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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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ihr Inneres gewiesen, erweitern die Deutlichkeit des Denkens, womit sie vor-
her nur ihr Pathos rechtfertigten, zur gerechten Betrachtung, der Haß erlischt
in Liebe und anerkennend, daß sie gefehlt, gehen sie zwar unter, aber in den
sittlichen Einklang, der über ihren Leichen schwebt, ist auch ihr vereinigtes
Bild aufgenommen (vergl. §. 126).

1. Die Härte der Negation, die feine geistige Schärfe der Schuld,
die sich hier in's Innerste selbst hineinstreckt, das Edelste selbst als ein-
seitig offenbart, ist es vorzüglich, von welcher zurückgeschreckt Gruppe
in seiner Ariadne diese Form des Schicksals weder in der Antigone, noch
in einem andern Drama anerkennen will, freilich nur um die größere
Härte an ihre Stelle zu setzen, daß "das Schicksal unverdient ist und
außer der Zurechnung steht, daß aber doch für den davon Getroffenen
die Illusion entsteht, als hafte es an seiner Zurechnung und sey seine
Schuld" (S. 176). Es ist der praktisch moralische Standpunkt, ästhe-
tisch gefaßt die Abneigung, die Form des subjectiv Erhabenen in die
des absolut Erhabenen aufzulösen, was die Behauptung zur Folge hat,
es sey die vollständigste Unpoesie, daß alles Edle dadurch schlecht wer-
den solle, daß man sich ihm mit ganzer Seele hingebe, es sey eine
Feier des Phlegma, der Gleichgültigkeit und Prosa. Der Mensch bleibt
nach Gruppes Ansicht gerecht, das Schicksal ungerecht. Aber auch
praktisch wird kein Mann, der Thatkraft hat, darum zögern, zu handeln,
weil er in der reinen Betrachtung sich bewußt ist, daß das beste Handeln
nothwendig einseitig seyn muß, weil man nicht Alles zugleich thun kann;
denn die Betrachtung sagt ihm ja auch, daß die Summe dieser Ein-
seitigkeiten die Vermittlung des allseitigen Ganzen vollzieht. Nur Na-
turen, die zum voraus zur Betrachtung und nicht zum Handeln geboren
sind, werden durch die Furcht vor Einseitigkeit vom Handeln abgehalten,
wie Hamlet, der aber gerade dadurch nur doppelt schuldig wird.

2. Ich sehe mir den Gegner deutlich gegenüber, er sagt, was er
will, wie ich, die Gründe werden ausgetauscht, es ist kein lauernder
Zufall, kein geweissagter Fluch, kein vier und zwanzigster oder neun und
zwanzigster Februar zwischen dem Bewußtseyn und der That. Alles ist
knapp und durchsichtig beisammen; Schuld und Untergang fließt genau
aus dem Verhältniß der einzelnen Subjectivität zur absoluten. Je reiner
daher die Gerechtigkeit, um so tiefer auch die Versöhnung. Liegt keine
Schuld hinter dem Innern, sondern nur im Innern (in der Antigone
wird zwar der Unglücksstern ihres Hauses öfters erwähnt, aber nirgends

ihr Inneres gewieſen, erweitern die Deutlichkeit des Denkens, womit ſie vor-
her nur ihr Pathos rechtfertigten, zur gerechten Betrachtung, der Haß erliſcht
in Liebe und anerkennend, daß ſie gefehlt, gehen ſie zwar unter, aber in den
ſittlichen Einklang, der über ihren Leichen ſchwebt, iſt auch ihr vereinigtes
Bild aufgenommen (vergl. §. 126).

1. Die Härte der Negation, die feine geiſtige Schärfe der Schuld,
die ſich hier in’s Innerſte ſelbſt hineinſtreckt, das Edelſte ſelbſt als ein-
ſeitig offenbart, iſt es vorzüglich, von welcher zurückgeſchreckt Gruppe
in ſeiner Ariadne dieſe Form des Schickſals weder in der Antigone, noch
in einem andern Drama anerkennen will, freilich nur um die größere
Härte an ihre Stelle zu ſetzen, daß „das Schickſal unverdient iſt und
außer der Zurechnung ſteht, daß aber doch für den davon Getroffenen
die Illuſion entſteht, als hafte es an ſeiner Zurechnung und ſey ſeine
Schuld“ (S. 176). Es iſt der praktiſch moraliſche Standpunkt, äſthe-
tiſch gefaßt die Abneigung, die Form des ſubjectiv Erhabenen in die
des abſolut Erhabenen aufzulöſen, was die Behauptung zur Folge hat,
es ſey die vollſtändigſte Unpoeſie, daß alles Edle dadurch ſchlecht wer-
den ſolle, daß man ſich ihm mit ganzer Seele hingebe, es ſey eine
Feier des Phlegma, der Gleichgültigkeit und Proſa. Der Menſch bleibt
nach Gruppes Anſicht gerecht, das Schickſal ungerecht. Aber auch
praktiſch wird kein Mann, der Thatkraft hat, darum zögern, zu handeln,
weil er in der reinen Betrachtung ſich bewußt iſt, daß das beſte Handeln
nothwendig einſeitig ſeyn muß, weil man nicht Alles zugleich thun kann;
denn die Betrachtung ſagt ihm ja auch, daß die Summe dieſer Ein-
ſeitigkeiten die Vermittlung des allſeitigen Ganzen vollzieht. Nur Na-
turen, die zum voraus zur Betrachtung und nicht zum Handeln geboren
ſind, werden durch die Furcht vor Einſeitigkeit vom Handeln abgehalten,
wie Hamlet, der aber gerade dadurch nur doppelt ſchuldig wird.

2. Ich ſehe mir den Gegner deutlich gegenüber, er ſagt, was er
will, wie ich, die Gründe werden ausgetauſcht, es iſt kein lauernder
Zufall, kein geweiſſagter Fluch, kein vier und zwanzigſter oder neun und
zwanzigſter Februar zwiſchen dem Bewußtſeyn und der That. Alles iſt
knapp und durchſichtig beiſammen; Schuld und Untergang fließt genau
aus dem Verhältniß der einzelnen Subjectivität zur abſoluten. Je reiner
daher die Gerechtigkeit, um ſo tiefer auch die Verſöhnung. Liegt keine
Schuld hinter dem Innern, ſondern nur im Innern (in der Antigone
wird zwar der Unglücksſtern ihres Hauſes öfters erwähnt, aber nirgends

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[320/0334] ihr Inneres gewieſen, erweitern die Deutlichkeit des Denkens, womit ſie vor- her nur ihr Pathos rechtfertigten, zur gerechten Betrachtung, der Haß erliſcht in Liebe und anerkennend, daß ſie gefehlt, gehen ſie zwar unter, aber in den ſittlichen Einklang, der über ihren Leichen ſchwebt, iſt auch ihr vereinigtes Bild aufgenommen (vergl. §. 126). 1. Die Härte der Negation, die feine geiſtige Schärfe der Schuld, die ſich hier in’s Innerſte ſelbſt hineinſtreckt, das Edelſte ſelbſt als ein- ſeitig offenbart, iſt es vorzüglich, von welcher zurückgeſchreckt Gruppe in ſeiner Ariadne dieſe Form des Schickſals weder in der Antigone, noch in einem andern Drama anerkennen will, freilich nur um die größere Härte an ihre Stelle zu ſetzen, daß „das Schickſal unverdient iſt und außer der Zurechnung ſteht, daß aber doch für den davon Getroffenen die Illuſion entſteht, als hafte es an ſeiner Zurechnung und ſey ſeine Schuld“ (S. 176). Es iſt der praktiſch moraliſche Standpunkt, äſthe- tiſch gefaßt die Abneigung, die Form des ſubjectiv Erhabenen in die des abſolut Erhabenen aufzulöſen, was die Behauptung zur Folge hat, es ſey die vollſtändigſte Unpoeſie, daß alles Edle dadurch ſchlecht wer- den ſolle, daß man ſich ihm mit ganzer Seele hingebe, es ſey eine Feier des Phlegma, der Gleichgültigkeit und Proſa. Der Menſch bleibt nach Gruppes Anſicht gerecht, das Schickſal ungerecht. Aber auch praktiſch wird kein Mann, der Thatkraft hat, darum zögern, zu handeln, weil er in der reinen Betrachtung ſich bewußt iſt, daß das beſte Handeln nothwendig einſeitig ſeyn muß, weil man nicht Alles zugleich thun kann; denn die Betrachtung ſagt ihm ja auch, daß die Summe dieſer Ein- ſeitigkeiten die Vermittlung des allſeitigen Ganzen vollzieht. Nur Na- turen, die zum voraus zur Betrachtung und nicht zum Handeln geboren ſind, werden durch die Furcht vor Einſeitigkeit vom Handeln abgehalten, wie Hamlet, der aber gerade dadurch nur doppelt ſchuldig wird. 2. Ich ſehe mir den Gegner deutlich gegenüber, er ſagt, was er will, wie ich, die Gründe werden ausgetauſcht, es iſt kein lauernder Zufall, kein geweiſſagter Fluch, kein vier und zwanzigſter oder neun und zwanzigſter Februar zwiſchen dem Bewußtſeyn und der That. Alles iſt knapp und durchſichtig beiſammen; Schuld und Untergang fließt genau aus dem Verhältniß der einzelnen Subjectivität zur abſoluten. Je reiner daher die Gerechtigkeit, um ſo tiefer auch die Verſöhnung. Liegt keine Schuld hinter dem Innern, ſondern nur im Innern (in der Antigone wird zwar der Unglücksſtern ihres Hauſes öfters erwähnt, aber nirgends

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/334>, abgerufen am 28.03.2024.