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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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des Schönen ist, so ist auch das, wodurch das Schöne wahrhaft wirklich
ist (die Kunst, wie sich zeigen wird), als hervorbringendes Subject
wesentlich von diesem Elemente bestimmt. Der Stoff, zufällig an sich,
erfaßt zufällig auch den Künstler und wie sehr im Schaffen dieser Aus-
gang vom Zufall sich zu einer Nothwendigkeit umbilden mag, der Charakter
der unendlichen Eigenheit, die so nur einmal unter dieser Zusammen-
wirkung der Zufälligkeit möglich war, soll ihm bleiben. Die Wissen-
schaft muß dieß anerkennen und begründen; rückt man ihr aber als Mangel
vor, daß sie nicht die ganze Summe aller empirischen Zufälle als ebenso-
vieler Gründe der Eigenheit der unendlichen Werke der Schönheit zu be-
stimmen vermöge, so heißt dies freilich alle Wissenschaft aufheben. Der
Zufall läßt sich, ehe er da ist, in seinem allgemeinen Wesen begreifen,
aber was für einer er in jedem Erfahrungsfalle seyn werde, ist vorher
durchaus nicht zu bestimmen. Es gibt keine Vorherbestimmung, weder
objectiv noch subjectiv. Ist er aber da, so wirkt objectiv die Macht der
Allgemeinheit, ihn umzuwandeln, die Kraft der bestimmten Wirklichkeit
aus ihm zu ziehen, und subjectiv -- vom Philosophen -- kann und soll
er begriffen werden. Ich kann also z. B. nicht bestimmen, wann und
wo ein Stoff auftauchen werde, der sich zum Kunstwerk eignet, wann
und wo ein Künstler gerade in der Stimmung seyn werde, ihn zum
Kunstwerk zu benützen. Meine Aufgabe ist nur, als nothwendig zu er-
kennen, daß dies nicht vorherzubestimmen sey. Ist aber der Stoff ge-
kommen, das Kunstwerk da, so ist jener und dieses zu begreifen, dieses
selbst hat den Zufall, indem es ihn aufnahm, zugleich aufgehoben, und
der Philosoph leistet dies in noch höherem Sinne, indem er das reine, all-
gemeine Wesen der Kunst eben in dieser Concretion aufweist. Kann ich
denn die Phantasie und ihr Wesen darum nicht begreifen, weil ich nicht
bestimmen kann, welche Stoffe sie in den unbekannten Fällen der Zu-
kunft aufnehmen und verarbeiten wird? Und wenn ich in dem verar-
beiteten Stoffe ihre Thätigkeit nun als Bau des Kunstwerks begreife,
soll dieses Begreifen nicht höher seyn, als die Phantasie selbst, die in
beziehungsweise unbewußter Verschlingung mit dem Zufall das Kunst-
werk entwarf? Danzel (a. a. O. S. 44) wirft Hegel vor, er
habe keinen Standpunkt für das einzelne Kunstwerk in seiner unendlichen
Individualität. Der Vorwurf trifft zum Theile mit dem zusammen, was
zu §. 15 ausgeführt wurde. Wie nun dort zugegeben ist, daß Hegel
das Unmittelbare als Schaffendes, die Phantasie, zu flüchtig behandelt
habe, so ist auch im jetzigen Zusammenhang zugegeben, daß er das Zu-

des Schönen iſt, ſo iſt auch das, wodurch das Schöne wahrhaft wirklich
iſt (die Kunſt, wie ſich zeigen wird), als hervorbringendes Subject
weſentlich von dieſem Elemente beſtimmt. Der Stoff, zufällig an ſich,
erfaßt zufällig auch den Künſtler und wie ſehr im Schaffen dieſer Aus-
gang vom Zufall ſich zu einer Nothwendigkeit umbilden mag, der Charakter
der unendlichen Eigenheit, die ſo nur einmal unter dieſer Zuſammen-
wirkung der Zufälligkeit möglich war, ſoll ihm bleiben. Die Wiſſen-
ſchaft muß dieß anerkennen und begründen; rückt man ihr aber als Mangel
vor, daß ſie nicht die ganze Summe aller empiriſchen Zufälle als ebenſo-
vieler Gründe der Eigenheit der unendlichen Werke der Schönheit zu be-
ſtimmen vermöge, ſo heißt dies freilich alle Wiſſenſchaft aufheben. Der
Zufall läßt ſich, ehe er da iſt, in ſeinem allgemeinen Weſen begreifen,
aber was für einer er in jedem Erfahrungsfalle ſeyn werde, iſt vorher
durchaus nicht zu beſtimmen. Es gibt keine Vorherbeſtimmung, weder
objectiv noch ſubjectiv. Iſt er aber da, ſo wirkt objectiv die Macht der
Allgemeinheit, ihn umzuwandeln, die Kraft der beſtimmten Wirklichkeit
aus ihm zu ziehen, und ſubjectiv — vom Philoſophen — kann und ſoll
er begriffen werden. Ich kann alſo z. B. nicht beſtimmen, wann und
wo ein Stoff auftauchen werde, der ſich zum Kunſtwerk eignet, wann
und wo ein Künſtler gerade in der Stimmung ſeyn werde, ihn zum
Kunſtwerk zu benützen. Meine Aufgabe iſt nur, als nothwendig zu er-
kennen, daß dies nicht vorherzubeſtimmen ſey. Iſt aber der Stoff ge-
kommen, das Kunſtwerk da, ſo iſt jener und dieſes zu begreifen, dieſes
ſelbſt hat den Zufall, indem es ihn aufnahm, zugleich aufgehoben, und
der Philoſoph leiſtet dies in noch höherem Sinne, indem er das reine, all-
gemeine Weſen der Kunſt eben in dieſer Concretion aufweist. Kann ich
denn die Phantaſie und ihr Weſen darum nicht begreifen, weil ich nicht
beſtimmen kann, welche Stoffe ſie in den unbekannten Fällen der Zu-
kunft aufnehmen und verarbeiten wird? Und wenn ich in dem verar-
beiteten Stoffe ihre Thätigkeit nun als Bau des Kunſtwerks begreife,
ſoll dieſes Begreifen nicht höher ſeyn, als die Phantaſie ſelbſt, die in
beziehungsweiſe unbewußter Verſchlingung mit dem Zufall das Kunſt-
werk entwarf? Danzel (a. a. O. S. 44) wirft Hegel vor, er
habe keinen Standpunkt für das einzelne Kunſtwerk in ſeiner unendlichen
Individualität. Der Vorwurf trifft zum Theile mit dem zuſammen, was
zu §. 15 ausgeführt wurde. Wie nun dort zugegeben iſt, daß Hegel
das Unmittelbare als Schaffendes, die Phantaſie, zu flüchtig behandelt
habe, ſo iſt auch im jetzigen Zuſammenhang zugegeben, daß er das Zu-

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[120/0134] des Schönen iſt, ſo iſt auch das, wodurch das Schöne wahrhaft wirklich iſt (die Kunſt, wie ſich zeigen wird), als hervorbringendes Subject weſentlich von dieſem Elemente beſtimmt. Der Stoff, zufällig an ſich, erfaßt zufällig auch den Künſtler und wie ſehr im Schaffen dieſer Aus- gang vom Zufall ſich zu einer Nothwendigkeit umbilden mag, der Charakter der unendlichen Eigenheit, die ſo nur einmal unter dieſer Zuſammen- wirkung der Zufälligkeit möglich war, ſoll ihm bleiben. Die Wiſſen- ſchaft muß dieß anerkennen und begründen; rückt man ihr aber als Mangel vor, daß ſie nicht die ganze Summe aller empiriſchen Zufälle als ebenſo- vieler Gründe der Eigenheit der unendlichen Werke der Schönheit zu be- ſtimmen vermöge, ſo heißt dies freilich alle Wiſſenſchaft aufheben. Der Zufall läßt ſich, ehe er da iſt, in ſeinem allgemeinen Weſen begreifen, aber was für einer er in jedem Erfahrungsfalle ſeyn werde, iſt vorher durchaus nicht zu beſtimmen. Es gibt keine Vorherbeſtimmung, weder objectiv noch ſubjectiv. Iſt er aber da, ſo wirkt objectiv die Macht der Allgemeinheit, ihn umzuwandeln, die Kraft der beſtimmten Wirklichkeit aus ihm zu ziehen, und ſubjectiv — vom Philoſophen — kann und ſoll er begriffen werden. Ich kann alſo z. B. nicht beſtimmen, wann und wo ein Stoff auftauchen werde, der ſich zum Kunſtwerk eignet, wann und wo ein Künſtler gerade in der Stimmung ſeyn werde, ihn zum Kunſtwerk zu benützen. Meine Aufgabe iſt nur, als nothwendig zu er- kennen, daß dies nicht vorherzubeſtimmen ſey. Iſt aber der Stoff ge- kommen, das Kunſtwerk da, ſo iſt jener und dieſes zu begreifen, dieſes ſelbſt hat den Zufall, indem es ihn aufnahm, zugleich aufgehoben, und der Philoſoph leiſtet dies in noch höherem Sinne, indem er das reine, all- gemeine Weſen der Kunſt eben in dieſer Concretion aufweist. Kann ich denn die Phantaſie und ihr Weſen darum nicht begreifen, weil ich nicht beſtimmen kann, welche Stoffe ſie in den unbekannten Fällen der Zu- kunft aufnehmen und verarbeiten wird? Und wenn ich in dem verar- beiteten Stoffe ihre Thätigkeit nun als Bau des Kunſtwerks begreife, ſoll dieſes Begreifen nicht höher ſeyn, als die Phantaſie ſelbſt, die in beziehungsweiſe unbewußter Verſchlingung mit dem Zufall das Kunſt- werk entwarf? Danzel (a. a. O. S. 44) wirft Hegel vor, er habe keinen Standpunkt für das einzelne Kunſtwerk in ſeiner unendlichen Individualität. Der Vorwurf trifft zum Theile mit dem zuſammen, was zu §. 15 ausgeführt wurde. Wie nun dort zugegeben iſt, daß Hegel das Unmittelbare als Schaffendes, die Phantaſie, zu flüchtig behandelt habe, ſo iſt auch im jetzigen Zuſammenhang zugegeben, daß er das Zu-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/134>, abgerufen am 28.03.2024.