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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Nothwendigkeit auftreten und erst durch einen zweiten Act, der dieses unmittel-
bar Wirkende zu seinem Objecte macht, in die Form des Begriffes gefaßt wer-
den kann, der jenen Anspruch beweist. So kann zwar nicht die ästhetische
Stimmung selbst, wohl aber die wissenschaftliche Ergründung dieser Stimmung
beweisen, daß der Gegenstand derselben in seiner, den Gegensatz des Allgemei-
nen und der erscheinenden Einzelheit tilgenden, Form ein reines Bild der un-
mittelbaren Harmonie der Kräfte der Persönlichkeit enthält und daher der
ästhetisch Gestimmte mit Recht fordert, daß der so bestimmte Gegenstand diese
Harmonie als etwas allgemein Menschliches in jedem Subjecte vorbereitet an-
treffen, hervorrufen und mit ihr in Einer Bewegung aufgehen soll. Wo daher
die Uebereinstimmung über einen solchen Gegenstand ausbleibt, läßt sich durch
denselben zweiten Act nachweisen, daß entweder das Subject ausnahmsweise
einseitig organisirt oder diese Harmonie nicht vorbereitet sey, und allerdings for-
dert sie eine Vorbereitung, worin auch ein Denken mitbegriffen ist, aber nicht
als besonderes, sondern als Denken in Formen, ein Form-Verständniß.

Die Lösung, welche Kant für den genannten scheinbaren Widerspruch
versucht, ist §. 78. Anm. mangelhaft genannt worden. Er beschäftigt
sich wiederholt mühsam mit diesem Gegenstande, streift immer an das
Richtige und immer fehlt ihm zu seiner Erklärung der Gegenstand,
nämlich eine objektive Bestimmung des Schönen. Vor Allem kann er
den Grund nicht recht finden, warum zum Schönen, d. h. zum unmittel-
baren ästhetischen Genusse des Schönen kein Begriff gehöre. In §. 6
gibt er unpassender Weise als Grund an, daß es von Begriffen (aus-
genommen in rein praktischen Gesetzen, die aber ein Interesse bei sich
führen) keinen Uebergang zum Gefühle der Lust oder Unlust gebe. Zum
Richtigen hätte ihn aber schon das führen müssen, was er in demsel-
ben §. unmittelbar vorher sagt, daß sich nämlich im Wohlgefallen am
Schönen, da es sich nicht auf irgend eine Neigung des Subjects, noch
auf irgend ein anderes, überlegtes Interesse gründe, der Urtheilende sich
völlig frei fühle; daher könne er keine Privatbedingungen als Gründe
des Wohlgefallens auffinden und müsse es vielmehr als in demjenigen
begründet ansehen, was er auch bei jedem Andern voraussetzen könne.
Hier fehlt nur noch ein Schritt, so wäre der Anspruch des ästhetischen
Wohlgefallens auf Allgemeinheit aus der Sache selbst nachgewiesen.
Privatbedingungen nämlich wären auf der Einen Seite die Sinnlichkeit,
die zwar in Jedem, aber in Jedem andere Sympathieen und Anti-

Nothwendigkeit auftreten und erſt durch einen zweiten Act, der dieſes unmittel-
bar Wirkende zu ſeinem Objecte macht, in die Form des Begriffes gefaßt wer-
den kann, der jenen Anſpruch beweist. So kann zwar nicht die äſthetiſche
Stimmung ſelbſt, wohl aber die wiſſenſchaftliche Ergründung dieſer Stimmung
beweiſen, daß der Gegenſtand derſelben in ſeiner, den Gegenſatz des Allgemei-
nen und der erſcheinenden Einzelheit tilgenden, Form ein reines Bild der un-
mittelbaren Harmonie der Kräfte der Perſönlichkeit enthält und daher der
äſthetiſch Geſtimmte mit Recht fordert, daß der ſo beſtimmte Gegenſtand dieſe
Harmonie als etwas allgemein Menſchliches in jedem Subjecte vorbereitet an-
treffen, hervorrufen und mit ihr in Einer Bewegung aufgehen ſoll. Wo daher
die Uebereinſtimmung über einen ſolchen Gegenſtand ausbleibt, läßt ſich durch
denſelben zweiten Act nachweiſen, daß entweder das Subject ausnahmsweiſe
einſeitig organiſirt oder dieſe Harmonie nicht vorbereitet ſey, und allerdings for-
dert ſie eine Vorbereitung, worin auch ein Denken mitbegriffen iſt, aber nicht
als beſonderes, ſondern als Denken in Formen, ein Form-Verſtändniß.

Die Löſung, welche Kant für den genannten ſcheinbaren Widerſpruch
verſucht, iſt §. 78. Anm. mangelhaft genannt worden. Er beſchäftigt
ſich wiederholt mühſam mit dieſem Gegenſtande, ſtreift immer an das
Richtige und immer fehlt ihm zu ſeiner Erklärung der Gegenſtand,
nämlich eine objektive Beſtimmung des Schönen. Vor Allem kann er
den Grund nicht recht finden, warum zum Schönen, d. h. zum unmittel-
baren äſthetiſchen Genuſſe des Schönen kein Begriff gehöre. In §. 6
gibt er unpaſſender Weiſe als Grund an, daß es von Begriffen (aus-
genommen in rein praktiſchen Geſetzen, die aber ein Intereſſe bei ſich
führen) keinen Uebergang zum Gefühle der Luſt oder Unluſt gebe. Zum
Richtigen hätte ihn aber ſchon das führen müſſen, was er in demſel-
ben §. unmittelbar vorher ſagt, daß ſich nämlich im Wohlgefallen am
Schönen, da es ſich nicht auf irgend eine Neigung des Subjects, noch
auf irgend ein anderes, überlegtes Intereſſe gründe, der Urtheilende ſich
völlig frei fühle; daher könne er keine Privatbedingungen als Gründe
des Wohlgefallens auffinden und müſſe es vielmehr als in demjenigen
begründet anſehen, was er auch bei jedem Andern vorausſetzen könne.
Hier fehlt nur noch ein Schritt, ſo wäre der Anſpruch des äſthetiſchen
Wohlgefallens auf Allgemeinheit aus der Sache ſelbſt nachgewieſen.
Privatbedingungen nämlich wären auf der Einen Seite die Sinnlichkeit,
die zwar in Jedem, aber in Jedem andere Sympathieen und Anti-

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[205/0219] Nothwendigkeit auftreten und erſt durch einen zweiten Act, der dieſes unmittel- bar Wirkende zu ſeinem Objecte macht, in die Form des Begriffes gefaßt wer- den kann, der jenen Anſpruch beweist. So kann zwar nicht die äſthetiſche Stimmung ſelbſt, wohl aber die wiſſenſchaftliche Ergründung dieſer Stimmung beweiſen, daß der Gegenſtand derſelben in ſeiner, den Gegenſatz des Allgemei- nen und der erſcheinenden Einzelheit tilgenden, Form ein reines Bild der un- mittelbaren Harmonie der Kräfte der Perſönlichkeit enthält und daher der äſthetiſch Geſtimmte mit Recht fordert, daß der ſo beſtimmte Gegenſtand dieſe Harmonie als etwas allgemein Menſchliches in jedem Subjecte vorbereitet an- treffen, hervorrufen und mit ihr in Einer Bewegung aufgehen ſoll. Wo daher die Uebereinſtimmung über einen ſolchen Gegenſtand ausbleibt, läßt ſich durch denſelben zweiten Act nachweiſen, daß entweder das Subject ausnahmsweiſe einſeitig organiſirt oder dieſe Harmonie nicht vorbereitet ſey, und allerdings for- dert ſie eine Vorbereitung, worin auch ein Denken mitbegriffen iſt, aber nicht als beſonderes, ſondern als Denken in Formen, ein Form-Verſtändniß. Die Löſung, welche Kant für den genannten ſcheinbaren Widerſpruch verſucht, iſt §. 78. Anm. mangelhaft genannt worden. Er beſchäftigt ſich wiederholt mühſam mit dieſem Gegenſtande, ſtreift immer an das Richtige und immer fehlt ihm zu ſeiner Erklärung der Gegenſtand, nämlich eine objektive Beſtimmung des Schönen. Vor Allem kann er den Grund nicht recht finden, warum zum Schönen, d. h. zum unmittel- baren äſthetiſchen Genuſſe des Schönen kein Begriff gehöre. In §. 6 gibt er unpaſſender Weiſe als Grund an, daß es von Begriffen (aus- genommen in rein praktiſchen Geſetzen, die aber ein Intereſſe bei ſich führen) keinen Uebergang zum Gefühle der Luſt oder Unluſt gebe. Zum Richtigen hätte ihn aber ſchon das führen müſſen, was er in demſel- ben §. unmittelbar vorher ſagt, daß ſich nämlich im Wohlgefallen am Schönen, da es ſich nicht auf irgend eine Neigung des Subjects, noch auf irgend ein anderes, überlegtes Intereſſe gründe, der Urtheilende ſich völlig frei fühle; daher könne er keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden und müſſe es vielmehr als in demjenigen begründet anſehen, was er auch bei jedem Andern vorausſetzen könne. Hier fehlt nur noch ein Schritt, ſo wäre der Anſpruch des äſthetiſchen Wohlgefallens auf Allgemeinheit aus der Sache ſelbſt nachgewieſen. Privatbedingungen nämlich wären auf der Einen Seite die Sinnlichkeit, die zwar in Jedem, aber in Jedem andere Sympathieen und Anti-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/219>, abgerufen am 23.04.2024.