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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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auf die Ausführung in Ruge's Vorsch. S. 48 -- 51 bezieht, wo jede
liebevolle Vertiefung in die Natur, welche mehr in diese legt, als sie
hat, in die Persönlichkeit, welche hinter dem Aeußeren derselben den in-
neren Werth findet u. s. w., als hinreichender Grund des schöpferischen
Schauens behauptet wird, woraus das Schöne entsteht. "Alle Handlung,
alle Bethätigung des Geistes, die zur Erscheinung kommt, ist umgedichtet in
Schönheit, sobald sie nur in ihrer Wahrheit, d. h. mit dem wahren Sinne
angeschaut wird" (S. 50). Darin ist das spezifisch Aesthetische ganz verwischt.

§. 75.

1

Die ästhetische Stimmung im Subjecte ist als Reflex des Objects auch
für sich betrachtet eine reine Mitte der gegensätzlichen Formen seiner Thätigkeit.
2Diese Mitte ist von Kant als ein freies Spiel und die damit verbundene Lust
als ein reines Wohlgefallen bestimmt worden, d. h. als ein solches, das jedes
Interesse ausschließt. Das Interesse nämlich geht hinter die reine Form zurück
auf den Gegenstand als Stoff (vergl. §. 54) und ist mit einem Wohlgefallen
verbunden, welches "nicht blos durch die Vorstellung des Gegenstands, sondern
zugleich durch die vorgestellte Verknüpfung des Subjects mit der Existenz des-
selben bestimmt wird". Dies "setzt Bedürfniß voraus oder bringt eines hervor
und als Bestimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über den Gegen-
3stand nicht mehr frei seyn" (Krit. d. ästh. Urth. §. 5). Das Schöne ist daher
nicht mit dem Interessanten zu verwechseln. Alles Wohlgefallen dieser unfreien
Art kann mit Kant pathologisch, das freie ästhetische aber contemplativ ge-
nannt werden.

1. "Als Reflex des Objects." Wir mußten zuerst ein Object haben,
ehe wir die subjective Stimmung, die es hervorruft, zergliedern und ab-
grenzen konnten. Kant hat das Letztere mit klassischer Schärfe voll-
bracht, wiewohl es bei ihm an einer objectiven Bestimmung des Schönen
gänzlich fehlt. Diese konnte er nicht finden, weil er mit dem Begriffe
der Zweckmäßigkeit nicht fertig zu werden wußte (§. 43). Er sucht daher
das Schöne rein subjectiv in jener Stimmung der Gemüthskräfte, worin
die unbestimmte Vorstellung der Zweckmäßigkeit vom Verstande der Ein-
bildungskraft zugeschoben wird. Man fragt nothwendig: wie kommt es
denn, daß ein Gegenstand diese Stimmung hervorruft, ein anderer nicht?
Darauf weiß Kant keine Antwort und er stellt sich auch die Frage nicht.
Deßwegen nicht, weil er, wie schon bemerkt, unbewußt bereits auf den sub-

auf die Ausführung in Ruge’s Vorſch. S. 48 — 51 bezieht, wo jede
liebevolle Vertiefung in die Natur, welche mehr in dieſe legt, als ſie
hat, in die Perſönlichkeit, welche hinter dem Aeußeren derſelben den in-
neren Werth findet u. ſ. w., als hinreichender Grund des ſchöpferiſchen
Schauens behauptet wird, woraus das Schöne entſteht. „Alle Handlung,
alle Bethätigung des Geiſtes, die zur Erſcheinung kommt, iſt umgedichtet in
Schönheit, ſobald ſie nur in ihrer Wahrheit, d. h. mit dem wahren Sinne
angeſchaut wird“ (S. 50). Darin iſt das ſpezifiſch Aeſthetiſche ganz verwiſcht.

§. 75.

1

Die äſthetiſche Stimmung im Subjecte iſt als Reflex des Objects auch
für ſich betrachtet eine reine Mitte der gegenſätzlichen Formen ſeiner Thätigkeit.
2Dieſe Mitte iſt von Kant als ein freies Spiel und die damit verbundene Luſt
als ein reines Wohlgefallen beſtimmt worden, d. h. als ein ſolches, das jedes
Intereſſe ausſchließt. Das Intereſſe nämlich geht hinter die reine Form zurück
auf den Gegenſtand als Stoff (vergl. §. 54) und iſt mit einem Wohlgefallen
verbunden, welches „nicht blos durch die Vorſtellung des Gegenſtands, ſondern
zugleich durch die vorgeſtellte Verknüpfung des Subjects mit der Exiſtenz des-
ſelben beſtimmt wird“. Dies „ſetzt Bedürfniß voraus oder bringt eines hervor
und als Beſtimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über den Gegen-
3ſtand nicht mehr frei ſeyn“ (Krit. d. äſth. Urth. §. 5). Das Schöne iſt daher
nicht mit dem Intereſſanten zu verwechſeln. Alles Wohlgefallen dieſer unfreien
Art kann mit Kant pathologiſch, das freie äſthetiſche aber contemplativ ge-
nannt werden.

1. „Als Reflex des Objects.“ Wir mußten zuerſt ein Object haben,
ehe wir die ſubjective Stimmung, die es hervorruft, zergliedern und ab-
grenzen konnten. Kant hat das Letztere mit klaſſiſcher Schärfe voll-
bracht, wiewohl es bei ihm an einer objectiven Beſtimmung des Schönen
gänzlich fehlt. Dieſe konnte er nicht finden, weil er mit dem Begriffe
der Zweckmäßigkeit nicht fertig zu werden wußte (§. 43). Er ſucht daher
das Schöne rein ſubjectiv in jener Stimmung der Gemüthskräfte, worin
die unbeſtimmte Vorſtellung der Zweckmäßigkeit vom Verſtande der Ein-
bildungskraft zugeſchoben wird. Man fragt nothwendig: wie kommt es
denn, daß ein Gegenſtand dieſe Stimmung hervorruft, ein anderer nicht?
Darauf weiß Kant keine Antwort und er ſtellt ſich auch die Frage nicht.
Deßwegen nicht, weil er, wie ſchon bemerkt, unbewußt bereits auf den ſub-

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[192/0206] auf die Ausführung in Ruge’s Vorſch. S. 48 — 51 bezieht, wo jede liebevolle Vertiefung in die Natur, welche mehr in dieſe legt, als ſie hat, in die Perſönlichkeit, welche hinter dem Aeußeren derſelben den in- neren Werth findet u. ſ. w., als hinreichender Grund des ſchöpferiſchen Schauens behauptet wird, woraus das Schöne entſteht. „Alle Handlung, alle Bethätigung des Geiſtes, die zur Erſcheinung kommt, iſt umgedichtet in Schönheit, ſobald ſie nur in ihrer Wahrheit, d. h. mit dem wahren Sinne angeſchaut wird“ (S. 50). Darin iſt das ſpezifiſch Aeſthetiſche ganz verwiſcht. §. 75. Die äſthetiſche Stimmung im Subjecte iſt als Reflex des Objects auch für ſich betrachtet eine reine Mitte der gegenſätzlichen Formen ſeiner Thätigkeit. Dieſe Mitte iſt von Kant als ein freies Spiel und die damit verbundene Luſt als ein reines Wohlgefallen beſtimmt worden, d. h. als ein ſolches, das jedes Intereſſe ausſchließt. Das Intereſſe nämlich geht hinter die reine Form zurück auf den Gegenſtand als Stoff (vergl. §. 54) und iſt mit einem Wohlgefallen verbunden, welches „nicht blos durch die Vorſtellung des Gegenſtands, ſondern zugleich durch die vorgeſtellte Verknüpfung des Subjects mit der Exiſtenz des- ſelben beſtimmt wird“. Dies „ſetzt Bedürfniß voraus oder bringt eines hervor und als Beſtimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über den Gegen- ſtand nicht mehr frei ſeyn“ (Krit. d. äſth. Urth. §. 5). Das Schöne iſt daher nicht mit dem Intereſſanten zu verwechſeln. Alles Wohlgefallen dieſer unfreien Art kann mit Kant pathologiſch, das freie äſthetiſche aber contemplativ ge- nannt werden. 1. „Als Reflex des Objects.“ Wir mußten zuerſt ein Object haben, ehe wir die ſubjective Stimmung, die es hervorruft, zergliedern und ab- grenzen konnten. Kant hat das Letztere mit klaſſiſcher Schärfe voll- bracht, wiewohl es bei ihm an einer objectiven Beſtimmung des Schönen gänzlich fehlt. Dieſe konnte er nicht finden, weil er mit dem Begriffe der Zweckmäßigkeit nicht fertig zu werden wußte (§. 43). Er ſucht daher das Schöne rein ſubjectiv in jener Stimmung der Gemüthskräfte, worin die unbeſtimmte Vorſtellung der Zweckmäßigkeit vom Verſtande der Ein- bildungskraft zugeſchoben wird. Man fragt nothwendig: wie kommt es denn, daß ein Gegenſtand dieſe Stimmung hervorruft, ein anderer nicht? Darauf weiß Kant keine Antwort und er ſtellt ſich auch die Frage nicht. Deßwegen nicht, weil er, wie ſchon bemerkt, unbewußt bereits auf den ſub-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/206>, abgerufen am 18.04.2024.