. — Mit dem bisherigen glauben wir das Erhabene entwickelt zu haben und faſſen es in ſeiner Spitze mit den Worten des Dichters zuſammen: — Das große, gigantiſche Schickſal, Welches den Menſchen erhebt, wenn es den Menſchen zermalmt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/347>, abgerufen am 29.03.2024.