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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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die Idee einen an sich wenig widerstrebenden Stoff durchdringt und daher in
spielender und anschmiegender Leichtigkeit der Bewegung sich äußert. Beschränkt
sich der Stoff auf ein Geringstes, so geht sie in Zierlichkeit und Niedlichkeit
über. Die Abart aber tritt dadurch ein, daß, da das Schöne dem Subject2
zuerst sinnlich entgegenkommt, diese erste Wirkung sich unter gewissen Bedin-
gungen dem wahren Uebergang in die zweite geistige entziehen und an die Stelle
derselben eine zurückgetretene Sinnlichkeit setzen kann, deren Darstellung und
Aufregung als Reiz in dem übeln Sinne eines reflectirten Kitzels zu bezeich-
nen ist.

1. Sollte der Begriff der Anmuth abgegrenzt und insbesondere der
Vorwurf einer Vorwegnahme abgewiesen werden, so war es nicht mög-
lich, eine andere in diesem §. zu vermeiden. Es ist nämlich herkömmlich,
die Anmuth der Würde entgegenzustellen. Da nun hier das Gebiet der
Schönheit überhaupt vorliegt, worin sich das Erhabene noch gar nicht
abgesondert hat, so könnte die Meinung entstehen, es sey hier dieser
Sonderung vorgegriffen und was nur von einer gegensätzlichen Art des
Schönen gilt, dem ganzen Schönen beigelegt. Allein hier ist die Rede
von der Anmuth, welche die Großheit in sich schließt und selbst der kecken
Auflehnung des Kleinsten gegen das Große, dem Komischen, eigen ist;
von der Anmuth, die der Venus von Melos ebensosehr als der medi-
zeischen, ja jener noch mehr, als dieser, dem Manne wie dem Weibe
zukommt, von der Anmuth, welche die Rondaninische Meduse wie
die komische Maske hat, Aeschylus wie "der ungezogene Liebling der
Grazien". Hier ist also kein Vorgriff: die Grazie gehört allen Formen
des Schönen. Tritt nun aber das Schöne in seine Gegensätze ausein-
ander, so wird, weil das Große, wiewohl ohne die Grazie im weiteren
Sinn abzuwerfen, sich als Erhabenes absondert, diesem aber das
Komische entgegentritt, welches zwar in allem Kampfe seines Widerspruchs
ebenfalls so gewiß seine Grazie behauptet, als es die bekämpfte Idee zugleich
rettet, neben diesen beiden eine Gestalt sich zeigen, welcher allerdings auch,
wenn sie schön heißen soll, ein Ausdruck dessen inwohnen muß, was Quelle
aller Großheit ist, aber doch in so kampfloser und harmloser Weise, daß
das Anschmiegende und Entgegenkommende der Anmuth ausdrücklich hervor-
springt, wie namentlich im Weibe im Gegensatz gegen den Mann. Diese
Erscheinung hat man gewöhnlich im Sinne, wenn man von Anmuth spricht;
aber die wahren Kenner der Schönheit behalten die Grazie mit voller Groß-
heit vor Augen, welche den Jupiter mehr umfließt, als den Ganymed,

die Idee einen an ſich wenig widerſtrebenden Stoff durchdringt und daher in
ſpielender und anſchmiegender Leichtigkeit der Bewegung ſich äußert. Beſchränkt
ſich der Stoff auf ein Geringſtes, ſo geht ſie in Zierlichkeit und Niedlichkeit
über. Die Abart aber tritt dadurch ein, daß, da das Schöne dem Subject2
zuerſt ſinnlich entgegenkommt, dieſe erſte Wirkung ſich unter gewiſſen Bedin-
gungen dem wahren Uebergang in die zweite geiſtige entziehen und an die Stelle
derſelben eine zurückgetretene Sinnlichkeit ſetzen kann, deren Darſtellung und
Aufregung als Reiz in dem übeln Sinne eines reflectirten Kitzels zu bezeich-
nen iſt.

1. Sollte der Begriff der Anmuth abgegrenzt und insbeſondere der
Vorwurf einer Vorwegnahme abgewieſen werden, ſo war es nicht mög-
lich, eine andere in dieſem §. zu vermeiden. Es iſt nämlich herkömmlich,
die Anmuth der Würde entgegenzuſtellen. Da nun hier das Gebiet der
Schönheit überhaupt vorliegt, worin ſich das Erhabene noch gar nicht
abgeſondert hat, ſo könnte die Meinung entſtehen, es ſey hier dieſer
Sonderung vorgegriffen und was nur von einer gegenſätzlichen Art des
Schönen gilt, dem ganzen Schönen beigelegt. Allein hier iſt die Rede
von der Anmuth, welche die Großheit in ſich ſchließt und ſelbſt der kecken
Auflehnung des Kleinſten gegen das Große, dem Komiſchen, eigen iſt;
von der Anmuth, die der Venus von Melos ebenſoſehr als der medi-
zeiſchen, ja jener noch mehr, als dieſer, dem Manne wie dem Weibe
zukommt, von der Anmuth, welche die Rondaniniſche Meduſe wie
die komiſche Maske hat, Aeſchylus wie „der ungezogene Liebling der
Grazien“. Hier iſt alſo kein Vorgriff: die Grazie gehört allen Formen
des Schönen. Tritt nun aber das Schöne in ſeine Gegenſätze ausein-
ander, ſo wird, weil das Große, wiewohl ohne die Grazie im weiteren
Sinn abzuwerfen, ſich als Erhabenes abſondert, dieſem aber das
Komiſche entgegentritt, welches zwar in allem Kampfe ſeines Widerſpruchs
ebenfalls ſo gewiß ſeine Grazie behauptet, als es die bekämpfte Idee zugleich
rettet, neben dieſen beiden eine Geſtalt ſich zeigen, welcher allerdings auch,
wenn ſie ſchön heißen ſoll, ein Ausdruck deſſen inwohnen muß, was Quelle
aller Großheit iſt, aber doch in ſo kampfloſer und harmloſer Weiſe, daß
das Anſchmiegende und Entgegenkommende der Anmuth ausdrücklich hervor-
ſpringt, wie namentlich im Weibe im Gegenſatz gegen den Mann. Dieſe
Erſcheinung hat man gewöhnlich im Sinne, wenn man von Anmuth ſpricht;
aber die wahren Kenner der Schönheit behalten die Grazie mit voller Groß-
heit vor Augen, welche den Jupiter mehr umfließt, als den Ganymed,

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[187/0201] die Idee einen an ſich wenig widerſtrebenden Stoff durchdringt und daher in ſpielender und anſchmiegender Leichtigkeit der Bewegung ſich äußert. Beſchränkt ſich der Stoff auf ein Geringſtes, ſo geht ſie in Zierlichkeit und Niedlichkeit über. Die Abart aber tritt dadurch ein, daß, da das Schöne dem Subject zuerſt ſinnlich entgegenkommt, dieſe erſte Wirkung ſich unter gewiſſen Bedin- gungen dem wahren Uebergang in die zweite geiſtige entziehen und an die Stelle derſelben eine zurückgetretene Sinnlichkeit ſetzen kann, deren Darſtellung und Aufregung als Reiz in dem übeln Sinne eines reflectirten Kitzels zu bezeich- nen iſt. 1. Sollte der Begriff der Anmuth abgegrenzt und insbeſondere der Vorwurf einer Vorwegnahme abgewieſen werden, ſo war es nicht mög- lich, eine andere in dieſem §. zu vermeiden. Es iſt nämlich herkömmlich, die Anmuth der Würde entgegenzuſtellen. Da nun hier das Gebiet der Schönheit überhaupt vorliegt, worin ſich das Erhabene noch gar nicht abgeſondert hat, ſo könnte die Meinung entſtehen, es ſey hier dieſer Sonderung vorgegriffen und was nur von einer gegenſätzlichen Art des Schönen gilt, dem ganzen Schönen beigelegt. Allein hier iſt die Rede von der Anmuth, welche die Großheit in ſich ſchließt und ſelbſt der kecken Auflehnung des Kleinſten gegen das Große, dem Komiſchen, eigen iſt; von der Anmuth, die der Venus von Melos ebenſoſehr als der medi- zeiſchen, ja jener noch mehr, als dieſer, dem Manne wie dem Weibe zukommt, von der Anmuth, welche die Rondaniniſche Meduſe wie die komiſche Maske hat, Aeſchylus wie „der ungezogene Liebling der Grazien“. Hier iſt alſo kein Vorgriff: die Grazie gehört allen Formen des Schönen. Tritt nun aber das Schöne in ſeine Gegenſätze ausein- ander, ſo wird, weil das Große, wiewohl ohne die Grazie im weiteren Sinn abzuwerfen, ſich als Erhabenes abſondert, dieſem aber das Komiſche entgegentritt, welches zwar in allem Kampfe ſeines Widerſpruchs ebenfalls ſo gewiß ſeine Grazie behauptet, als es die bekämpfte Idee zugleich rettet, neben dieſen beiden eine Geſtalt ſich zeigen, welcher allerdings auch, wenn ſie ſchön heißen ſoll, ein Ausdruck deſſen inwohnen muß, was Quelle aller Großheit iſt, aber doch in ſo kampfloſer und harmloſer Weiſe, daß das Anſchmiegende und Entgegenkommende der Anmuth ausdrücklich hervor- ſpringt, wie namentlich im Weibe im Gegenſatz gegen den Mann. Dieſe Erſcheinung hat man gewöhnlich im Sinne, wenn man von Anmuth ſpricht; aber die wahren Kenner der Schönheit behalten die Grazie mit voller Groß- heit vor Augen, welche den Jupiter mehr umfließt, als den Ganymed,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/201>, abgerufen am 20.04.2024.