Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

begriff von dem Gegenstande aufgestellt und die Form desselben als mit
diesem Begriffe übereinstimmend beurtheilt, so ist dies das teleologische
Verhalten der Urtheilskraft. Dies ist ein objectives Verhalten, objectiv
nicht in dem Sinne einer sächlichen Wahrheit, sondern ebenfalls nur
einer Betrachtungsweise, welche der Natur einen zweckthätigen Verstand,
"gleichsam eine Rücksicht auf unser Erkenntnißvermögen nach der Analogie
eines Zwecks" unterlegt, objectiv aber, weil ein bestimmter Zweck auf-
gestellt wird. Es ist ein absichtliches, logisches Verfahren, wobei die
subjective Beziehung auf Lust und Unlust wegfällt und nur Verstand und
Vernunft betheiligt sind. Diese Gesetzgebung entscheidet durch Ueber-
einstimmung mit Begriffen, jene durch das Gefühl; dort formales, hier
reales Prinzip der Zweckmäßigkeit.

Eigentlich nun gehört, wie Kant selbst es ausspricht, die teleologische
Urtheilskraft zur theoretischen Philosophie, denn sie bestimmt zwar keine
Objecte, sondern reflectirt blos, aber sie verfährt nach Begriffen, die sie
nach ihren besondern Principien auf gewisse Gegenstände der Natur an-
wendet; die ästhetische aber, da sie zur Erkenntniß ihrer Gegenstände
nichts beiträgt, gehört streng genommen nur zur Kritik des urtheilenden
Subjects und der Erkenntniß-Vermögen, d. h. zur Propädeutik. Demnach
müßte Kant auf die Stellung der Aesthetik zurückkommen, welche wir bei
Baumgarten fanden. Er hat nun aber seine besonderen Gründe, dieses
Gebiet (nicht blos der ästhetischen, sondern auch der teleologischen Urtheils-
kraft) in die Mitte zwischen die theoretische und praktische Philosophie zu
stellen. Der Hauptgrund ist zu Anfang dieser Darstellung bereits aus-
gesprochen: er sucht die Kluft zwischen dem Naturbegriff und dem Freiheits-
begriff, "die große Kluft, welche das Uebersinnliche von den Erscheinungen
trennt", zu überwinden, er sucht ein Band zwischen der Natur-Causalität
und der Causalität durch Freiheit. Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe
ist der Endzweck, der absolute Zweck. Dieser soll existiren, er soll durch-
geführt werden in der Sinnenwelt, die Natur muß daher gedacht werden,
als sey sie fähig, ihn in sich aufzunehmen, als komme sie ihm entgegen. Der
Verstand in seiner stricten Bedeutung setzt ein übersinnliches Substrat hinter
der Erscheinung voraus, läßt es aber völlig unbestimmt; die Urtheilskraft
nun aber ist es, welche dieses Substrat näher bestimmt durch den Zweck-
begriff: und so trifft der handelnde Geist in der Natur den verwandten
Geist und kann seine Zwecke in ihr durchführen, weil sie selbst zweckmäßig
organisirt ist. Diese Bedeutung als vermittelndes Glied kommt aber der
Urtheilskraft noch aus einem weiteren Grunde zu: sie ist das constitutive

begriff von dem Gegenſtande aufgeſtellt und die Form deſſelben als mit
dieſem Begriffe übereinſtimmend beurtheilt, ſo iſt dies das teleologiſche
Verhalten der Urtheilskraft. Dies iſt ein objectives Verhalten, objectiv
nicht in dem Sinne einer ſächlichen Wahrheit, ſondern ebenfalls nur
einer Betrachtungsweiſe, welche der Natur einen zweckthätigen Verſtand,
„gleichſam eine Rückſicht auf unſer Erkenntnißvermögen nach der Analogie
eines Zwecks“ unterlegt, objectiv aber, weil ein beſtimmter Zweck auf-
geſtellt wird. Es iſt ein abſichtliches, logiſches Verfahren, wobei die
ſubjective Beziehung auf Luſt und Unluſt wegfällt und nur Verſtand und
Vernunft betheiligt ſind. Dieſe Geſetzgebung entſcheidet durch Ueber-
einſtimmung mit Begriffen, jene durch das Gefühl; dort formales, hier
reales Prinzip der Zweckmäßigkeit.

Eigentlich nun gehört, wie Kant ſelbſt es ausſpricht, die teleologiſche
Urtheilskraft zur theoretiſchen Philoſophie, denn ſie beſtimmt zwar keine
Objecte, ſondern reflectirt blos, aber ſie verfährt nach Begriffen, die ſie
nach ihren beſondern Principien auf gewiſſe Gegenſtände der Natur an-
wendet; die äſthetiſche aber, da ſie zur Erkenntniß ihrer Gegenſtände
nichts beiträgt, gehört ſtreng genommen nur zur Kritik des urtheilenden
Subjects und der Erkenntniß-Vermögen, d. h. zur Propädeutik. Demnach
müßte Kant auf die Stellung der Aeſthetik zurückkommen, welche wir bei
Baumgarten fanden. Er hat nun aber ſeine beſonderen Gründe, dieſes
Gebiet (nicht blos der äſthetiſchen, ſondern auch der teleologiſchen Urtheils-
kraft) in die Mitte zwiſchen die theoretiſche und praktiſche Philoſophie zu
ſtellen. Der Hauptgrund iſt zu Anfang dieſer Darſtellung bereits aus-
geſprochen: er ſucht die Kluft zwiſchen dem Naturbegriff und dem Freiheits-
begriff, „die große Kluft, welche das Ueberſinnliche von den Erſcheinungen
trennt“, zu überwinden, er ſucht ein Band zwiſchen der Natur-Cauſalität
und der Cauſalität durch Freiheit. Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe
iſt der Endzweck, der abſolute Zweck. Dieſer ſoll exiſtiren, er ſoll durch-
geführt werden in der Sinnenwelt, die Natur muß daher gedacht werden,
als ſey ſie fähig, ihn in ſich aufzunehmen, als komme ſie ihm entgegen. Der
Verſtand in ſeiner ſtricten Bedeutung ſetzt ein überſinnliches Subſtrat hinter
der Erſcheinung voraus, läßt es aber völlig unbeſtimmt; die Urtheilskraft
nun aber iſt es, welche dieſes Subſtrat näher beſtimmt durch den Zweck-
begriff: und ſo trifft der handelnde Geiſt in der Natur den verwandten
Geiſt und kann ſeine Zwecke in ihr durchführen, weil ſie ſelbſt zweckmäßig
organiſirt iſt. Dieſe Bedeutung als vermittelndes Glied kommt aber der
Urtheilskraft noch aus einem weiteren Grunde zu: ſie iſt das conſtitutive

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0030" n="16"/>
begriff von dem Gegen&#x017F;tande aufge&#x017F;tellt und die Form de&#x017F;&#x017F;elben als mit<lb/>
die&#x017F;em Begriffe überein&#x017F;timmend beurtheilt, &#x017F;o i&#x017F;t dies das <hi rendition="#g">teleologi&#x017F;che</hi><lb/>
Verhalten der Urtheilskraft. Dies i&#x017F;t ein objectives Verhalten, objectiv<lb/>
nicht in dem Sinne einer &#x017F;ächlichen Wahrheit, &#x017F;ondern ebenfalls nur<lb/>
einer Betrachtungswei&#x017F;e, welche der Natur einen zweckthätigen Ver&#x017F;tand,<lb/>
&#x201E;gleich&#x017F;am eine Rück&#x017F;icht auf un&#x017F;er Erkenntnißvermögen nach der Analogie<lb/>
eines Zwecks&#x201C; unterlegt, objectiv aber, weil ein be&#x017F;timmter Zweck auf-<lb/>
ge&#x017F;tellt wird. Es i&#x017F;t ein ab&#x017F;ichtliches, logi&#x017F;ches Verfahren, wobei die<lb/>
&#x017F;ubjective Beziehung auf Lu&#x017F;t und Unlu&#x017F;t wegfällt und nur Ver&#x017F;tand und<lb/>
Vernunft betheiligt &#x017F;ind. Die&#x017F;e Ge&#x017F;etzgebung ent&#x017F;cheidet durch Ueber-<lb/>
ein&#x017F;timmung mit Begriffen, jene durch das Gefühl; dort formales, hier<lb/>
reales Prinzip der Zweckmäßigkeit.</hi> </p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Eigentlich nun gehört, wie <hi rendition="#g">Kant</hi> &#x017F;elb&#x017F;t es aus&#x017F;pricht, die teleologi&#x017F;che<lb/>
Urtheilskraft zur theoreti&#x017F;chen Philo&#x017F;ophie, denn &#x017F;ie be&#x017F;timmt zwar keine<lb/>
Objecte, &#x017F;ondern reflectirt blos, aber &#x017F;ie verfährt nach Begriffen, die &#x017F;ie<lb/>
nach ihren be&#x017F;ondern Principien auf gewi&#x017F;&#x017F;e Gegen&#x017F;tände der Natur an-<lb/>
wendet; die ä&#x017F;theti&#x017F;che aber, da &#x017F;ie zur Erkenntniß ihrer Gegen&#x017F;tände<lb/>
nichts beiträgt, gehört &#x017F;treng genommen nur zur Kritik des urtheilenden<lb/>
Subjects und der Erkenntniß-Vermögen, d. h. zur Propädeutik. Demnach<lb/>
müßte <hi rendition="#g">Kant</hi> auf die Stellung der Ae&#x017F;thetik zurückkommen, welche wir bei<lb/><hi rendition="#g">Baumgarten</hi> fanden. Er hat nun aber &#x017F;eine be&#x017F;onderen Gründe, die&#x017F;es<lb/>
Gebiet (nicht blos der ä&#x017F;theti&#x017F;chen, &#x017F;ondern auch der teleologi&#x017F;chen Urtheils-<lb/>
kraft) in die Mitte zwi&#x017F;chen die theoreti&#x017F;che und prakti&#x017F;che Philo&#x017F;ophie zu<lb/>
&#x017F;tellen. Der Hauptgrund i&#x017F;t zu Anfang die&#x017F;er Dar&#x017F;tellung bereits aus-<lb/>
ge&#x017F;prochen: er &#x017F;ucht die Kluft zwi&#x017F;chen dem Naturbegriff und dem Freiheits-<lb/>
begriff, &#x201E;die große Kluft, welche das Ueber&#x017F;innliche von den Er&#x017F;cheinungen<lb/>
trennt&#x201C;, zu überwinden, er &#x017F;ucht ein Band zwi&#x017F;chen der Natur-Cau&#x017F;alität<lb/>
und der Cau&#x017F;alität durch Freiheit. Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe<lb/>
i&#x017F;t der Endzweck, der ab&#x017F;olute Zweck. Die&#x017F;er &#x017F;oll exi&#x017F;tiren, er &#x017F;oll durch-<lb/>
geführt werden in der Sinnenwelt, die Natur muß daher gedacht werden,<lb/>
als &#x017F;ey &#x017F;ie fähig, ihn in &#x017F;ich aufzunehmen, als komme &#x017F;ie ihm entgegen. Der<lb/>
Ver&#x017F;tand in &#x017F;einer &#x017F;tricten Bedeutung &#x017F;etzt ein über&#x017F;innliches Sub&#x017F;trat hinter<lb/>
der Er&#x017F;cheinung voraus, läßt es aber völlig unbe&#x017F;timmt; die Urtheilskraft<lb/>
nun aber i&#x017F;t es, welche die&#x017F;es Sub&#x017F;trat näher be&#x017F;timmt durch den Zweck-<lb/>
begriff: und &#x017F;o trifft der handelnde Gei&#x017F;t in der Natur den verwandten<lb/>
Gei&#x017F;t und kann &#x017F;eine Zwecke in ihr durchführen, weil &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t zweckmäßig<lb/>
organi&#x017F;irt i&#x017F;t. Die&#x017F;e Bedeutung als vermittelndes Glied kommt aber der<lb/>
Urtheilskraft noch aus einem weiteren Grunde zu: &#x017F;ie i&#x017F;t das con&#x017F;titutive<lb/></hi> </p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0030] begriff von dem Gegenſtande aufgeſtellt und die Form deſſelben als mit dieſem Begriffe übereinſtimmend beurtheilt, ſo iſt dies das teleologiſche Verhalten der Urtheilskraft. Dies iſt ein objectives Verhalten, objectiv nicht in dem Sinne einer ſächlichen Wahrheit, ſondern ebenfalls nur einer Betrachtungsweiſe, welche der Natur einen zweckthätigen Verſtand, „gleichſam eine Rückſicht auf unſer Erkenntnißvermögen nach der Analogie eines Zwecks“ unterlegt, objectiv aber, weil ein beſtimmter Zweck auf- geſtellt wird. Es iſt ein abſichtliches, logiſches Verfahren, wobei die ſubjective Beziehung auf Luſt und Unluſt wegfällt und nur Verſtand und Vernunft betheiligt ſind. Dieſe Geſetzgebung entſcheidet durch Ueber- einſtimmung mit Begriffen, jene durch das Gefühl; dort formales, hier reales Prinzip der Zweckmäßigkeit. Eigentlich nun gehört, wie Kant ſelbſt es ausſpricht, die teleologiſche Urtheilskraft zur theoretiſchen Philoſophie, denn ſie beſtimmt zwar keine Objecte, ſondern reflectirt blos, aber ſie verfährt nach Begriffen, die ſie nach ihren beſondern Principien auf gewiſſe Gegenſtände der Natur an- wendet; die äſthetiſche aber, da ſie zur Erkenntniß ihrer Gegenſtände nichts beiträgt, gehört ſtreng genommen nur zur Kritik des urtheilenden Subjects und der Erkenntniß-Vermögen, d. h. zur Propädeutik. Demnach müßte Kant auf die Stellung der Aeſthetik zurückkommen, welche wir bei Baumgarten fanden. Er hat nun aber ſeine beſonderen Gründe, dieſes Gebiet (nicht blos der äſthetiſchen, ſondern auch der teleologiſchen Urtheils- kraft) in die Mitte zwiſchen die theoretiſche und praktiſche Philoſophie zu ſtellen. Der Hauptgrund iſt zu Anfang dieſer Darſtellung bereits aus- geſprochen: er ſucht die Kluft zwiſchen dem Naturbegriff und dem Freiheits- begriff, „die große Kluft, welche das Ueberſinnliche von den Erſcheinungen trennt“, zu überwinden, er ſucht ein Band zwiſchen der Natur-Cauſalität und der Cauſalität durch Freiheit. Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe iſt der Endzweck, der abſolute Zweck. Dieſer ſoll exiſtiren, er ſoll durch- geführt werden in der Sinnenwelt, die Natur muß daher gedacht werden, als ſey ſie fähig, ihn in ſich aufzunehmen, als komme ſie ihm entgegen. Der Verſtand in ſeiner ſtricten Bedeutung ſetzt ein überſinnliches Subſtrat hinter der Erſcheinung voraus, läßt es aber völlig unbeſtimmt; die Urtheilskraft nun aber iſt es, welche dieſes Subſtrat näher beſtimmt durch den Zweck- begriff: und ſo trifft der handelnde Geiſt in der Natur den verwandten Geiſt und kann ſeine Zwecke in ihr durchführen, weil ſie ſelbſt zweckmäßig organiſirt iſt. Dieſe Bedeutung als vermittelndes Glied kommt aber der Urtheilskraft noch aus einem weiteren Grunde zu: ſie iſt das conſtitutive

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/30
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/30>, abgerufen am 19.04.2024.