Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

zufälliges Leiden durch sein Bewußtseyn in Zusammenhang mit seiner Schuld.
Anerkennung des Zusammenhangs zwischen Schuld und Uebel wird immer ge-3
fordert; dieselbe kann aber eine freiwillige seyn und das Subject sogar das
äußerste Uebel selbst an sich vollstrecken oder eine unfreiwillige, welche das
Gewissen dem bösen Willen abnöthigt. Ist dieser der Mittelpunkt, so muß
die äußere Zerstörung die reine Kehrseite der Selbstzerstörung darstellen
(vergl. §. 109).

1. Der ästhetische Zusammenhang ist um so reiner, je mehr die
Strafe als einfacher Reflex, als blose Kehrseite der Schuld erscheint.
Macbeth und Richard III haben durch ihr Handeln jedes Band der Liebe
zerschnitten und zuletzt, da die Furcht nicht mehr wirkt und sie die Liebe
bedürfen, um die Vasallen festzuhalten, machen sie die Erfahrung, wie
sich das von ihnen aufgestellte Gesetz an ihnen selbst vollstreckt. Schon
in diesem Sinne erscheint hier die von außen kommende Zerstörung als
bloser Rückschlag der eigenen That, also als Selbstzerstörung. So streng,
wie hier, ist keineswegs nothwendig immer der Zusammenhang, doch
in schwächerer Spur muß er sich verfolgen lassen. Oedipus z. B. läßt
sich vom Zufall des aufbrausenden Zornes überraschen und tödtet den grob
Entgegnenden, den er nicht kennt. Gerade den Zufall hat er, das muß
er wissen, zu fürchten und der zufällig Begegnende war sein Vater.
Maria Stuart hat eine durch Launen und Verirrungen der Liebe befleckte
Jugend zu bereuen und eifersüchtige Weiberlaune ist das Grundmotiv,
warum Elisabeth das Todesurtheil unterzeichnet.

2. Unbestimmte Schuld heißt hier eine Schuld aus momentanem Affect
und Vergessenheit, wie die des Oedipus, an welchem Beispiel zugleich
die Zufälligkeit der Nemesis einleuchtet. Romeo läßt sich vom Zufall seines
Temperaments zu einem verzweifelten Entschlusse hinreißen und an ihm
rächt sich der Zufall falscher Kunde. Bestimmte Schuld ist entweder
vorbedachtes Verbrechen, wie die Thaten des Bösen, oder wenigstens
ein sehr strafbarer Leichtsinn, wie Sigfrieds Ausplaudern, Egmonts
Bleiben, eine maßlose Leidenschaft, wie die Raserei des Ajax. Die
Subjecte, welche die Strafe verhängen, sind z. B. gegen Macbeth und
Richard III, obwohl sie übrigens durch zu langes Zögern auch schuldig
geworden, an sich im Rechte. Selbst Sigfrieds Mörder Hagen handelt
aus Vasallentreue, da durch Sigfrieds Ausplaudern seine Herrinn Brun-
hilde unendlich verletzt ist, er wird aber, indem er den Meuchelmord

zufälliges Leiden durch ſein Bewußtſeyn in Zuſammenhang mit ſeiner Schuld.
Anerkennung des Zuſammenhangs zwiſchen Schuld und Uebel wird immer ge-3
fordert; dieſelbe kann aber eine freiwillige ſeyn und das Subject ſogar das
äußerſte Uebel ſelbſt an ſich vollſtrecken oder eine unfreiwillige, welche das
Gewiſſen dem böſen Willen abnöthigt. Iſt dieſer der Mittelpunkt, ſo muß
die äußere Zerſtörung die reine Kehrſeite der Selbſtzerſtörung darſtellen
(vergl. §. 109).

1. Der äſthetiſche Zuſammenhang iſt um ſo reiner, je mehr die
Strafe als einfacher Reflex, als bloſe Kehrſeite der Schuld erſcheint.
Macbeth und Richard III haben durch ihr Handeln jedes Band der Liebe
zerſchnitten und zuletzt, da die Furcht nicht mehr wirkt und ſie die Liebe
bedürfen, um die Vaſallen feſtzuhalten, machen ſie die Erfahrung, wie
ſich das von ihnen aufgeſtellte Geſetz an ihnen ſelbſt vollſtreckt. Schon
in dieſem Sinne erſcheint hier die von außen kommende Zerſtörung als
bloſer Rückſchlag der eigenen That, alſo als Selbſtzerſtörung. So ſtreng,
wie hier, iſt keineswegs nothwendig immer der Zuſammenhang, doch
in ſchwächerer Spur muß er ſich verfolgen laſſen. Oedipus z. B. läßt
ſich vom Zufall des aufbrauſenden Zornes überraſchen und tödtet den grob
Entgegnenden, den er nicht kennt. Gerade den Zufall hat er, das muß
er wiſſen, zu fürchten und der zufällig Begegnende war ſein Vater.
Maria Stuart hat eine durch Launen und Verirrungen der Liebe befleckte
Jugend zu bereuen und eiferſüchtige Weiberlaune iſt das Grundmotiv,
warum Eliſabeth das Todesurtheil unterzeichnet.

2. Unbeſtimmte Schuld heißt hier eine Schuld aus momentanem Affect
und Vergeſſenheit, wie die des Oedipus, an welchem Beiſpiel zugleich
die Zufälligkeit der Nemeſis einleuchtet. Romeo läßt ſich vom Zufall ſeines
Temperaments zu einem verzweifelten Entſchluſſe hinreißen und an ihm
rächt ſich der Zufall falſcher Kunde. Beſtimmte Schuld iſt entweder
vorbedachtes Verbrechen, wie die Thaten des Böſen, oder wenigſtens
ein ſehr ſtrafbarer Leichtſinn, wie Sigfrieds Ausplaudern, Egmonts
Bleiben, eine maßloſe Leidenſchaft, wie die Raſerei des Ajax. Die
Subjecte, welche die Strafe verhängen, ſind z. B. gegen Macbeth und
Richard III, obwohl ſie übrigens durch zu langes Zögern auch ſchuldig
geworden, an ſich im Rechte. Selbſt Sigfrieds Mörder Hagen handelt
aus Vaſallentreue, da durch Sigfrieds Ausplaudern ſeine Herrinn Brun-
hilde unendlich verletzt iſt, er wird aber, indem er den Meuchelmord

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0323" n="309"/>
zufälliges Leiden durch &#x017F;ein Bewußt&#x017F;eyn in Zu&#x017F;ammenhang mit &#x017F;einer Schuld.<lb/>
Anerkennung des Zu&#x017F;ammenhangs zwi&#x017F;chen Schuld und Uebel wird immer ge-<note place="right">3</note><lb/>
fordert; die&#x017F;elbe kann aber eine freiwillige &#x017F;eyn und das Subject &#x017F;ogar das<lb/>
äußer&#x017F;te Uebel &#x017F;elb&#x017F;t an &#x017F;ich voll&#x017F;trecken oder eine unfreiwillige, welche das<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en dem bö&#x017F;en Willen abnöthigt. I&#x017F;t die&#x017F;er der Mittelpunkt, &#x017F;o muß<lb/>
die äußere Zer&#x017F;törung die reine Kehr&#x017F;eite der Selb&#x017F;tzer&#x017F;törung dar&#x017F;tellen<lb/>
(vergl. §. 109).</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Der ä&#x017F;theti&#x017F;che Zu&#x017F;ammenhang i&#x017F;t um &#x017F;o reiner, je mehr die<lb/>
Strafe als einfacher Reflex, als blo&#x017F;e Kehr&#x017F;eite der Schuld er&#x017F;cheint.<lb/>
Macbeth und Richard <hi rendition="#aq">III</hi> haben durch ihr Handeln jedes Band der Liebe<lb/>
zer&#x017F;chnitten und zuletzt, da die Furcht nicht mehr wirkt und &#x017F;ie die Liebe<lb/>
bedürfen, um die Va&#x017F;allen fe&#x017F;tzuhalten, machen &#x017F;ie die Erfahrung, wie<lb/>
&#x017F;ich das von ihnen aufge&#x017F;tellte Ge&#x017F;etz an ihnen &#x017F;elb&#x017F;t voll&#x017F;treckt. Schon<lb/>
in die&#x017F;em Sinne er&#x017F;cheint hier die von außen kommende Zer&#x017F;törung als<lb/>
blo&#x017F;er Rück&#x017F;chlag der eigenen That, al&#x017F;o als Selb&#x017F;tzer&#x017F;törung. So &#x017F;treng,<lb/>
wie hier, i&#x017F;t keineswegs nothwendig immer der Zu&#x017F;ammenhang, doch<lb/>
in &#x017F;chwächerer Spur muß er &#x017F;ich verfolgen la&#x017F;&#x017F;en. Oedipus z. B. läßt<lb/>
&#x017F;ich vom Zufall des aufbrau&#x017F;enden Zornes überra&#x017F;chen und tödtet den grob<lb/>
Entgegnenden, den er nicht kennt. Gerade den Zufall hat er, das muß<lb/>
er wi&#x017F;&#x017F;en, zu fürchten und der zufällig Begegnende war &#x017F;ein Vater.<lb/>
Maria Stuart hat eine durch Launen und Verirrungen der Liebe befleckte<lb/>
Jugend zu bereuen und eifer&#x017F;üchtige Weiberlaune i&#x017F;t das Grundmotiv,<lb/>
warum Eli&#x017F;abeth das Todesurtheil unterzeichnet.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Unbe&#x017F;timmte Schuld heißt hier eine Schuld aus momentanem Affect<lb/>
und Verge&#x017F;&#x017F;enheit, wie die des Oedipus, an welchem Bei&#x017F;piel zugleich<lb/>
die Zufälligkeit der Neme&#x017F;is einleuchtet. Romeo läßt &#x017F;ich vom Zufall &#x017F;eines<lb/>
Temperaments zu einem verzweifelten Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e hinreißen und an ihm<lb/>
rächt &#x017F;ich der Zufall fal&#x017F;cher Kunde. Be&#x017F;timmte Schuld i&#x017F;t entweder<lb/>
vorbedachtes Verbrechen, wie die Thaten des Bö&#x017F;en, oder wenig&#x017F;tens<lb/>
ein &#x017F;ehr &#x017F;trafbarer Leicht&#x017F;inn, wie Sigfrieds Ausplaudern, Egmonts<lb/>
Bleiben, eine maßlo&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft, wie die Ra&#x017F;erei des Ajax. Die<lb/>
Subjecte, welche die Strafe verhängen, &#x017F;ind z. B. gegen Macbeth und<lb/>
Richard <hi rendition="#aq">III</hi>, obwohl &#x017F;ie übrigens durch zu langes Zögern auch &#x017F;chuldig<lb/>
geworden, an &#x017F;ich im Rechte. Selb&#x017F;t Sigfrieds Mörder Hagen handelt<lb/>
aus Va&#x017F;allentreue, da durch Sigfrieds Ausplaudern &#x017F;eine Herrinn Brun-<lb/>
hilde unendlich verletzt i&#x017F;t, er wird aber, indem er den Meuchelmord<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[309/0323] zufälliges Leiden durch ſein Bewußtſeyn in Zuſammenhang mit ſeiner Schuld. Anerkennung des Zuſammenhangs zwiſchen Schuld und Uebel wird immer ge- fordert; dieſelbe kann aber eine freiwillige ſeyn und das Subject ſogar das äußerſte Uebel ſelbſt an ſich vollſtrecken oder eine unfreiwillige, welche das Gewiſſen dem böſen Willen abnöthigt. Iſt dieſer der Mittelpunkt, ſo muß die äußere Zerſtörung die reine Kehrſeite der Selbſtzerſtörung darſtellen (vergl. §. 109). 1. Der äſthetiſche Zuſammenhang iſt um ſo reiner, je mehr die Strafe als einfacher Reflex, als bloſe Kehrſeite der Schuld erſcheint. Macbeth und Richard III haben durch ihr Handeln jedes Band der Liebe zerſchnitten und zuletzt, da die Furcht nicht mehr wirkt und ſie die Liebe bedürfen, um die Vaſallen feſtzuhalten, machen ſie die Erfahrung, wie ſich das von ihnen aufgeſtellte Geſetz an ihnen ſelbſt vollſtreckt. Schon in dieſem Sinne erſcheint hier die von außen kommende Zerſtörung als bloſer Rückſchlag der eigenen That, alſo als Selbſtzerſtörung. So ſtreng, wie hier, iſt keineswegs nothwendig immer der Zuſammenhang, doch in ſchwächerer Spur muß er ſich verfolgen laſſen. Oedipus z. B. läßt ſich vom Zufall des aufbrauſenden Zornes überraſchen und tödtet den grob Entgegnenden, den er nicht kennt. Gerade den Zufall hat er, das muß er wiſſen, zu fürchten und der zufällig Begegnende war ſein Vater. Maria Stuart hat eine durch Launen und Verirrungen der Liebe befleckte Jugend zu bereuen und eiferſüchtige Weiberlaune iſt das Grundmotiv, warum Eliſabeth das Todesurtheil unterzeichnet. 2. Unbeſtimmte Schuld heißt hier eine Schuld aus momentanem Affect und Vergeſſenheit, wie die des Oedipus, an welchem Beiſpiel zugleich die Zufälligkeit der Nemeſis einleuchtet. Romeo läßt ſich vom Zufall ſeines Temperaments zu einem verzweifelten Entſchluſſe hinreißen und an ihm rächt ſich der Zufall falſcher Kunde. Beſtimmte Schuld iſt entweder vorbedachtes Verbrechen, wie die Thaten des Böſen, oder wenigſtens ein ſehr ſtrafbarer Leichtſinn, wie Sigfrieds Ausplaudern, Egmonts Bleiben, eine maßloſe Leidenſchaft, wie die Raſerei des Ajax. Die Subjecte, welche die Strafe verhängen, ſind z. B. gegen Macbeth und Richard III, obwohl ſie übrigens durch zu langes Zögern auch ſchuldig geworden, an ſich im Rechte. Selbſt Sigfrieds Mörder Hagen handelt aus Vaſallentreue, da durch Sigfrieds Ausplaudern ſeine Herrinn Brun- hilde unendlich verletzt iſt, er wird aber, indem er den Meuchelmord

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/323
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/323>, abgerufen am 19.04.2024.