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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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bekommt durch diesen Begriff, wiewohl er keine objective Geltung hat,
doch Gültigkeit für jedermann, weil der Bestimmungsgrund dessel-
ben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als
das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden
kann
"; d. h. für uns: die Idee im schönen Object und im Subject
ist dieselbe, es ist die absolute Idee von Natur und Geist. -- Ein
Philosoph, der so tiefe Ahnungen ausspricht, durfte nicht flüchtig über-
gangen werden.

Der Inhalt des §. ist durch diese Kritik der Kantischen Begriffe
zugleich positiv entwickelt. Anzuführen ist noch, daß ja in der nächsten
Nachbarschaft des Schönen eine Idee thätig ist, die ebenso ohne Begriff als
Macht wirkt und doch ganz begriffmäßig ist: das Gute. Was den Unterschied
des Guten vom Schönen ausmacht, das Kategorische nämlich, beweist nur um
so mehr: denn wenn auch das strenge Gesetz als Macht der Empfindung
wirkt, so erhellt, daß das Unmittelbare in der Form, wie ein Geistiges
auftritt, nimmermehr ein Beweis ist, daß es nicht durch Begriffe zu
bestimmen sey. Das Gute wird auch von Kant ganz als Begriffs-
mäßiges aufgefaßt, nur zu sehr, so daß freilich seine Kraft der Unmittel-
barkeit nicht einleuchtet. -- Wenn nun vom Schönen gesagt ist, daß es
persönlich sey und daher mit der Persönlichkeit in Rapport treten müsse, --
und so gewiß ist dies, wie, daß Feuer Brennstoff entzündet --, wenn
dies Zusammengehen ganz unmittelbar ist, weil eben im Schönen alle
trennenden Vermittlungen erlöschen, so sind nur die Ursachen des häufigen
Ausbleibens der Wirkung des Schönen, also der Uebereinstimmung
der Urtheile noch kurz in's Auge zu fassen. Wir machen in unserem
Urtheile über das Schöne durchaus keine Umstände. Wem Raphael,
Sophokles, Shakespeare
nicht gefällt, dem räumen wir durchaus
nichts ein, sondern erklären ihn entweder für stumpf oder für ungebildet.
Von totaler Stumpfheit ist hier nicht die Rede, denn diese fragen wir
überhaupt nicht nach ihrem Urtheil; aber es gibt einseitige Naturen, die
in gegensätzlichen Thätigkeiten stark, aber eben dahin, wo die Kräfte am
reinsten in Eins fließen, zum Schönen nämlich, sehr mangelhaft organisirt
sind. Wie dies zu erklären sey, geht uns hier nichts an; genug, wenn
diese Einseitigkeit als Einseitigkeit erkannt ist, und sie ist es nach allem
Bisherigen. Allein ob solche Einseitigkeit stattfinde, ist äußerst schwer zu
ermitteln, denn in den meisten Fällen wird sie sich als Einseitigkeit nicht
der Organisation, sondern der Bildung aufzeigen lassen. Die zwei Sätze
nun, daß das Schöne ganz unmittelbar genossen werde und daß es Bildung

bekommt durch dieſen Begriff, wiewohl er keine objective Geltung hat,
doch Gültigkeit für jedermann, weil der Beſtimmungsgrund desſel-
ben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als
das überſinnliche Subſtrat der Menſchheit angeſehen werden
kann
“; d. h. für uns: die Idee im ſchönen Object und im Subject
iſt dieſelbe, es iſt die abſolute Idee von Natur und Geiſt. — Ein
Philoſoph, der ſo tiefe Ahnungen ausſpricht, durfte nicht flüchtig über-
gangen werden.

Der Inhalt des §. iſt durch dieſe Kritik der Kantiſchen Begriffe
zugleich poſitiv entwickelt. Anzuführen iſt noch, daß ja in der nächſten
Nachbarſchaft des Schönen eine Idee thätig iſt, die ebenſo ohne Begriff als
Macht wirkt und doch ganz begriffmäßig iſt: das Gute. Was den Unterſchied
des Guten vom Schönen ausmacht, das Kategoriſche nämlich, beweist nur um
ſo mehr: denn wenn auch das ſtrenge Geſetz als Macht der Empfindung
wirkt, ſo erhellt, daß das Unmittelbare in der Form, wie ein Geiſtiges
auftritt, nimmermehr ein Beweis iſt, daß es nicht durch Begriffe zu
beſtimmen ſey. Das Gute wird auch von Kant ganz als Begriffs-
mäßiges aufgefaßt, nur zu ſehr, ſo daß freilich ſeine Kraft der Unmittel-
barkeit nicht einleuchtet. — Wenn nun vom Schönen geſagt iſt, daß es
perſönlich ſey und daher mit der Perſönlichkeit in Rapport treten müſſe, —
und ſo gewiß iſt dies, wie, daß Feuer Brennſtoff entzündet —, wenn
dies Zuſammengehen ganz unmittelbar iſt, weil eben im Schönen alle
trennenden Vermittlungen erlöſchen, ſo ſind nur die Urſachen des häufigen
Ausbleibens der Wirkung des Schönen, alſo der Uebereinſtimmung
der Urtheile noch kurz in’s Auge zu faſſen. Wir machen in unſerem
Urtheile über das Schöne durchaus keine Umſtände. Wem Raphael,
Sophokles, Shakespeare
nicht gefällt, dem räumen wir durchaus
nichts ein, ſondern erklären ihn entweder für ſtumpf oder für ungebildet.
Von totaler Stumpfheit iſt hier nicht die Rede, denn dieſe fragen wir
überhaupt nicht nach ihrem Urtheil; aber es gibt einſeitige Naturen, die
in gegenſätzlichen Thätigkeiten ſtark, aber eben dahin, wo die Kräfte am
reinſten in Eins fließen, zum Schönen nämlich, ſehr mangelhaft organiſirt
ſind. Wie dies zu erklären ſey, geht uns hier nichts an; genug, wenn
dieſe Einſeitigkeit als Einſeitigkeit erkannt iſt, und ſie iſt es nach allem
Bisherigen. Allein ob ſolche Einſeitigkeit ſtattfinde, iſt äußerſt ſchwer zu
ermitteln, denn in den meiſten Fällen wird ſie ſich als Einſeitigkeit nicht
der Organiſation, ſondern der Bildung aufzeigen laſſen. Die zwei Sätze
nun, daß das Schöne ganz unmittelbar genoſſen werde und daß es Bildung

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[210/0224] bekommt durch dieſen Begriff, wiewohl er keine objective Geltung hat, doch Gültigkeit für jedermann, weil der Beſtimmungsgrund desſel- ben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als das überſinnliche Subſtrat der Menſchheit angeſehen werden kann“; d. h. für uns: die Idee im ſchönen Object und im Subject iſt dieſelbe, es iſt die abſolute Idee von Natur und Geiſt. — Ein Philoſoph, der ſo tiefe Ahnungen ausſpricht, durfte nicht flüchtig über- gangen werden. Der Inhalt des §. iſt durch dieſe Kritik der Kantiſchen Begriffe zugleich poſitiv entwickelt. Anzuführen iſt noch, daß ja in der nächſten Nachbarſchaft des Schönen eine Idee thätig iſt, die ebenſo ohne Begriff als Macht wirkt und doch ganz begriffmäßig iſt: das Gute. Was den Unterſchied des Guten vom Schönen ausmacht, das Kategoriſche nämlich, beweist nur um ſo mehr: denn wenn auch das ſtrenge Geſetz als Macht der Empfindung wirkt, ſo erhellt, daß das Unmittelbare in der Form, wie ein Geiſtiges auftritt, nimmermehr ein Beweis iſt, daß es nicht durch Begriffe zu beſtimmen ſey. Das Gute wird auch von Kant ganz als Begriffs- mäßiges aufgefaßt, nur zu ſehr, ſo daß freilich ſeine Kraft der Unmittel- barkeit nicht einleuchtet. — Wenn nun vom Schönen geſagt iſt, daß es perſönlich ſey und daher mit der Perſönlichkeit in Rapport treten müſſe, — und ſo gewiß iſt dies, wie, daß Feuer Brennſtoff entzündet —, wenn dies Zuſammengehen ganz unmittelbar iſt, weil eben im Schönen alle trennenden Vermittlungen erlöſchen, ſo ſind nur die Urſachen des häufigen Ausbleibens der Wirkung des Schönen, alſo der Uebereinſtimmung der Urtheile noch kurz in’s Auge zu faſſen. Wir machen in unſerem Urtheile über das Schöne durchaus keine Umſtände. Wem Raphael, Sophokles, Shakespeare nicht gefällt, dem räumen wir durchaus nichts ein, ſondern erklären ihn entweder für ſtumpf oder für ungebildet. Von totaler Stumpfheit iſt hier nicht die Rede, denn dieſe fragen wir überhaupt nicht nach ihrem Urtheil; aber es gibt einſeitige Naturen, die in gegenſätzlichen Thätigkeiten ſtark, aber eben dahin, wo die Kräfte am reinſten in Eins fließen, zum Schönen nämlich, ſehr mangelhaft organiſirt ſind. Wie dies zu erklären ſey, geht uns hier nichts an; genug, wenn dieſe Einſeitigkeit als Einſeitigkeit erkannt iſt, und ſie iſt es nach allem Bisherigen. Allein ob ſolche Einſeitigkeit ſtattfinde, iſt äußerſt ſchwer zu ermitteln, denn in den meiſten Fällen wird ſie ſich als Einſeitigkeit nicht der Organiſation, ſondern der Bildung aufzeigen laſſen. Die zwei Sätze nun, daß das Schöne ganz unmittelbar genoſſen werde und daß es Bildung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/224>, abgerufen am 29.03.2024.