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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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daß sie das Gute als organische Einheit des Willens, das Wahre als
selbstthätigen Bau des Gedankens faßte, und so kann man es vollkommen
nennen. Immer aber wird das Schöne von dem Guten und Wahren,
es wird geistige Vollkommenheit von plastisch erscheinender nicht unter-
schieden; die Aesthetiker der Schule (z. B. Sulzer) waren in großer
Verlegenheit über das Verhältniß zwischen dem Schönen und Guten,
und Baumgarten selbst vermag es durch den rhetorischen Schmuck,
den er im Grunde allein unter phaenomenon versteht, nicht vom Wahren
abzugrenzen. -- In ihrem zweiten Theile, der näheren Bestimmung
des Vollkommenen als eines Objects der sinnlichen Anschauung, nimmt
die Definition eine Wendung nach der subjectiven Seite, welche den
Mangel der objectiven zu ergänzen scheint. Allein er kann nicht mehr
ergänzt werden und es entsteht daher statt der Ergänzung ein Wider-
spruch; denn der Begriff, der nicht als gegenwärtige Einheit im Körper
sich seine eigene Gestalt baut, sondern über ihm als Formel schwebt,
kann nicht sinnlich angeschaut werden. Wollte man nun den Wider-
spruch um der tieferen Ahnung willen, die dunkel in ihm liegt, übersehen,
so tritt dagegen ein besonderer Mißstand auch in der subjectiven
Bestimmung: die Anschauung wird zu niedrig gefaßt. Die cognitio
sensitiva
heißt inferior, sie ist schlechthin ein complexus repraesentationum
infra distinctionem subsistentium
(als ob die Anschauung nicht auch ihre
Klarheit hätte), sie wird theologisch caro genannt und als Rechtfertigung
der Ehre, die ihr widerfährt, gesagt: imperium in facultates inferiores
poscitur, non tyrannis
(Baumg. Aesth. §. 12). Diese Philosophie hat
die Mittel nicht, die Vernunft in die Form der Anschauung sich ergießen
zu lassen und eine sinnlich geistige Erkenntniß zu begreifen; sie hat sie
nicht, weil sie keine objective Vernunft kennt, und sie hat sich den Weg,
eine solche zu kennen, schon dadurch verrannt, daß sie die Anschauung
zu niedrig faßt: es ist ein nothwendiger Cirkel. Auf der Seite des
subjectiven Momentes geschah aber und mußte geschehen der Fortschritt.
In der Philosophie überhaupt mußte zuerst die Idee als gegenwärtiges
Subject begriffen werden, ehe sie sich als Object begriff. Ebenso im Schönen.
Hier tritt Kant ein. Baumgarten steht ihm aber bereits viel näher,
als man glaubt, vergl. §. 1, 3. Die Aesthetik wird schon vor Kant
Empfindungslehre; so namentlich bei Mendelssohn. Ganz subjectiv
versteht auch Eberhard (Theorie der schönen Künste u. Wissensch. 1783)
die Vollkommenheit. Er setzt sie rein in die Darstellung und das daraus
entspringende Gefühl. Allein auch im Werke der Darstellung soll ja

daß ſie das Gute als organiſche Einheit des Willens, das Wahre als
ſelbſtthätigen Bau des Gedankens faßte, und ſo kann man es vollkommen
nennen. Immer aber wird das Schöne von dem Guten und Wahren,
es wird geiſtige Vollkommenheit von plaſtiſch erſcheinender nicht unter-
ſchieden; die Aeſthetiker der Schule (z. B. Sulzer) waren in großer
Verlegenheit über das Verhältniß zwiſchen dem Schönen und Guten,
und Baumgarten ſelbſt vermag es durch den rhetoriſchen Schmuck,
den er im Grunde allein unter phaenomenon verſteht, nicht vom Wahren
abzugrenzen. — In ihrem zweiten Theile, der näheren Beſtimmung
des Vollkommenen als eines Objects der ſinnlichen Anſchauung, nimmt
die Definition eine Wendung nach der ſubjectiven Seite, welche den
Mangel der objectiven zu ergänzen ſcheint. Allein er kann nicht mehr
ergänzt werden und es entſteht daher ſtatt der Ergänzung ein Wider-
ſpruch; denn der Begriff, der nicht als gegenwärtige Einheit im Körper
ſich ſeine eigene Geſtalt baut, ſondern über ihm als Formel ſchwebt,
kann nicht ſinnlich angeſchaut werden. Wollte man nun den Wider-
ſpruch um der tieferen Ahnung willen, die dunkel in ihm liegt, überſehen,
ſo tritt dagegen ein beſonderer Mißſtand auch in der ſubjectiven
Beſtimmung: die Anſchauung wird zu niedrig gefaßt. Die cognitio
sensitiva
heißt inferior, ſie iſt ſchlechthin ein complexus repraesentationum
infra distinctionem subsistentium
(als ob die Anſchauung nicht auch ihre
Klarheit hätte), ſie wird theologiſch caro genannt und als Rechtfertigung
der Ehre, die ihr widerfährt, geſagt: imperium in facultates inferiores
poscitur, non tyrannis
(Baumg. Aesth. §. 12). Dieſe Philoſophie hat
die Mittel nicht, die Vernunft in die Form der Anſchauung ſich ergießen
zu laſſen und eine ſinnlich geiſtige Erkenntniß zu begreifen; ſie hat ſie
nicht, weil ſie keine objective Vernunft kennt, und ſie hat ſich den Weg,
eine ſolche zu kennen, ſchon dadurch verrannt, daß ſie die Anſchauung
zu niedrig faßt: es iſt ein nothwendiger Cirkel. Auf der Seite des
ſubjectiven Momentes geſchah aber und mußte geſchehen der Fortſchritt.
In der Philoſophie überhaupt mußte zuerſt die Idee als gegenwärtiges
Subject begriffen werden, ehe ſie ſich als Object begriff. Ebenſo im Schönen.
Hier tritt Kant ein. Baumgarten ſteht ihm aber bereits viel näher,
als man glaubt, vergl. §. 1, 3. Die Aeſthetik wird ſchon vor Kant
Empfindungslehre; ſo namentlich bei Mendelsſohn. Ganz ſubjectiv
verſteht auch Eberhard (Theorie der ſchönen Künſte u. Wiſſenſch. 1783)
die Vollkommenheit. Er ſetzt ſie rein in die Darſtellung und das daraus
entſpringende Gefühl. Allein auch im Werke der Darſtellung ſoll ja

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[124/0138] daß ſie das Gute als organiſche Einheit des Willens, das Wahre als ſelbſtthätigen Bau des Gedankens faßte, und ſo kann man es vollkommen nennen. Immer aber wird das Schöne von dem Guten und Wahren, es wird geiſtige Vollkommenheit von plaſtiſch erſcheinender nicht unter- ſchieden; die Aeſthetiker der Schule (z. B. Sulzer) waren in großer Verlegenheit über das Verhältniß zwiſchen dem Schönen und Guten, und Baumgarten ſelbſt vermag es durch den rhetoriſchen Schmuck, den er im Grunde allein unter phaenomenon verſteht, nicht vom Wahren abzugrenzen. — In ihrem zweiten Theile, der näheren Beſtimmung des Vollkommenen als eines Objects der ſinnlichen Anſchauung, nimmt die Definition eine Wendung nach der ſubjectiven Seite, welche den Mangel der objectiven zu ergänzen ſcheint. Allein er kann nicht mehr ergänzt werden und es entſteht daher ſtatt der Ergänzung ein Wider- ſpruch; denn der Begriff, der nicht als gegenwärtige Einheit im Körper ſich ſeine eigene Geſtalt baut, ſondern über ihm als Formel ſchwebt, kann nicht ſinnlich angeſchaut werden. Wollte man nun den Wider- ſpruch um der tieferen Ahnung willen, die dunkel in ihm liegt, überſehen, ſo tritt dagegen ein beſonderer Mißſtand auch in der ſubjectiven Beſtimmung: die Anſchauung wird zu niedrig gefaßt. Die cognitio sensitiva heißt inferior, ſie iſt ſchlechthin ein complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium (als ob die Anſchauung nicht auch ihre Klarheit hätte), ſie wird theologiſch caro genannt und als Rechtfertigung der Ehre, die ihr widerfährt, geſagt: imperium in facultates inferiores poscitur, non tyrannis (Baumg. Aesth. §. 12). Dieſe Philoſophie hat die Mittel nicht, die Vernunft in die Form der Anſchauung ſich ergießen zu laſſen und eine ſinnlich geiſtige Erkenntniß zu begreifen; ſie hat ſie nicht, weil ſie keine objective Vernunft kennt, und ſie hat ſich den Weg, eine ſolche zu kennen, ſchon dadurch verrannt, daß ſie die Anſchauung zu niedrig faßt: es iſt ein nothwendiger Cirkel. Auf der Seite des ſubjectiven Momentes geſchah aber und mußte geſchehen der Fortſchritt. In der Philoſophie überhaupt mußte zuerſt die Idee als gegenwärtiges Subject begriffen werden, ehe ſie ſich als Object begriff. Ebenſo im Schönen. Hier tritt Kant ein. Baumgarten ſteht ihm aber bereits viel näher, als man glaubt, vergl. §. 1, 3. Die Aeſthetik wird ſchon vor Kant Empfindungslehre; ſo namentlich bei Mendelsſohn. Ganz ſubjectiv verſteht auch Eberhard (Theorie der ſchönen Künſte u. Wiſſenſch. 1783) die Vollkommenheit. Er ſetzt ſie rein in die Darſtellung und das daraus entſpringende Gefühl. Allein auch im Werke der Darſtellung ſoll ja

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/138>, abgerufen am 24.04.2024.