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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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von §. 16 ff., als von §. 31 ff. nicht gehörig zu seinem Rechte kommt. Hegel2
hat durch die dialektische Begründung und Durchführung des Standpunkts der
absoluten Idee diese Mängel in dem Sinne getilgt, daß die Reihe der bestimm-
ten Ideen folgerichtig entwickelt, die Einzelheit in ihrer Bedeutung erkannt
erscheint, allein er hat dem ersteren Fortschritt nicht die volle Anwendung auf
das Schöne gegeben und bei dem zweiten überhaupt der Berechtigung der Zu-
fälligkeit nicht volle Rechnung getragen.

1. Schelling leitet, wie er seine absolute Einheit nicht durch
dialektische Auflösung der Mannigfaltigkeit gewonnen hat, ebenso die
Reihe der bestimmten Ideen und den Naturstoff, worin sie wirklich sind,
nicht dialektisch aus jener ab. Der Formalismus, der willkürliche Sche-
matismus der Naturphilosophie, das Schwanken in der Eintheilung der
Sphären des Geistes ist bekannt. Im Schönen handelt es sich zwar
nicht von der rein philosophischen Ableitung des bestimmten Gehalts aus
der absoluten Einheit, allein, wo diese nicht vorangieng, wird auch
die Kraft seiner ästhetischen Geltung verkannt; es wird von jedem Punkte
auf das Absolute übergesprungen und es zerfließt Alles, wie bei Novalis,
in den dunkeln Grund. In der Rede über d. Verh. d. b. K. z. d. N.
wird zwar die Stufenleiter der Sphären des Daseyns als Inhalt des
Schönen angedeutet, aber es wird von keinem Schüler Schellings
damit Ernst gemacht und Schelling selbst fällt, weil er seiner Andeu-
tung nicht Folge gibt, anderswo in die Vermengung mit der Religion
(§. 27, 2). Ferner ist das Verhältniß des Individuums zur Gattung
nicht im Sinne der Entelechie begriffen. Jene Rede nennt zwar die
Eigenthümlichkeit der Dinge ein Positives, die Bestimmtheit und In-
dividualität, heißt es, dürfe nicht als blose Begrenzung und Verneinung,
sondern müsse als Bejahung der schaffenden Kraft der Gattung, als ein
Maß, das diese selbst sich auferlegt, angesehen werden, aber es bleibt
schwankend, ob damit Gattung und Art oder Individuum gemeint ist,
denn es ist in demselben Zusammenhange zunächst nur von der scharfen
Bestimmtheit der gattungsmäßigen Gestalt in den verschiedenen Natur-
reichen die Rede und hierauf zwar wird gesagt, in der Menschenwelt
lege die Natur ihren Weg noch einmal von vorn zurück und wiederhole
ihre ganze Mannigfaltigkeit; allein ganz individuell ist auch jede Pflanze
und jedes Thier und weil Schelling die unendliche individuelle
Mannigfaltigkeit erst in der menschlichen Gattung beginnen läßt, so
zweifelt man, ob er nicht blos Rassen, Völker, Stände, Ausdruck der

von §. 16 ff., als von §. 31 ff. nicht gehörig zu ſeinem Rechte kommt. Hegel2
hat durch die dialektiſche Begründung und Durchführung des Standpunkts der
abſoluten Idee dieſe Mängel in dem Sinne getilgt, daß die Reihe der beſtimm-
ten Ideen folgerichtig entwickelt, die Einzelheit in ihrer Bedeutung erkannt
erſcheint, allein er hat dem erſteren Fortſchritt nicht die volle Anwendung auf
das Schöne gegeben und bei dem zweiten überhaupt der Berechtigung der Zu-
fälligkeit nicht volle Rechnung getragen.

1. Schelling leitet, wie er ſeine abſolute Einheit nicht durch
dialektiſche Auflöſung der Mannigfaltigkeit gewonnen hat, ebenſo die
Reihe der beſtimmten Ideen und den Naturſtoff, worin ſie wirklich ſind,
nicht dialektiſch aus jener ab. Der Formalismus, der willkürliche Sche-
matismus der Naturphiloſophie, das Schwanken in der Eintheilung der
Sphären des Geiſtes iſt bekannt. Im Schönen handelt es ſich zwar
nicht von der rein philoſophiſchen Ableitung des beſtimmten Gehalts aus
der abſoluten Einheit, allein, wo dieſe nicht vorangieng, wird auch
die Kraft ſeiner äſthetiſchen Geltung verkannt; es wird von jedem Punkte
auf das Abſolute übergeſprungen und es zerfließt Alles, wie bei Novalis,
in den dunkeln Grund. In der Rede über d. Verh. d. b. K. z. d. N.
wird zwar die Stufenleiter der Sphären des Daſeyns als Inhalt des
Schönen angedeutet, aber es wird von keinem Schüler Schellings
damit Ernſt gemacht und Schelling ſelbſt fällt, weil er ſeiner Andeu-
tung nicht Folge gibt, anderswo in die Vermengung mit der Religion
(§. 27, 2). Ferner iſt das Verhältniß des Individuums zur Gattung
nicht im Sinne der Entelechie begriffen. Jene Rede nennt zwar die
Eigenthümlichkeit der Dinge ein Poſitives, die Beſtimmtheit und In-
dividualität, heißt es, dürfe nicht als bloſe Begrenzung und Verneinung,
ſondern müſſe als Bejahung der ſchaffenden Kraft der Gattung, als ein
Maß, das dieſe ſelbſt ſich auferlegt, angeſehen werden, aber es bleibt
ſchwankend, ob damit Gattung und Art oder Individuum gemeint iſt,
denn es iſt in demſelben Zuſammenhange zunächſt nur von der ſcharfen
Beſtimmtheit der gattungsmäßigen Geſtalt in den verſchiedenen Natur-
reichen die Rede und hierauf zwar wird geſagt, in der Menſchenwelt
lege die Natur ihren Weg noch einmal von vorn zurück und wiederhole
ihre ganze Mannigfaltigkeit; allein ganz individuell iſt auch jede Pflanze
und jedes Thier und weil Schelling die unendliche individuelle
Mannigfaltigkeit erſt in der menſchlichen Gattung beginnen läßt, ſo
zweifelt man, ob er nicht blos Raſſen, Völker, Stände, Ausdruck der

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[133/0147] von §. 16 ff., als von §. 31 ff. nicht gehörig zu ſeinem Rechte kommt. Hegel hat durch die dialektiſche Begründung und Durchführung des Standpunkts der abſoluten Idee dieſe Mängel in dem Sinne getilgt, daß die Reihe der beſtimm- ten Ideen folgerichtig entwickelt, die Einzelheit in ihrer Bedeutung erkannt erſcheint, allein er hat dem erſteren Fortſchritt nicht die volle Anwendung auf das Schöne gegeben und bei dem zweiten überhaupt der Berechtigung der Zu- fälligkeit nicht volle Rechnung getragen. 1. Schelling leitet, wie er ſeine abſolute Einheit nicht durch dialektiſche Auflöſung der Mannigfaltigkeit gewonnen hat, ebenſo die Reihe der beſtimmten Ideen und den Naturſtoff, worin ſie wirklich ſind, nicht dialektiſch aus jener ab. Der Formalismus, der willkürliche Sche- matismus der Naturphiloſophie, das Schwanken in der Eintheilung der Sphären des Geiſtes iſt bekannt. Im Schönen handelt es ſich zwar nicht von der rein philoſophiſchen Ableitung des beſtimmten Gehalts aus der abſoluten Einheit, allein, wo dieſe nicht vorangieng, wird auch die Kraft ſeiner äſthetiſchen Geltung verkannt; es wird von jedem Punkte auf das Abſolute übergeſprungen und es zerfließt Alles, wie bei Novalis, in den dunkeln Grund. In der Rede über d. Verh. d. b. K. z. d. N. wird zwar die Stufenleiter der Sphären des Daſeyns als Inhalt des Schönen angedeutet, aber es wird von keinem Schüler Schellings damit Ernſt gemacht und Schelling ſelbſt fällt, weil er ſeiner Andeu- tung nicht Folge gibt, anderswo in die Vermengung mit der Religion (§. 27, 2). Ferner iſt das Verhältniß des Individuums zur Gattung nicht im Sinne der Entelechie begriffen. Jene Rede nennt zwar die Eigenthümlichkeit der Dinge ein Poſitives, die Beſtimmtheit und In- dividualität, heißt es, dürfe nicht als bloſe Begrenzung und Verneinung, ſondern müſſe als Bejahung der ſchaffenden Kraft der Gattung, als ein Maß, das dieſe ſelbſt ſich auferlegt, angeſehen werden, aber es bleibt ſchwankend, ob damit Gattung und Art oder Individuum gemeint iſt, denn es iſt in demſelben Zuſammenhange zunächſt nur von der ſcharfen Beſtimmtheit der gattungsmäßigen Geſtalt in den verſchiedenen Natur- reichen die Rede und hierauf zwar wird geſagt, in der Menſchenwelt lege die Natur ihren Weg noch einmal von vorn zurück und wiederhole ihre ganze Mannigfaltigkeit; allein ganz individuell iſt auch jede Pflanze und jedes Thier und weil Schelling die unendliche individuelle Mannigfaltigkeit erſt in der menſchlichen Gattung beginnen läßt, ſo zweifelt man, ob er nicht blos Raſſen, Völker, Stände, Ausdruck der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/147>, abgerufen am 29.03.2024.