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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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zwei Formen: eine positive und eine stärkere negative. Diesen Dualismus im
Erhabenen bemerkt zu haben ist das Verdienst des Engländers Burke.

1. Daß das Erhabene sich als Quantität, im Gegensatz gegen das
Schöne als Qualität, bestimme, hat schon Kant (a. a. O. §. 23)
ausgesprochen, von welchem (§. 25) auch die Worte des §. entnommen
sind, daß erhaben schlechthin oder über alle Vergleichung groß sey, und nach
ihm hat dies Weiße (Aesth. §. 22) weiter geführt. Kants scharfsinnige
nähere Entwicklung der Bedingungen, unter welchen ein Gegenstand
nicht nur als groß, sondern als schlechthin groß erscheint (§. 26 "Von
der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen er-
forderlich ist") wird im Verlaufe aufgefaßt werden.

2. Burkes Schrift ist schon §. 36 angeführt. Er nennt die
negative Form des Erhabenen Privation. 2. Th. 7. Absch. "Alle gänz-
lichen Privationen sind groß, weil sie alle schrecklich sind" u. s. w. Er
hat freilich nicht streng genommen das Gesetz des Dualismus entdeckt,
er bringt es nicht zu diesem allgemeinen Ausdruck, und er übersieht das
Positive im Negativen, wovon sogleich die Rede wird, daher sich Solger
gegen ihn wendet (Aesth. S. 87).

§. 86.

1

Der Gegensatz dieser beiden Formen ist jedoch nur ein relativer. In beiden
nämlich ist die Negation nur eine Wirkung der positiven Thätigkeit der Idee, welche
(nach Solger) als ein Act lebendiger Bewegung allem Erhabenen zu Grunde
liegt, eine Bewegung, welche häufig, aber objectiv betrachtet keineswegs immer,
2sich als ein plötzliches Hervorbrechen darstellen muß. Die Negation selbst aber
ist nur scheinbar in der ersten, positiven Form eine engere, als in der zweiten,
negativen, denn sie erstreckt sich näher betrachtet auch in jener nicht nur auf die
Umgebung des erhabenen Gegenstands, sondern auch auf diesen als einen sinnlich
begrenzten selbst, indem es doch nur die Macht der in ihm thätigen Idee ist,
die seine Grenzen ausdehnt und zwar so weit, daß sie am Ende der ausdehnen-
den Macht nicht mehr folgen können, sondern dies ihr Gefäß zerbricht, wo
3denn die im engeren Sinne negative Form eintritt. Der Ausfluß der Negation
aus dem positiv Thätigen bleibt auch da in seiner Geltung, wo völlige Ruhe,
eine Abwesenheit des Lebens, die jedoch gemäß dem Gesetze alles Schönen selbst
noch sinnlich sich darstellen muß, in der erhabenen Erscheinung herrscht, denn in
dieser gibt sich entweder eine vorhergegangene oder eine mögliche und bevor-

zwei Formen: eine poſitive und eine ſtärkere negative. Dieſen Dualiſmus im
Erhabenen bemerkt zu haben iſt das Verdienſt des Engländers Burke.

1. Daß das Erhabene ſich als Quantität, im Gegenſatz gegen das
Schöne als Qualität, beſtimme, hat ſchon Kant (a. a. O. §. 23)
ausgeſprochen, von welchem (§. 25) auch die Worte des §. entnommen
ſind, daß erhaben ſchlechthin oder über alle Vergleichung groß ſey, und nach
ihm hat dies Weiße (Aeſth. §. 22) weiter geführt. Kants ſcharfſinnige
nähere Entwicklung der Bedingungen, unter welchen ein Gegenſtand
nicht nur als groß, ſondern als ſchlechthin groß erſcheint (§. 26 „Von
der Größenſchätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen er-
forderlich iſt“) wird im Verlaufe aufgefaßt werden.

2. Burkes Schrift iſt ſchon §. 36 angeführt. Er nennt die
negative Form des Erhabenen Privation. 2. Th. 7. Abſch. „Alle gänz-
lichen Privationen ſind groß, weil ſie alle ſchrecklich ſind“ u. ſ. w. Er
hat freilich nicht ſtreng genommen das Geſetz des Dualismus entdeckt,
er bringt es nicht zu dieſem allgemeinen Ausdruck, und er überſieht das
Poſitive im Negativen, wovon ſogleich die Rede wird, daher ſich Solger
gegen ihn wendet (Aeſth. S. 87).

§. 86.

1

Der Gegenſatz dieſer beiden Formen iſt jedoch nur ein relativer. In beiden
nämlich iſt die Negation nur eine Wirkung der poſitiven Thätigkeit der Idee, welche
(nach Solger) als ein Act lebendiger Bewegung allem Erhabenen zu Grunde
liegt, eine Bewegung, welche häufig, aber objectiv betrachtet keineswegs immer,
2ſich als ein plötzliches Hervorbrechen darſtellen muß. Die Negation ſelbſt aber
iſt nur ſcheinbar in der erſten, poſitiven Form eine engere, als in der zweiten,
negativen, denn ſie erſtreckt ſich näher betrachtet auch in jener nicht nur auf die
Umgebung des erhabenen Gegenſtands, ſondern auch auf dieſen als einen ſinnlich
begrenzten ſelbſt, indem es doch nur die Macht der in ihm thätigen Idee iſt,
die ſeine Grenzen ausdehnt und zwar ſo weit, daß ſie am Ende der ausdehnen-
den Macht nicht mehr folgen können, ſondern dies ihr Gefäß zerbricht, wo
3denn die im engeren Sinne negative Form eintritt. Der Ausfluß der Negation
aus dem poſitiv Thätigen bleibt auch da in ſeiner Geltung, wo völlige Ruhe,
eine Abweſenheit des Lebens, die jedoch gemäß dem Geſetze alles Schönen ſelbſt
noch ſinnlich ſich darſtellen muß, in der erhabenen Erſcheinung herrſcht, denn in
dieſer gibt ſich entweder eine vorhergegangene oder eine mögliche und bevor-

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[224/0238] zwei Formen: eine poſitive und eine ſtärkere negative. Dieſen Dualiſmus im Erhabenen bemerkt zu haben iſt das Verdienſt des Engländers Burke. 1. Daß das Erhabene ſich als Quantität, im Gegenſatz gegen das Schöne als Qualität, beſtimme, hat ſchon Kant (a. a. O. §. 23) ausgeſprochen, von welchem (§. 25) auch die Worte des §. entnommen ſind, daß erhaben ſchlechthin oder über alle Vergleichung groß ſey, und nach ihm hat dies Weiße (Aeſth. §. 22) weiter geführt. Kants ſcharfſinnige nähere Entwicklung der Bedingungen, unter welchen ein Gegenſtand nicht nur als groß, ſondern als ſchlechthin groß erſcheint (§. 26 „Von der Größenſchätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen er- forderlich iſt“) wird im Verlaufe aufgefaßt werden. 2. Burkes Schrift iſt ſchon §. 36 angeführt. Er nennt die negative Form des Erhabenen Privation. 2. Th. 7. Abſch. „Alle gänz- lichen Privationen ſind groß, weil ſie alle ſchrecklich ſind“ u. ſ. w. Er hat freilich nicht ſtreng genommen das Geſetz des Dualismus entdeckt, er bringt es nicht zu dieſem allgemeinen Ausdruck, und er überſieht das Poſitive im Negativen, wovon ſogleich die Rede wird, daher ſich Solger gegen ihn wendet (Aeſth. S. 87). §. 86. Der Gegenſatz dieſer beiden Formen iſt jedoch nur ein relativer. In beiden nämlich iſt die Negation nur eine Wirkung der poſitiven Thätigkeit der Idee, welche (nach Solger) als ein Act lebendiger Bewegung allem Erhabenen zu Grunde liegt, eine Bewegung, welche häufig, aber objectiv betrachtet keineswegs immer, ſich als ein plötzliches Hervorbrechen darſtellen muß. Die Negation ſelbſt aber iſt nur ſcheinbar in der erſten, poſitiven Form eine engere, als in der zweiten, negativen, denn ſie erſtreckt ſich näher betrachtet auch in jener nicht nur auf die Umgebung des erhabenen Gegenſtands, ſondern auch auf dieſen als einen ſinnlich begrenzten ſelbſt, indem es doch nur die Macht der in ihm thätigen Idee iſt, die ſeine Grenzen ausdehnt und zwar ſo weit, daß ſie am Ende der ausdehnen- den Macht nicht mehr folgen können, ſondern dies ihr Gefäß zerbricht, wo denn die im engeren Sinne negative Form eintritt. Der Ausfluß der Negation aus dem poſitiv Thätigen bleibt auch da in ſeiner Geltung, wo völlige Ruhe, eine Abweſenheit des Lebens, die jedoch gemäß dem Geſetze alles Schönen ſelbſt noch ſinnlich ſich darſtellen muß, in der erhabenen Erſcheinung herrſcht, denn in dieſer gibt ſich entweder eine vorhergegangene oder eine mögliche und bevor-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/238>, abgerufen am 28.03.2024.