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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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2. Es ist bedingt ausgedrückt: "Eignet sich" u. s. w., um einer
Form des Tragischen Raum zu lassen, wo der böse Wille mit seinem
Werk untergeht, ohne seine Schuld anders als mit Murren anzuerken-
nen. Die Schuld ist bis hieher zwar immer nur als eine Trübung,
Verletzung, Vereinzelung bezeichnet, wodurch die völlige Verkehrung, das
Böse, ausgeschlossen scheint. Um jedoch diesem Raum zu lassen -- denn
es muß als eine besondere Weise der tragischen Schuld allerdings auf's
Neue hervortreten --, erinnere man sich zunächst nur, daß auch der
tragische Bösewicht ein geschichtliches Recht, freilich in anderem Sinne,
als in welchem er es in Anspruch nimmt, haben muß. Die vorliegende
allgemeine Betrachtung des Tragischen verweilt aber, um das Wesent-
liche, die Versöhnung, an dem bedeutendsten Falle, nämlich dem Unter-
gange des Guten, nachzuweisen, bei dem Untergange des sittlich streben-
den Subjects. Dieses nun sieht, unterliegend, nicht nur die siegreiche
Fortdauer seines Werks voraus, sondern es wird auch im Tode zu einer
verklärten Gestalt, welche verewigt über ihrem Grabe schwebt. Sie ist
als unvergeßliches Bild aufgenommen in das Leben der Idee und es
tritt die Schluß-Empfindung ein, daß diese als absolutes Subject selbst
ewig doch nur durch einzelne Subjecte wirkt und daher das von seiner
Endlichkeit gereinigte Subject in dem Ahnen-Saal ihrer unsterblichen
Monumente aufstellt.

3. Solger hat die ganze Bewegung des Tragischen nur in den
allgemeinsten Zügen dargestellt und da nun, sobald man das Ganze
vor Augen hat, das Resultat des negativen Prozesses als ein positives
zu begreifen ist, so hat er allerdings Unrecht gethan, dieses Ganze
durch Ironie zu bezeichnen. Dies hat seinen letzten Grund in
einem tieferen Mangel seines Philosophirens. Solger setzt nämlich
den Begriff des Tragischen darein, daß nicht blos die äußere Erscheinung,
sondern die Idee, das Schöne selbst untergehe, weil sie nämlich in die
Widersprüche und Gegensätze des Lebens herabgezogen war. Gerade
das Höchste und Edelste in uns müsse untergehen, weil die Idee nicht
existiren könne, ohne Gegensatz zu seyn; eben der Moment der Ver-
nichtung nun sey die Offenbarung der göttlichen Idee. (Vorles. S.
94 -- 98. vergl. Erwin Th. 1, S. 256 ff.) Die Ironie nun ist ihm
zunächst subjectiv eine Kraft und Stimmung des künstlerischen Geistes.
Sie ist "die Verfassung des Gemüths, worin wir erkennen, daß
unsere Wirklichkeit nicht seyn würde, wenn sie nicht Offenbarung der
Idee wäre, daß aber ebendarum mit dieser Wirklichkeit auch die Idee

2. Es iſt bedingt ausgedrückt: „Eignet ſich“ u. ſ. w., um einer
Form des Tragiſchen Raum zu laſſen, wo der böſe Wille mit ſeinem
Werk untergeht, ohne ſeine Schuld anders als mit Murren anzuerken-
nen. Die Schuld iſt bis hieher zwar immer nur als eine Trübung,
Verletzung, Vereinzelung bezeichnet, wodurch die völlige Verkehrung, das
Böſe, ausgeſchloſſen ſcheint. Um jedoch dieſem Raum zu laſſen — denn
es muß als eine beſondere Weiſe der tragiſchen Schuld allerdings auf’s
Neue hervortreten —, erinnere man ſich zunächſt nur, daß auch der
tragiſche Böſewicht ein geſchichtliches Recht, freilich in anderem Sinne,
als in welchem er es in Anſpruch nimmt, haben muß. Die vorliegende
allgemeine Betrachtung des Tragiſchen verweilt aber, um das Weſent-
liche, die Verſöhnung, an dem bedeutendſten Falle, nämlich dem Unter-
gange des Guten, nachzuweiſen, bei dem Untergange des ſittlich ſtreben-
den Subjects. Dieſes nun ſieht, unterliegend, nicht nur die ſiegreiche
Fortdauer ſeines Werks voraus, ſondern es wird auch im Tode zu einer
verklärten Geſtalt, welche verewigt über ihrem Grabe ſchwebt. Sie iſt
als unvergeßliches Bild aufgenommen in das Leben der Idee und es
tritt die Schluß-Empfindung ein, daß dieſe als abſolutes Subject ſelbſt
ewig doch nur durch einzelne Subjecte wirkt und daher das von ſeiner
Endlichkeit gereinigte Subject in dem Ahnen-Saal ihrer unſterblichen
Monumente aufſtellt.

3. Solger hat die ganze Bewegung des Tragiſchen nur in den
allgemeinſten Zügen dargeſtellt und da nun, ſobald man das Ganze
vor Augen hat, das Reſultat des negativen Prozeſſes als ein poſitives
zu begreifen iſt, ſo hat er allerdings Unrecht gethan, dieſes Ganze
durch Ironie zu bezeichnen. Dies hat ſeinen letzten Grund in
einem tieferen Mangel ſeines Philoſophirens. Solger ſetzt nämlich
den Begriff des Tragiſchen darein, daß nicht blos die äußere Erſcheinung,
ſondern die Idee, das Schöne ſelbſt untergehe, weil ſie nämlich in die
Widerſprüche und Gegenſätze des Lebens herabgezogen war. Gerade
das Höchſte und Edelſte in uns müſſe untergehen, weil die Idee nicht
exiſtiren könne, ohne Gegenſatz zu ſeyn; eben der Moment der Ver-
nichtung nun ſey die Offenbarung der göttlichen Idee. (Vorleſ. S.
94 — 98. vergl. Erwin Th. 1, S. 256 ff.) Die Ironie nun iſt ihm
zunächſt ſubjectiv eine Kraft und Stimmung des künſtleriſchen Geiſtes.
Sie iſt „die Verfaſſung des Gemüths, worin wir erkennen, daß
unſere Wirklichkeit nicht ſeyn würde, wenn ſie nicht Offenbarung der
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[293/0307] 2. Es iſt bedingt ausgedrückt: „Eignet ſich“ u. ſ. w., um einer Form des Tragiſchen Raum zu laſſen, wo der böſe Wille mit ſeinem Werk untergeht, ohne ſeine Schuld anders als mit Murren anzuerken- nen. Die Schuld iſt bis hieher zwar immer nur als eine Trübung, Verletzung, Vereinzelung bezeichnet, wodurch die völlige Verkehrung, das Böſe, ausgeſchloſſen ſcheint. Um jedoch dieſem Raum zu laſſen — denn es muß als eine beſondere Weiſe der tragiſchen Schuld allerdings auf’s Neue hervortreten —, erinnere man ſich zunächſt nur, daß auch der tragiſche Böſewicht ein geſchichtliches Recht, freilich in anderem Sinne, als in welchem er es in Anſpruch nimmt, haben muß. Die vorliegende allgemeine Betrachtung des Tragiſchen verweilt aber, um das Weſent- liche, die Verſöhnung, an dem bedeutendſten Falle, nämlich dem Unter- gange des Guten, nachzuweiſen, bei dem Untergange des ſittlich ſtreben- den Subjects. Dieſes nun ſieht, unterliegend, nicht nur die ſiegreiche Fortdauer ſeines Werks voraus, ſondern es wird auch im Tode zu einer verklärten Geſtalt, welche verewigt über ihrem Grabe ſchwebt. Sie iſt als unvergeßliches Bild aufgenommen in das Leben der Idee und es tritt die Schluß-Empfindung ein, daß dieſe als abſolutes Subject ſelbſt ewig doch nur durch einzelne Subjecte wirkt und daher das von ſeiner Endlichkeit gereinigte Subject in dem Ahnen-Saal ihrer unſterblichen Monumente aufſtellt. 3. Solger hat die ganze Bewegung des Tragiſchen nur in den allgemeinſten Zügen dargeſtellt und da nun, ſobald man das Ganze vor Augen hat, das Reſultat des negativen Prozeſſes als ein poſitives zu begreifen iſt, ſo hat er allerdings Unrecht gethan, dieſes Ganze durch Ironie zu bezeichnen. Dies hat ſeinen letzten Grund in einem tieferen Mangel ſeines Philoſophirens. Solger ſetzt nämlich den Begriff des Tragiſchen darein, daß nicht blos die äußere Erſcheinung, ſondern die Idee, das Schöne ſelbſt untergehe, weil ſie nämlich in die Widerſprüche und Gegenſätze des Lebens herabgezogen war. Gerade das Höchſte und Edelſte in uns müſſe untergehen, weil die Idee nicht exiſtiren könne, ohne Gegenſatz zu ſeyn; eben der Moment der Ver- nichtung nun ſey die Offenbarung der göttlichen Idee. (Vorleſ. S. 94 — 98. vergl. Erwin Th. 1, S. 256 ff.) Die Ironie nun iſt ihm zunächſt ſubjectiv eine Kraft und Stimmung des künſtleriſchen Geiſtes. Sie iſt „die Verfaſſung des Gemüths, worin wir erkennen, daß unſere Wirklichkeit nicht ſeyn würde, wenn ſie nicht Offenbarung der Idee wäre, daß aber ebendarum mit dieſer Wirklichkeit auch die Idee

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/307>, abgerufen am 28.03.2024.