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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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über ein Uebel, das wir uns auch für uns oder die Unsrigen als möglich
vorstellen" (a. a. O. II, 8) oder wie Lessing (Hamb. Dramat. Abschn. 75)
kurz sagt: und Alles das finden wir mitleidenswürdig, was wir fürchten
würden, wenn es uns selbst bevorstände. Hiebei ist ein geistig gestimmtes
Gemüth vorausgesetzt, denn die Aesthetik hat sich nicht mit der Frage zu
beschäftigen, wie die Gefühle aus ihrer ersten Natur-Rohheit herauszu-
bilden seyen, sondern setzt den ästhetischen Boden auch bei dem an-
schauenden Subjecte als geebnet heraus. Es streift dies schon an gewisse
Fragen, welche die bekannte Aristotelische Stelle Poet. 6 in Anregung
gebracht hat, wovon in den ff. §§. mehr. Im außer-ästhetischen Gebiete
nun kann das gemeine Mitleiden ein Genuß seyn, weil der Grad, in
welchem auch das rohe Subject sich in den Leidenden hineinversetzt, nur
dazu dient, die Schadenfreude um so mehr zu befriedigen. Der Thier-
und Menschen-Quäler fühlt bei einiger Nervosität die Qualen des Ge-
quälten alle mit, aber nur um so mehr kitzelt ihn das Bewußtseyn der
Ueberlegenheit, sie erregen zu können. Das Mitleid in seiner rohen
Natürlichkeit ist mit der größten Grausamkeit vereinbar. Ist es nicht
Grausamkeit im activen Sinne, so ist es doch Schadenfreude im Zusehen;
der Grausame ist entweder selbst die beschädigende Kraft und freut sich
ihrer, oder er verbindet sich, wenn er sie nicht selbst ausübt, in der
Vorstellung mit ihr und hat so das Gefühl der Activität, während er
aus seinem Mitgefühle wohl weiß, was das angeschaute Wesen leidet.
Dieses grausame Mitleiden ist der Grund der Lust bei dem Genusse, den
die rohe Menge im Anblicke von Hinrichtungen und die verdorbene im
Lesen und Anschauen peinlicher Dichtungen und Aufführungen sucht. Der
etwas Bessere, dem diese Grausamkeit ferne ist, aber auch die Reinheit
des Gefühles noch fehlt, welche ächte Schönheit voraussetzt, genießt bei
solchem Anblicke wenigstens die Lust allgemeiner Aufregung seines Gefühl-
lebens; freilich ist diese blose Aufregung nur dem ein Genuß, der zwar
nicht schlecht ist, aber stumpf. Dies wird im Folgenden noch ausdrücklich
hervorzuheben seyn. Auf wahrhaft ästhetischem Boden aber (auch auf
sittlichem, jedoch auf andere Weise) ist das Mitleiden an sich blose Unlust
ebenso wie objectiv das Häßliche (der Zerstörung) an sich verwerflich ist,
aber es hat die Bedeutung, mächtiger negativer Hebel einer Lust zu seyn,
wie das Häßliche zulässig ist um des Furchtbaren willen.

2. Correggio vor Raphaels Sixtinischer Madonna: auch' io sono
pittore!
-- Was das Böse betrifft, so darf hier noch nicht geltend gemacht
werden, daß die Erhebung für den Zuschauer in der Zerstörung desselben

über ein Uebel, das wir uns auch für uns oder die Unſrigen als möglich
vorſtellen“ (a. a. O. II, 8) oder wie Leſſing (Hamb. Dramat. Abſchn. 75)
kurz ſagt: und Alles das finden wir mitleidenswürdig, was wir fürchten
würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtände. Hiebei iſt ein geiſtig geſtimmtes
Gemüth vorausgeſetzt, denn die Aeſthetik hat ſich nicht mit der Frage zu
beſchäftigen, wie die Gefühle aus ihrer erſten Natur-Rohheit herauszu-
bilden ſeyen, ſondern ſetzt den äſthetiſchen Boden auch bei dem an-
ſchauenden Subjecte als geebnet heraus. Es ſtreift dies ſchon an gewiſſe
Fragen, welche die bekannte Ariſtoteliſche Stelle Poet. 6 in Anregung
gebracht hat, wovon in den ff. §§. mehr. Im außer-äſthetiſchen Gebiete
nun kann das gemeine Mitleiden ein Genuß ſeyn, weil der Grad, in
welchem auch das rohe Subject ſich in den Leidenden hineinverſetzt, nur
dazu dient, die Schadenfreude um ſo mehr zu befriedigen. Der Thier-
und Menſchen-Quäler fühlt bei einiger Nervoſität die Qualen des Ge-
quälten alle mit, aber nur um ſo mehr kitzelt ihn das Bewußtſeyn der
Ueberlegenheit, ſie erregen zu können. Das Mitleid in ſeiner rohen
Natürlichkeit iſt mit der größten Grauſamkeit vereinbar. Iſt es nicht
Grauſamkeit im activen Sinne, ſo iſt es doch Schadenfreude im Zuſehen;
der Grauſame iſt entweder ſelbſt die beſchädigende Kraft und freut ſich
ihrer, oder er verbindet ſich, wenn er ſie nicht ſelbſt ausübt, in der
Vorſtellung mit ihr und hat ſo das Gefühl der Activität, während er
aus ſeinem Mitgefühle wohl weiß, was das angeſchaute Weſen leidet.
Dieſes grauſame Mitleiden iſt der Grund der Luſt bei dem Genuſſe, den
die rohe Menge im Anblicke von Hinrichtungen und die verdorbene im
Leſen und Anſchauen peinlicher Dichtungen und Aufführungen ſucht. Der
etwas Beſſere, dem dieſe Grauſamkeit ferne iſt, aber auch die Reinheit
des Gefühles noch fehlt, welche ächte Schönheit vorausſetzt, genießt bei
ſolchem Anblicke wenigſtens die Luſt allgemeiner Aufregung ſeines Gefühl-
lebens; freilich iſt dieſe bloſe Aufregung nur dem ein Genuß, der zwar
nicht ſchlecht iſt, aber ſtumpf. Dies wird im Folgenden noch ausdrücklich
hervorzuheben ſeyn. Auf wahrhaft äſthetiſchem Boden aber (auch auf
ſittlichem, jedoch auf andere Weiſe) iſt das Mitleiden an ſich bloſe Unluſt
ebenſo wie objectiv das Häßliche (der Zerſtörung) an ſich verwerflich iſt,
aber es hat die Bedeutung, mächtiger negativer Hebel einer Luſt zu ſeyn,
wie das Häßliche zuläſſig iſt um des Furchtbaren willen.

2. Correggio vor Raphaels Sixtiniſcher Madonna: auch’ io sono
pittore!
— Was das Böſe betrifft, ſo darf hier noch nicht geltend gemacht
werden, daß die Erhebung für den Zuſchauer in der Zerſtörung desſelben

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[327/0341] über ein Uebel, das wir uns auch für uns oder die Unſrigen als möglich vorſtellen“ (a. a. O. II, 8) oder wie Leſſing (Hamb. Dramat. Abſchn. 75) kurz ſagt: und Alles das finden wir mitleidenswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns ſelbſt bevorſtände. Hiebei iſt ein geiſtig geſtimmtes Gemüth vorausgeſetzt, denn die Aeſthetik hat ſich nicht mit der Frage zu beſchäftigen, wie die Gefühle aus ihrer erſten Natur-Rohheit herauszu- bilden ſeyen, ſondern ſetzt den äſthetiſchen Boden auch bei dem an- ſchauenden Subjecte als geebnet heraus. Es ſtreift dies ſchon an gewiſſe Fragen, welche die bekannte Ariſtoteliſche Stelle Poet. 6 in Anregung gebracht hat, wovon in den ff. §§. mehr. Im außer-äſthetiſchen Gebiete nun kann das gemeine Mitleiden ein Genuß ſeyn, weil der Grad, in welchem auch das rohe Subject ſich in den Leidenden hineinverſetzt, nur dazu dient, die Schadenfreude um ſo mehr zu befriedigen. Der Thier- und Menſchen-Quäler fühlt bei einiger Nervoſität die Qualen des Ge- quälten alle mit, aber nur um ſo mehr kitzelt ihn das Bewußtſeyn der Ueberlegenheit, ſie erregen zu können. Das Mitleid in ſeiner rohen Natürlichkeit iſt mit der größten Grauſamkeit vereinbar. Iſt es nicht Grauſamkeit im activen Sinne, ſo iſt es doch Schadenfreude im Zuſehen; der Grauſame iſt entweder ſelbſt die beſchädigende Kraft und freut ſich ihrer, oder er verbindet ſich, wenn er ſie nicht ſelbſt ausübt, in der Vorſtellung mit ihr und hat ſo das Gefühl der Activität, während er aus ſeinem Mitgefühle wohl weiß, was das angeſchaute Weſen leidet. Dieſes grauſame Mitleiden iſt der Grund der Luſt bei dem Genuſſe, den die rohe Menge im Anblicke von Hinrichtungen und die verdorbene im Leſen und Anſchauen peinlicher Dichtungen und Aufführungen ſucht. Der etwas Beſſere, dem dieſe Grauſamkeit ferne iſt, aber auch die Reinheit des Gefühles noch fehlt, welche ächte Schönheit vorausſetzt, genießt bei ſolchem Anblicke wenigſtens die Luſt allgemeiner Aufregung ſeines Gefühl- lebens; freilich iſt dieſe bloſe Aufregung nur dem ein Genuß, der zwar nicht ſchlecht iſt, aber ſtumpf. Dies wird im Folgenden noch ausdrücklich hervorzuheben ſeyn. Auf wahrhaft äſthetiſchem Boden aber (auch auf ſittlichem, jedoch auf andere Weiſe) iſt das Mitleiden an ſich bloſe Unluſt ebenſo wie objectiv das Häßliche (der Zerſtörung) an ſich verwerflich iſt, aber es hat die Bedeutung, mächtiger negativer Hebel einer Luſt zu ſeyn, wie das Häßliche zuläſſig iſt um des Furchtbaren willen. 2. Correggio vor Raphaels Sixtiniſcher Madonna: auch’ io sono pittore! — Was das Böſe betrifft, ſo darf hier noch nicht geltend gemacht werden, daß die Erhebung für den Zuſchauer in der Zerſtörung desſelben

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/341>, abgerufen am 29.03.2024.