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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Vorstellung, die als einzeln und ohne Vergleichung mit
andern dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen
der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes
überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnißvermögen in die
proportionirte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse
fordern und daher auch für jedermann, der durch Verstand
und Sinne in Verbindung zu urtheilen bestimmt ist, (für jeden
Menschen) gültig halten
." In §. 12 besinnt er sich jedoch darauf,
daß auch diesem Spiele der Erkenntnißkräfte die Lust nicht als ihrer
Wirkung nachfolgen darf, und löst nun erst die ganze Schwierigkeit
durch den Satz: die Causalität ist eine innere, das zu Grund liegende
Bewußtseyn ist die Lust selbst, weil es die Erkenntnißkräfte belebt.
Wohl aber hat diese Lust nach der andern Seite eine Causalität in sich,
nämlich, den ästhetischen Gemüthszustand ohne weitere Absicht zu
erhalten. "Wir weilen
bei der Betrachtung des Schönen, weil
diese Betrachtung sich selbst reproducirt." Kant nimmt nun aber den
Gegenstand noch dreimal vor, so wichtig ist er ihm; zuerst unter der
Kategorie der Modalität §. 18 -- 22, wo der Begriff der Nothwendig-
keit des ästhetischen Wohlgefallens, getrennt von dem der Allgemeinheit,
noch besonders untersucht wird. Hier nennt er in der Weise der engli-
schen Sensualisten das allgemeine Menschliche, dessen harmonische Mitte
als Anschauung des Absoluten in der Form der Unmittelbarkeit die jetzige
Wissenschaft aus dem allgemeinen Gesetze des geistigen Prozesses ableitet,
einen Gemeinsinn. Er hebt aber das Punktuelle, was in dieser An-
nahme liegt, wieder auf, indem er tiefsinnig sagt, daß, wenn sich
bestimmte Erkenntnisse (stricte Begriffe) allgemein mittheilen lassen
müssen, weil sie sonst keine objective Wahrheit hätten, nothwendig auch
der Gemüthszustand, d. h. die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer
Erkenntniß überhaupt allgemein mittheilen lassen müssen. Hiemit ist die
Erkenntniß vor der Erkenntniß, d. h. die Grund-Einheit des Geistes,
worin er noch von seiner Sinnlichkeit nicht unterschieden ist, ausgesprochen:
eben auf diese Grund-Einheit, aus welcher das bestimmte Denken
als Begriff erst hervortaucht, wirkt das Schöne, und sie gehört dem
Menschen als Menschen und muß, ohne Begriff, als Gefühl allgemein
mittbeilbar seyn. In §. 30 -- 40 läßt Kant eine "Deduction der rei-
nen ästhetischen Urtheile" folgen, d. h. eine Untersuchung der objectiven
Seite, welche die Rechtmäßigkeit des ästhetischen Urtheils in der Anwen-
dung auf den Gegenstand, der doch nicht durch Begriffe bestimmt wird,

Vorſtellung, die als einzeln und ohne Vergleichung mit
andern dennoch eine Zuſammenſtimmung zu den Bedingungen
der Allgemeinheit hat, welche das Geſchäft des Verſtandes
überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnißvermögen in die
proportionirte Stimmung, die wir zu allem Erkenntniſſe
fordern und daher auch für jedermann, der durch Verſtand
und Sinne in Verbindung zu urtheilen beſtimmt iſt, (für jeden
Menſchen) gültig halten
.“ In §. 12 beſinnt er ſich jedoch darauf,
daß auch dieſem Spiele der Erkenntnißkräfte die Luſt nicht als ihrer
Wirkung nachfolgen darf, und löst nun erſt die ganze Schwierigkeit
durch den Satz: die Cauſalität iſt eine innere, das zu Grund liegende
Bewußtſeyn iſt die Luſt ſelbſt, weil es die Erkenntnißkräfte belebt.
Wohl aber hat dieſe Luſt nach der andern Seite eine Cauſalität in ſich,
nämlich, den äſthetiſchen Gemüthszuſtand ohne weitere Abſicht zu
erhalten. „Wir weilen
bei der Betrachtung des Schönen, weil
dieſe Betrachtung ſich ſelbſt reproducirt.“ Kant nimmt nun aber den
Gegenſtand noch dreimal vor, ſo wichtig iſt er ihm; zuerſt unter der
Kategorie der Modalität §. 18 — 22, wo der Begriff der Nothwendig-
keit des äſthetiſchen Wohlgefallens, getrennt von dem der Allgemeinheit,
noch beſonders unterſucht wird. Hier nennt er in der Weiſe der engli-
ſchen Senſualiſten das allgemeine Menſchliche, deſſen harmoniſche Mitte
als Anſchauung des Abſoluten in der Form der Unmittelbarkeit die jetzige
Wiſſenſchaft aus dem allgemeinen Geſetze des geiſtigen Prozeſſes ableitet,
einen Gemeinſinn. Er hebt aber das Punktuelle, was in dieſer An-
nahme liegt, wieder auf, indem er tiefſinnig ſagt, daß, wenn ſich
beſtimmte Erkenntniſſe (ſtricte Begriffe) allgemein mittheilen laſſen
müſſen, weil ſie ſonſt keine objective Wahrheit hätten, nothwendig auch
der Gemüthszuſtand, d. h. die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer
Erkenntniß überhaupt allgemein mittheilen laſſen müſſen. Hiemit iſt die
Erkenntniß vor der Erkenntniß, d. h. die Grund-Einheit des Geiſtes,
worin er noch von ſeiner Sinnlichkeit nicht unterſchieden iſt, ausgeſprochen:
eben auf dieſe Grund-Einheit, aus welcher das beſtimmte Denken
als Begriff erſt hervortaucht, wirkt das Schöne, und ſie gehört dem
Menſchen als Menſchen und muß, ohne Begriff, als Gefühl allgemein
mittbeilbar ſeyn. In §. 30 — 40 läßt Kant eine „Deduction der rei-
nen äſthetiſchen Urtheile“ folgen, d. h. eine Unterſuchung der objectiven
Seite, welche die Rechtmäßigkeit des äſthetiſchen Urtheils in der Anwen-
dung auf den Gegenſtand, der doch nicht durch Begriffe beſtimmt wird,

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[207/0221] Vorſtellung, die als einzeln und ohne Vergleichung mit andern dennoch eine Zuſammenſtimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geſchäft des Verſtandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnißvermögen in die proportionirte Stimmung, die wir zu allem Erkenntniſſe fordern und daher auch für jedermann, der durch Verſtand und Sinne in Verbindung zu urtheilen beſtimmt iſt, (für jeden Menſchen) gültig halten.“ In §. 12 beſinnt er ſich jedoch darauf, daß auch dieſem Spiele der Erkenntnißkräfte die Luſt nicht als ihrer Wirkung nachfolgen darf, und löst nun erſt die ganze Schwierigkeit durch den Satz: die Cauſalität iſt eine innere, das zu Grund liegende Bewußtſeyn iſt die Luſt ſelbſt, weil es die Erkenntnißkräfte belebt. Wohl aber hat dieſe Luſt nach der andern Seite eine Cauſalität in ſich, nämlich, den äſthetiſchen Gemüthszuſtand ohne weitere Abſicht zu erhalten. „Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil dieſe Betrachtung ſich ſelbſt reproducirt.“ Kant nimmt nun aber den Gegenſtand noch dreimal vor, ſo wichtig iſt er ihm; zuerſt unter der Kategorie der Modalität §. 18 — 22, wo der Begriff der Nothwendig- keit des äſthetiſchen Wohlgefallens, getrennt von dem der Allgemeinheit, noch beſonders unterſucht wird. Hier nennt er in der Weiſe der engli- ſchen Senſualiſten das allgemeine Menſchliche, deſſen harmoniſche Mitte als Anſchauung des Abſoluten in der Form der Unmittelbarkeit die jetzige Wiſſenſchaft aus dem allgemeinen Geſetze des geiſtigen Prozeſſes ableitet, einen Gemeinſinn. Er hebt aber das Punktuelle, was in dieſer An- nahme liegt, wieder auf, indem er tiefſinnig ſagt, daß, wenn ſich beſtimmte Erkenntniſſe (ſtricte Begriffe) allgemein mittheilen laſſen müſſen, weil ſie ſonſt keine objective Wahrheit hätten, nothwendig auch der Gemüthszuſtand, d. h. die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer Erkenntniß überhaupt allgemein mittheilen laſſen müſſen. Hiemit iſt die Erkenntniß vor der Erkenntniß, d. h. die Grund-Einheit des Geiſtes, worin er noch von ſeiner Sinnlichkeit nicht unterſchieden iſt, ausgeſprochen: eben auf dieſe Grund-Einheit, aus welcher das beſtimmte Denken als Begriff erſt hervortaucht, wirkt das Schöne, und ſie gehört dem Menſchen als Menſchen und muß, ohne Begriff, als Gefühl allgemein mittbeilbar ſeyn. In §. 30 — 40 läßt Kant eine „Deduction der rei- nen äſthetiſchen Urtheile“ folgen, d. h. eine Unterſuchung der objectiven Seite, welche die Rechtmäßigkeit des äſthetiſchen Urtheils in der Anwen- dung auf den Gegenſtand, der doch nicht durch Begriffe beſtimmt wird,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/221>, abgerufen am 20.04.2024.