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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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berechtigt ist, sobald er diesen in seiner Vollziehung stört (§. 78, 2), so ist er
dagegen an seinem Orte und in seiner Selbständigkeit nicht nur berechtigt, sondern
als Act der strengen Wahrheit nach §. 69 höher als der erste. Dieser Satz
kann nur dann Austoß erregen, wenn man, statt die Gebiete so auseinander-
zuhalten, meint, der zweite Act mache irgend einen Anspruch, an die Stelle des
ersten, rein ästhetischen, zu treten. Vielmehr gehört jener einer ganz andern Sphäre,
als der des Schönen an, und nur in diesem Zusammenhange, als eine besondere
Anwendung seiner ganzen Sphäre auf ein bestimmtes Object, ist er höher, weil
die ganze Sphäre höher ist. Seine Thätigkeit aber besteht darin, in einem
gegebenen Schönen zuerst die Idee zu ermitteln, ihre Momente (§. 21) aus-
einanderzulegen, hierauf nachzuweisen, wie der ästhetische Körper in seinen
Gliedern diesen Momenten entspricht, endlich aber dieses Entsprechen als eine
reine Durchdringung zu begreifen, so daß der Gehalt mit und in seiner Form
in einem Gedankenbau umgewandelt wird.

Der Satz dieses §. sollte geeignet seyn, manches landläufige Miß-
verständniß über die Bedeutung und die Ansprüche der Kunstkritik zu wider-
legen. Derselbe bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, nachdem schon
in §. 15, Anm. 1 Anlaß war, den Gemeinplatz der Enthusiasten, den
Weiße (Aesth. §. 9) vorbringt, zu widerlegen. In s. Abhandl.: "Das
Verhältniß der Philosophie der Kunst und der Kritik zum einzelnen Kunst-
werke" (Abhandl. zur Philos. d. Kunst) hat Rötscher nachgewiesen, daß
nur, solange die Philosophie der Kunst sich auf abstracte Reflexion be-
schränkte, die Kunst mehr gab, als der philosophirende Geist zu fassen
im Stande war, daß die ächte Kunstkritik das Kunstwerk zuerst zwar
decomponirt, um seine Idee zu finden, hierauf aber den Bau herstellt und
die Idee in ihre Form verfolgt, die in ihrem vollen Rechte anerkannt wird.
Nur darin hat er nicht scharf genug getrennt, daß er den Genuß, der dieses
Thun begleitet, als eine Vollendung des ersten, rein ästhetischen Genusses
betrachtet. Es ist vielmehr ein Genuß ganz anderer Art und man darf von
dem letzteren nicht sagen, daß hier "mehr nur der Stoff in seiner unmittel-
baren Gewalt uns ergreife, in seiner ganzen Organisation aber noch gar
nicht zu dem Unsrigen werde" (a. a. O. S. 20). Der wahre ästhetische
Genuß ist ganz und nimmt mit dem Stoffe auch seine Organisation auf;
dieser ganze Genuß ist auf seinem Boden vollkommener als der Act des
Kunstphilosophen, wenn er auf diesen Boden sich eindrängt
(§. 78, 2). Allein er ist nicht der einzige, er löst sich auf, wie Rötscher

berechtigt iſt, ſobald er dieſen in ſeiner Vollziehung ſtört (§. 78, 2), ſo iſt er
dagegen an ſeinem Orte und in ſeiner Selbſtändigkeit nicht nur berechtigt, ſondern
als Act der ſtrengen Wahrheit nach §. 69 höher als der erſte. Dieſer Satz
kann nur dann Auſtoß erregen, wenn man, ſtatt die Gebiete ſo auseinander-
zuhalten, meint, der zweite Act mache irgend einen Anſpruch, an die Stelle des
erſten, rein äſthetiſchen, zu treten. Vielmehr gehört jener einer ganz andern Sphäre,
als der des Schönen an, und nur in dieſem Zuſammenhange, als eine beſondere
Anwendung ſeiner ganzen Sphäre auf ein beſtimmtes Object, iſt er höher, weil
die ganze Sphäre höher iſt. Seine Thätigkeit aber beſteht darin, in einem
gegebenen Schönen zuerſt die Idee zu ermitteln, ihre Momente (§. 21) aus-
einanderzulegen, hierauf nachzuweiſen, wie der äſthetiſche Körper in ſeinen
Gliedern dieſen Momenten entſpricht, endlich aber dieſes Entſprechen als eine
reine Durchdringung zu begreifen, ſo daß der Gehalt mit und in ſeiner Form
in einem Gedankenbau umgewandelt wird.

Der Satz dieſes §. ſollte geeignet ſeyn, manches landläufige Miß-
verſtändniß über die Bedeutung und die Anſprüche der Kunſtkritik zu wider-
legen. Derſelbe bedarf keiner weiteren Auseinanderſetzung, nachdem ſchon
in §. 15, Anm. 1 Anlaß war, den Gemeinplatz der Enthuſiaſten, den
Weiße (Aeſth. §. 9) vorbringt, zu widerlegen. In ſ. Abhandl.: „Das
Verhältniß der Philoſophie der Kunſt und der Kritik zum einzelnen Kunſt-
werke“ (Abhandl. zur Philoſ. d. Kunſt) hat Rötſcher nachgewieſen, daß
nur, ſolange die Philoſophie der Kunſt ſich auf abſtracte Reflexion be-
ſchränkte, die Kunſt mehr gab, als der philoſophirende Geiſt zu faſſen
im Stande war, daß die ächte Kunſtkritik das Kunſtwerk zuerſt zwar
decomponirt, um ſeine Idee zu finden, hierauf aber den Bau herſtellt und
die Idee in ihre Form verfolgt, die in ihrem vollen Rechte anerkannt wird.
Nur darin hat er nicht ſcharf genug getrennt, daß er den Genuß, der dieſes
Thun begleitet, als eine Vollendung des erſten, rein äſthetiſchen Genuſſes
betrachtet. Es iſt vielmehr ein Genuß ganz anderer Art und man darf von
dem letzteren nicht ſagen, daß hier „mehr nur der Stoff in ſeiner unmittel-
baren Gewalt uns ergreife, in ſeiner ganzen Organiſation aber noch gar
nicht zu dem Unſrigen werde“ (a. a. O. S. 20). Der wahre äſthetiſche
Genuß iſt ganz und nimmt mit dem Stoffe auch ſeine Organiſation auf;
dieſer ganze Genuß iſt auf ſeinem Boden vollkommener als der Act des
Kunſtphiloſophen, wenn er auf dieſen Boden ſich eindrängt
(§. 78, 2). Allein er iſt nicht der einzige, er löst ſich auf, wie Rötſcher

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[212/0226] berechtigt iſt, ſobald er dieſen in ſeiner Vollziehung ſtört (§. 78, 2), ſo iſt er dagegen an ſeinem Orte und in ſeiner Selbſtändigkeit nicht nur berechtigt, ſondern als Act der ſtrengen Wahrheit nach §. 69 höher als der erſte. Dieſer Satz kann nur dann Auſtoß erregen, wenn man, ſtatt die Gebiete ſo auseinander- zuhalten, meint, der zweite Act mache irgend einen Anſpruch, an die Stelle des erſten, rein äſthetiſchen, zu treten. Vielmehr gehört jener einer ganz andern Sphäre, als der des Schönen an, und nur in dieſem Zuſammenhange, als eine beſondere Anwendung ſeiner ganzen Sphäre auf ein beſtimmtes Object, iſt er höher, weil die ganze Sphäre höher iſt. Seine Thätigkeit aber beſteht darin, in einem gegebenen Schönen zuerſt die Idee zu ermitteln, ihre Momente (§. 21) aus- einanderzulegen, hierauf nachzuweiſen, wie der äſthetiſche Körper in ſeinen Gliedern dieſen Momenten entſpricht, endlich aber dieſes Entſprechen als eine reine Durchdringung zu begreifen, ſo daß der Gehalt mit und in ſeiner Form in einem Gedankenbau umgewandelt wird. Der Satz dieſes §. ſollte geeignet ſeyn, manches landläufige Miß- verſtändniß über die Bedeutung und die Anſprüche der Kunſtkritik zu wider- legen. Derſelbe bedarf keiner weiteren Auseinanderſetzung, nachdem ſchon in §. 15, Anm. 1 Anlaß war, den Gemeinplatz der Enthuſiaſten, den Weiße (Aeſth. §. 9) vorbringt, zu widerlegen. In ſ. Abhandl.: „Das Verhältniß der Philoſophie der Kunſt und der Kritik zum einzelnen Kunſt- werke“ (Abhandl. zur Philoſ. d. Kunſt) hat Rötſcher nachgewieſen, daß nur, ſolange die Philoſophie der Kunſt ſich auf abſtracte Reflexion be- ſchränkte, die Kunſt mehr gab, als der philoſophirende Geiſt zu faſſen im Stande war, daß die ächte Kunſtkritik das Kunſtwerk zuerſt zwar decomponirt, um ſeine Idee zu finden, hierauf aber den Bau herſtellt und die Idee in ihre Form verfolgt, die in ihrem vollen Rechte anerkannt wird. Nur darin hat er nicht ſcharf genug getrennt, daß er den Genuß, der dieſes Thun begleitet, als eine Vollendung des erſten, rein äſthetiſchen Genuſſes betrachtet. Es iſt vielmehr ein Genuß ganz anderer Art und man darf von dem letzteren nicht ſagen, daß hier „mehr nur der Stoff in ſeiner unmittel- baren Gewalt uns ergreife, in ſeiner ganzen Organiſation aber noch gar nicht zu dem Unſrigen werde“ (a. a. O. S. 20). Der wahre äſthetiſche Genuß iſt ganz und nimmt mit dem Stoffe auch ſeine Organiſation auf; dieſer ganze Genuß iſt auf ſeinem Boden vollkommener als der Act des Kunſtphiloſophen, wenn er auf dieſen Boden ſich eindrängt (§. 78, 2). Allein er iſt nicht der einzige, er löst ſich auf, wie Rötſcher

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/226>, abgerufen am 20.04.2024.