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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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muß in dieser Schönheit auch Kraft seyn, wie in Adonis, in Achilles,
und wie Herrschaft und Reichthum auch in die Sphäre der Kraft fallen.
Ueberhaupt kann man das Ganze auch so ausdrücken: das Tragische tritt
hier, wie das subjectiv Erhabene, zunächst wieder als Kraft auf. Wie
nämlich das untergehende Subject, so erscheint auch das diesen Untergang
bewirkende absolut Erhabene noch als blinde Kraft. In diesem dunkeln
Grunde schlummert allerdings bereits das Sittliche, denn von großem
Glück und Glanz ist zur ubris ebenso nur ein Schritt, wie von großer
Tugend zu den Fehltritten, die aus der concentrirten Energie ihrer noth-
wendigen Beschränkung fließen. In der Schrift des Verf. über das Er-
habene und Komische ist nachgewiesen, daß in den von Herodot erzählten
Fällen, welche besonders schlagende Beispiele dieser Gattung an die Hand
geben, wie von Krösus und Polykrates, noch keineswegs ubris da ist,
sondern vor ihr gewarnt wird, weil die Gottheit neidisch sey (S. 99 ff.).
Die Schuld bleibt daher Urschuld, mögliche Schuld. Ebenso kommt das
Uebel vom Naturgesetz, nicht vom beleidigten Sittengesetz. Den Adonis
tödtet ein Eber, Achill fällt zwar durch Meuchelmord und hat Schuld
gegen die Troer, doch dies tritt, wenn sein früher Tod beweint wird,
nicht in's Bewußtseyn. Der Untergang kommt also vom Zufall; allein es
ist nicht der sinnlos störende Zufall (§. 40), der in §. 53 einer besonderen
Weise ästhetischer Aufhebung zugewiesen ist; denn er stört keinen sittlichen Zu-
sammenhang, sondern das sinnliche Glück gehört eben in die Sphäre, wo auch
das Unglück herrscht, und muß sich auf dergleichen gefaßt machen. Wer lebt,
muß sterben. Darin liegt auch der Trost. Es ist das einfache Gesetz des
Verhältnisses zwischen Individuum und Gattung, daß diese bleibt, jenes
vergeht, was durch irgend einen Zufall vollstreckt wird. Dagegen ist nicht zu
murren. Schiller sagte kurz vor seinem Tode: der Tod kann kein Uebel
seyn, weil er etwas Allgemeines ist. Geht ein schöner Theil des Lebens
verloren, so ist auch die langsame Erschöpfung nicht empfunden worden.
"In der Jugend sterben, ist auch schön." Es ist nur das allgemeine
Schicksal, das sich aber da markirt, wo die Lebenskraft hervorleuchtet
und wo man daher den Fall nicht erwartete. Dies nannten die Griechen
Neid der Götter. Vergl. besonders Herodot 1, 32. 7, 10. Hegel
nennt es (Rel.-Philos. Th. 2, S. 90) ein Nivelliren. Die Griechen kannten
wohl ein höheres tragisches Gesetz, aber sie mußten sich, da ihre Religion
Natur-Religion war, für diese Erscheinung, das Natur-Tragische, be-
besonders interessiren. Erst die vorgeschrittene Philosophie und die tragische
Poesie, wo sie höhere, sittliche Formen des Tragischen behandelte und

muß in dieſer Schönheit auch Kraft ſeyn, wie in Adonis, in Achilles,
und wie Herrſchaft und Reichthum auch in die Sphäre der Kraft fallen.
Ueberhaupt kann man das Ganze auch ſo ausdrücken: das Tragiſche tritt
hier, wie das ſubjectiv Erhabene, zunächſt wieder als Kraft auf. Wie
nämlich das untergehende Subject, ſo erſcheint auch das dieſen Untergang
bewirkende abſolut Erhabene noch als blinde Kraft. In dieſem dunkeln
Grunde ſchlummert allerdings bereits das Sittliche, denn von großem
Glück und Glanz iſt zur ὕβρις ebenſo nur ein Schritt, wie von großer
Tugend zu den Fehltritten, die aus der concentrirten Energie ihrer noth-
wendigen Beſchränkung fließen. In der Schrift des Verf. über das Er-
habene und Komiſche iſt nachgewieſen, daß in den von Herodot erzählten
Fällen, welche beſonders ſchlagende Beiſpiele dieſer Gattung an die Hand
geben, wie von Kröſus und Polykrates, noch keineswegs ὕβρις da iſt,
ſondern vor ihr gewarnt wird, weil die Gottheit neidiſch ſey (S. 99 ff.).
Die Schuld bleibt daher Urſchuld, mögliche Schuld. Ebenſo kommt das
Uebel vom Naturgeſetz, nicht vom beleidigten Sittengeſetz. Den Adonis
tödtet ein Eber, Achill fällt zwar durch Meuchelmord und hat Schuld
gegen die Troer, doch dies tritt, wenn ſein früher Tod beweint wird,
nicht in’s Bewußtſeyn. Der Untergang kommt alſo vom Zufall; allein es
iſt nicht der ſinnlos ſtörende Zufall (§. 40), der in §. 53 einer beſonderen
Weiſe äſthetiſcher Aufhebung zugewieſen iſt; denn er ſtört keinen ſittlichen Zu-
ſammenhang, ſondern das ſinnliche Glück gehört eben in die Sphäre, wo auch
das Unglück herrſcht, und muß ſich auf dergleichen gefaßt machen. Wer lebt,
muß ſterben. Darin liegt auch der Troſt. Es iſt das einfache Geſetz des
Verhältniſſes zwiſchen Individuum und Gattung, daß dieſe bleibt, jenes
vergeht, was durch irgend einen Zufall vollſtreckt wird. Dagegen iſt nicht zu
murren. Schiller ſagte kurz vor ſeinem Tode: der Tod kann kein Uebel
ſeyn, weil er etwas Allgemeines iſt. Geht ein ſchöner Theil des Lebens
verloren, ſo iſt auch die langſame Erſchöpfung nicht empfunden worden.
„In der Jugend ſterben, iſt auch ſchön.“ Es iſt nur das allgemeine
Schickſal, das ſich aber da markirt, wo die Lebenskraft hervorleuchtet
und wo man daher den Fall nicht erwartete. Dies nannten die Griechen
Neid der Götter. Vergl. beſonders Herodot 1, 32. 7, 10. Hegel
nennt es (Rel.-Philoſ. Th. 2, S. 90) ein Nivelliren. Die Griechen kannten
wohl ein höheres tragiſches Geſetz, aber ſie mußten ſich, da ihre Religion
Natur-Religion war, für dieſe Erſcheinung, das Natur-Tragiſche, be-
beſonders intereſſiren. Erſt die vorgeſchrittene Philoſophie und die tragiſche
Poeſie, wo ſie höhere, ſittliche Formen des Tragiſchen behandelte und

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[302/0316] muß in dieſer Schönheit auch Kraft ſeyn, wie in Adonis, in Achilles, und wie Herrſchaft und Reichthum auch in die Sphäre der Kraft fallen. Ueberhaupt kann man das Ganze auch ſo ausdrücken: das Tragiſche tritt hier, wie das ſubjectiv Erhabene, zunächſt wieder als Kraft auf. Wie nämlich das untergehende Subject, ſo erſcheint auch das dieſen Untergang bewirkende abſolut Erhabene noch als blinde Kraft. In dieſem dunkeln Grunde ſchlummert allerdings bereits das Sittliche, denn von großem Glück und Glanz iſt zur ὕβρις ebenſo nur ein Schritt, wie von großer Tugend zu den Fehltritten, die aus der concentrirten Energie ihrer noth- wendigen Beſchränkung fließen. In der Schrift des Verf. über das Er- habene und Komiſche iſt nachgewieſen, daß in den von Herodot erzählten Fällen, welche beſonders ſchlagende Beiſpiele dieſer Gattung an die Hand geben, wie von Kröſus und Polykrates, noch keineswegs ὕβρις da iſt, ſondern vor ihr gewarnt wird, weil die Gottheit neidiſch ſey (S. 99 ff.). Die Schuld bleibt daher Urſchuld, mögliche Schuld. Ebenſo kommt das Uebel vom Naturgeſetz, nicht vom beleidigten Sittengeſetz. Den Adonis tödtet ein Eber, Achill fällt zwar durch Meuchelmord und hat Schuld gegen die Troer, doch dies tritt, wenn ſein früher Tod beweint wird, nicht in’s Bewußtſeyn. Der Untergang kommt alſo vom Zufall; allein es iſt nicht der ſinnlos ſtörende Zufall (§. 40), der in §. 53 einer beſonderen Weiſe äſthetiſcher Aufhebung zugewieſen iſt; denn er ſtört keinen ſittlichen Zu- ſammenhang, ſondern das ſinnliche Glück gehört eben in die Sphäre, wo auch das Unglück herrſcht, und muß ſich auf dergleichen gefaßt machen. Wer lebt, muß ſterben. Darin liegt auch der Troſt. Es iſt das einfache Geſetz des Verhältniſſes zwiſchen Individuum und Gattung, daß dieſe bleibt, jenes vergeht, was durch irgend einen Zufall vollſtreckt wird. Dagegen iſt nicht zu murren. Schiller ſagte kurz vor ſeinem Tode: der Tod kann kein Uebel ſeyn, weil er etwas Allgemeines iſt. Geht ein ſchöner Theil des Lebens verloren, ſo iſt auch die langſame Erſchöpfung nicht empfunden worden. „In der Jugend ſterben, iſt auch ſchön.“ Es iſt nur das allgemeine Schickſal, das ſich aber da markirt, wo die Lebenskraft hervorleuchtet und wo man daher den Fall nicht erwartete. Dies nannten die Griechen Neid der Götter. Vergl. beſonders Herodot 1, 32. 7, 10. Hegel nennt es (Rel.-Philoſ. Th. 2, S. 90) ein Nivelliren. Die Griechen kannten wohl ein höheres tragiſches Geſetz, aber ſie mußten ſich, da ihre Religion Natur-Religion war, für dieſe Erſcheinung, das Natur-Tragiſche, be- beſonders intereſſiren. Erſt die vorgeſchrittene Philoſophie und die tragiſche Poeſie, wo ſie höhere, ſittliche Formen des Tragiſchen behandelte und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/316>, abgerufen am 19.04.2024.