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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Stimmung ausgeschlossen und, sofern auch die Idee als bloser Gehalt Stoff ge-
nannt werden kann (§. 55, Anm. 2) beide stoffartig. Eine sittliche Wirkung
2wird aber das Schöne absichtslos und mittelbar allerdings zurücklassen. Die
Auffassung unter dem Standpunkte der Zweckmäßigkeit, welcher zur einen
oder andern dieser beiden Formen das Interesse gezählt werden kann, ist aus
denselben Gründen im Schönen unzulässig.

1. Das treffendste Beispiel dafür, wie das ästhetische Interesse
durch das sinnliche aufgehoben wird, ist das von der Eßlust, das
Kant §. 5 anführt. Wer Eßlust hat, kann für die geschmackvolle Form
aufgestellter Speisen (welche freilich nicht in das eigentliche Gebiet des
Schönen gehört, doch im Sinn des Schmucks einen Ansatz davon hat)
keinen Sinn haben, vielmehr er strebt durch den Geschmacksinn in das
Innere, Stoffartige einzudringen. Die Eßlust löst ihm schon im Sehen
die Form auf. Angenehm ist nun freilich ein feinerer Begriff, der
nicht blos grobsinnlichen Genuß, sondern, z. B. in geselliger Unter-
haltung, eine unbestimmte Vermischung sinnlicher und theoretisch oder
praktisch geistiger Genüsse bezeichnet. Allein auch das Ganze dieser
unbestimmten Mischung ist sinnlich zu nennen, sofern es der Eine so,
der Andere anders darin hält, also das Subjective mit seinen Neigungen
und Abneigungen, wobei blos Sinnliches immer mitunterspielt, dabei
die Hauptrolle übernimmt. Eine ganz artige Auseinandersetzung dieser
ganzen im engeren Sinn stoffartigen Weise des Interesses gibt Kant
a. a. O. §. 2 von den Worten: Wenn mich jemand fragt u. s. w.
Nur kann er auch hier den Grund nicht angeben. Er setzt ihn darein,
daß das Wohlgefallen am Angenehmen nicht rein subjectiv sey, weil
nämlich darin die Existenz des Gegenstandes begehrt werde. Vielmehr
aber ist zu sagen, daß dieses Wohlgefallen zu subjectiv ist, d. h. es
geht zwar hinter die Form auf den Stoff, begehrt den Gegenstand als
empirisch wirklichen, aber so, daß es sich sinnlich mit ihm zu durchdrin-
gen, ihn als Stoff in sich aufzuzehren sucht und ebendies ist ein blos
subjectives Verhalten, denn eben in seinen sinnlichen Gelüsten ist das
Subject bloses Subject, jeder hat andere Gelüste, der Geist aber ist
allgemeiner Natur. Dagegen läßt die wahre ästhetische Stimmung den
Gegenstand frei sich gegenüber. Der wahre Grund davon liegt im
Objecte: die sinnliche Bestimmtheit ist in diesem so in die Idee auf-
genommen, daß sie zwar Bestimmtheit eines Einzelnen ist, das aber
durch diese so verallgemeinert und verewigt wird, daß dieses Einzelne

Stimmung ausgeſchloſſen und, ſofern auch die Idee als bloſer Gehalt Stoff ge-
nannt werden kann (§. 55, Anm. 2) beide ſtoffartig. Eine ſittliche Wirkung
2wird aber das Schöne abſichtslos und mittelbar allerdings zurücklaſſen. Die
Auffaſſung unter dem Standpunkte der Zweckmäßigkeit, welcher zur einen
oder andern dieſer beiden Formen das Intereſſe gezählt werden kann, iſt aus
denſelben Gründen im Schönen unzuläſſig.

1. Das treffendſte Beiſpiel dafür, wie das äſthetiſche Intereſſe
durch das ſinnliche aufgehoben wird, iſt das von der Eßluſt, das
Kant §. 5 anführt. Wer Eßluſt hat, kann für die geſchmackvolle Form
aufgeſtellter Speiſen (welche freilich nicht in das eigentliche Gebiet des
Schönen gehört, doch im Sinn des Schmucks einen Anſatz davon hat)
keinen Sinn haben, vielmehr er ſtrebt durch den Geſchmackſinn in das
Innere, Stoffartige einzudringen. Die Eßluſt löst ihm ſchon im Sehen
die Form auf. Angenehm iſt nun freilich ein feinerer Begriff, der
nicht blos grobſinnlichen Genuß, ſondern, z. B. in geſelliger Unter-
haltung, eine unbeſtimmte Vermiſchung ſinnlicher und theoretiſch oder
praktiſch geiſtiger Genüſſe bezeichnet. Allein auch das Ganze dieſer
unbeſtimmten Miſchung iſt ſinnlich zu nennen, ſofern es der Eine ſo,
der Andere anders darin hält, alſo das Subjective mit ſeinen Neigungen
und Abneigungen, wobei blos Sinnliches immer mitunterſpielt, dabei
die Hauptrolle übernimmt. Eine ganz artige Auseinanderſetzung dieſer
ganzen im engeren Sinn ſtoffartigen Weiſe des Intereſſes gibt Kant
a. a. O. §. 2 von den Worten: Wenn mich jemand fragt u. ſ. w.
Nur kann er auch hier den Grund nicht angeben. Er ſetzt ihn darein,
daß das Wohlgefallen am Angenehmen nicht rein ſubjectiv ſey, weil
nämlich darin die Exiſtenz des Gegenſtandes begehrt werde. Vielmehr
aber iſt zu ſagen, daß dieſes Wohlgefallen zu ſubjectiv iſt, d. h. es
geht zwar hinter die Form auf den Stoff, begehrt den Gegenſtand als
empiriſch wirklichen, aber ſo, daß es ſich ſinnlich mit ihm zu durchdrin-
gen, ihn als Stoff in ſich aufzuzehren ſucht und ebendies iſt ein blos
ſubjectives Verhalten, denn eben in ſeinen ſinnlichen Gelüſten iſt das
Subject bloſes Subject, jeder hat andere Gelüſte, der Geiſt aber iſt
allgemeiner Natur. Dagegen läßt die wahre äſthetiſche Stimmung den
Gegenſtand frei ſich gegenüber. Der wahre Grund davon liegt im
Objecte: die ſinnliche Beſtimmtheit iſt in dieſem ſo in die Idee auf-
genommen, daß ſie zwar Beſtimmtheit eines Einzelnen iſt, das aber
durch dieſe ſo verallgemeinert und verewigt wird, daß dieſes Einzelne

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[196/0210] Stimmung ausgeſchloſſen und, ſofern auch die Idee als bloſer Gehalt Stoff ge- nannt werden kann (§. 55, Anm. 2) beide ſtoffartig. Eine ſittliche Wirkung wird aber das Schöne abſichtslos und mittelbar allerdings zurücklaſſen. Die Auffaſſung unter dem Standpunkte der Zweckmäßigkeit, welcher zur einen oder andern dieſer beiden Formen das Intereſſe gezählt werden kann, iſt aus denſelben Gründen im Schönen unzuläſſig. 1. Das treffendſte Beiſpiel dafür, wie das äſthetiſche Intereſſe durch das ſinnliche aufgehoben wird, iſt das von der Eßluſt, das Kant §. 5 anführt. Wer Eßluſt hat, kann für die geſchmackvolle Form aufgeſtellter Speiſen (welche freilich nicht in das eigentliche Gebiet des Schönen gehört, doch im Sinn des Schmucks einen Anſatz davon hat) keinen Sinn haben, vielmehr er ſtrebt durch den Geſchmackſinn in das Innere, Stoffartige einzudringen. Die Eßluſt löst ihm ſchon im Sehen die Form auf. Angenehm iſt nun freilich ein feinerer Begriff, der nicht blos grobſinnlichen Genuß, ſondern, z. B. in geſelliger Unter- haltung, eine unbeſtimmte Vermiſchung ſinnlicher und theoretiſch oder praktiſch geiſtiger Genüſſe bezeichnet. Allein auch das Ganze dieſer unbeſtimmten Miſchung iſt ſinnlich zu nennen, ſofern es der Eine ſo, der Andere anders darin hält, alſo das Subjective mit ſeinen Neigungen und Abneigungen, wobei blos Sinnliches immer mitunterſpielt, dabei die Hauptrolle übernimmt. Eine ganz artige Auseinanderſetzung dieſer ganzen im engeren Sinn ſtoffartigen Weiſe des Intereſſes gibt Kant a. a. O. §. 2 von den Worten: Wenn mich jemand fragt u. ſ. w. Nur kann er auch hier den Grund nicht angeben. Er ſetzt ihn darein, daß das Wohlgefallen am Angenehmen nicht rein ſubjectiv ſey, weil nämlich darin die Exiſtenz des Gegenſtandes begehrt werde. Vielmehr aber iſt zu ſagen, daß dieſes Wohlgefallen zu ſubjectiv iſt, d. h. es geht zwar hinter die Form auf den Stoff, begehrt den Gegenſtand als empiriſch wirklichen, aber ſo, daß es ſich ſinnlich mit ihm zu durchdrin- gen, ihn als Stoff in ſich aufzuzehren ſucht und ebendies iſt ein blos ſubjectives Verhalten, denn eben in ſeinen ſinnlichen Gelüſten iſt das Subject bloſes Subject, jeder hat andere Gelüſte, der Geiſt aber iſt allgemeiner Natur. Dagegen läßt die wahre äſthetiſche Stimmung den Gegenſtand frei ſich gegenüber. Der wahre Grund davon liegt im Objecte: die ſinnliche Beſtimmtheit iſt in dieſem ſo in die Idee auf- genommen, daß ſie zwar Beſtimmtheit eines Einzelnen iſt, das aber durch dieſe ſo verallgemeinert und verewigt wird, daß dieſes Einzelne

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/210>, abgerufen am 29.03.2024.