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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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cretere Macht in der Gegenüberstellung, Eintheilung, Beherrschung selb-
ständig zu Gliedern entlassener Theile ausspricht. Diese nimmt mit der
Bedeutung der Organismen zu, die menschliche Gestalt ist die strengste
und gerade für diese hat man ausschließlich den sogenannten Kanon auf-
gestellt. (Schon die Griechen hatten ihren, jedoch liberalen Kanon. Später
suchten Dürer, Lamozzo, Nic, Poussin, Audran die Proportionen
zu bestimmen.) Anders scheint es zu seyn in der Welt der sittlichen
Idee, wo die Theile am freiesten, als Persönlichkeiten, Stände, Staats-
körper aus der Einheit entlassen sind. Allein auch hier ist strenges Maß
und die freieste Handlung zerfällt in Vorbereitung, Spannung, Katastrophe
und weitere Momente eines gemessenen Rhythmus, der Staat in seine
Sphären als strenger Organismus u. s. w. Die Regel wird nur geistiger.

2. In demselben Grade wächst aber auch die Zufälligkeit und um-
schlingt als Wellenlinie im weitesten Sinne die festen Maße der Regel.
Je höher eine Gattung, desto eigener an Gestalt, Ausdruck, Bewegung,
u. s. w. die Individuen. Dies scheint freilich ein Widerspruch gegen den
vorhergehenden Satz; man darf nur die Naturreiche näher ansehen:
zunächst herrscht die größte Ungleichheit der einzelnen Gebilde im Un-
organischen (die innere Structur der Mineralien kommt hier gegen die
unendliche Abweichung von Profilen der Gebirge u. s. w., welche selbst
bei derselben geognostischen Beschaffenheit Statt findet, wenig in Betracht).
Ebenso im Pflanzenreiche. Kein Thier kann vom andern in Maß und
Form so abweichen, wie ein Baum von allen andern derselben Gattung.
Je höher eine Sphäre, desto bestimmter die Gebilde, desto weniger Spiel-
raum also auch für die Abweichungen individueller Form. Von Abnor-
mitäten ist hier nicht die Rede. Allein die Zufälligkeit und Eigenheit
schlägt nun nach innen, sie wird ein Unterschied des Temperaments, der
Anlagen schon bei den Thieren, noch mehr bei den Menschen, und dieser
Unterschied der Seele prägt sich in feineren, aber gerade dadurch, weil
ausdrucksvoll, um so schärferen Unterschieden der Physiognomie n. s. f. aus.
In der menschlichen Gattung ist nun gerade dieses Zufällige, Angeborne
der Stoff, aus dem sich, indem er in den Willen erhoben wird, der
Charakter bildet. Denn der Charakter ist ein Ineinander-Arbeiten der
Naturanlage einerseits, allgemeiner sittlicher Potenzen andererseits durch
den Willen, der die lebendige Mitte ist. Dies ist freilich bereits eine
Durchdringung des Zufälligen im Individuum mit dem Allgemeinen der
Gattung, und von dieser ist ja hier noch nicht die Rede, sondern soll
erst unter Abschn. C. die Rede werden. Dennoch ist hier keine unerlaubte

cretere Macht in der Gegenüberſtellung, Eintheilung, Beherrſchung ſelb-
ſtändig zu Gliedern entlaſſener Theile ausſpricht. Dieſe nimmt mit der
Bedeutung der Organismen zu, die menſchliche Geſtalt iſt die ſtrengſte
und gerade für dieſe hat man ausſchließlich den ſogenannten Kanon auf-
geſtellt. (Schon die Griechen hatten ihren, jedoch liberalen Kanon. Später
ſuchten Dürer, Lamozzo, Nic, Pouſſin, Audran die Proportionen
zu beſtimmen.) Anders ſcheint es zu ſeyn in der Welt der ſittlichen
Idee, wo die Theile am freieſten, als Perſönlichkeiten, Stände, Staats-
körper aus der Einheit entlaſſen ſind. Allein auch hier iſt ſtrenges Maß
und die freieſte Handlung zerfällt in Vorbereitung, Spannung, Kataſtrophe
und weitere Momente eines gemeſſenen Rhythmus, der Staat in ſeine
Sphären als ſtrenger Organismus u. ſ. w. Die Regel wird nur geiſtiger.

2. In demſelben Grade wächst aber auch die Zufälligkeit und um-
ſchlingt als Wellenlinie im weiteſten Sinne die feſten Maße der Regel.
Je höher eine Gattung, deſto eigener an Geſtalt, Ausdruck, Bewegung,
u. ſ. w. die Individuen. Dies ſcheint freilich ein Widerſpruch gegen den
vorhergehenden Satz; man darf nur die Naturreiche näher anſehen:
zunächſt herrſcht die größte Ungleichheit der einzelnen Gebilde im Un-
organiſchen (die innere Structur der Mineralien kommt hier gegen die
unendliche Abweichung von Profilen der Gebirge u. ſ. w., welche ſelbſt
bei derſelben geognoſtiſchen Beſchaffenheit Statt findet, wenig in Betracht).
Ebenſo im Pflanzenreiche. Kein Thier kann vom andern in Maß und
Form ſo abweichen, wie ein Baum von allen andern derſelben Gattung.
Je höher eine Sphäre, deſto beſtimmter die Gebilde, deſto weniger Spiel-
raum alſo auch für die Abweichungen individueller Form. Von Abnor-
mitäten iſt hier nicht die Rede. Allein die Zufälligkeit und Eigenheit
ſchlägt nun nach innen, ſie wird ein Unterſchied des Temperaments, der
Anlagen ſchon bei den Thieren, noch mehr bei den Menſchen, und dieſer
Unterſchied der Seele prägt ſich in feineren, aber gerade dadurch, weil
ausdrucksvoll, um ſo ſchärferen Unterſchieden der Phyſiognomie n. ſ. f. aus.
In der menſchlichen Gattung iſt nun gerade dieſes Zufällige, Angeborne
der Stoff, aus dem ſich, indem er in den Willen erhoben wird, der
Charakter bildet. Denn der Charakter iſt ein Ineinander-Arbeiten der
Naturanlage einerſeits, allgemeiner ſittlicher Potenzen andererſeits durch
den Willen, der die lebendige Mitte iſt. Dies iſt freilich bereits eine
Durchdringung des Zufälligen im Individuum mit dem Allgemeinen der
Gattung, und von dieſer iſt ja hier noch nicht die Rede, ſondern ſoll
erſt unter Abſchn. C. die Rede werden. Dennoch iſt hier keine unerlaubte

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[110/0124] cretere Macht in der Gegenüberſtellung, Eintheilung, Beherrſchung ſelb- ſtändig zu Gliedern entlaſſener Theile ausſpricht. Dieſe nimmt mit der Bedeutung der Organismen zu, die menſchliche Geſtalt iſt die ſtrengſte und gerade für dieſe hat man ausſchließlich den ſogenannten Kanon auf- geſtellt. (Schon die Griechen hatten ihren, jedoch liberalen Kanon. Später ſuchten Dürer, Lamozzo, Nic, Pouſſin, Audran die Proportionen zu beſtimmen.) Anders ſcheint es zu ſeyn in der Welt der ſittlichen Idee, wo die Theile am freieſten, als Perſönlichkeiten, Stände, Staats- körper aus der Einheit entlaſſen ſind. Allein auch hier iſt ſtrenges Maß und die freieſte Handlung zerfällt in Vorbereitung, Spannung, Kataſtrophe und weitere Momente eines gemeſſenen Rhythmus, der Staat in ſeine Sphären als ſtrenger Organismus u. ſ. w. Die Regel wird nur geiſtiger. 2. In demſelben Grade wächst aber auch die Zufälligkeit und um- ſchlingt als Wellenlinie im weiteſten Sinne die feſten Maße der Regel. Je höher eine Gattung, deſto eigener an Geſtalt, Ausdruck, Bewegung, u. ſ. w. die Individuen. Dies ſcheint freilich ein Widerſpruch gegen den vorhergehenden Satz; man darf nur die Naturreiche näher anſehen: zunächſt herrſcht die größte Ungleichheit der einzelnen Gebilde im Un- organiſchen (die innere Structur der Mineralien kommt hier gegen die unendliche Abweichung von Profilen der Gebirge u. ſ. w., welche ſelbſt bei derſelben geognoſtiſchen Beſchaffenheit Statt findet, wenig in Betracht). Ebenſo im Pflanzenreiche. Kein Thier kann vom andern in Maß und Form ſo abweichen, wie ein Baum von allen andern derſelben Gattung. Je höher eine Sphäre, deſto beſtimmter die Gebilde, deſto weniger Spiel- raum alſo auch für die Abweichungen individueller Form. Von Abnor- mitäten iſt hier nicht die Rede. Allein die Zufälligkeit und Eigenheit ſchlägt nun nach innen, ſie wird ein Unterſchied des Temperaments, der Anlagen ſchon bei den Thieren, noch mehr bei den Menſchen, und dieſer Unterſchied der Seele prägt ſich in feineren, aber gerade dadurch, weil ausdrucksvoll, um ſo ſchärferen Unterſchieden der Phyſiognomie n. ſ. f. aus. In der menſchlichen Gattung iſt nun gerade dieſes Zufällige, Angeborne der Stoff, aus dem ſich, indem er in den Willen erhoben wird, der Charakter bildet. Denn der Charakter iſt ein Ineinander-Arbeiten der Naturanlage einerſeits, allgemeiner ſittlicher Potenzen andererſeits durch den Willen, der die lebendige Mitte iſt. Dies iſt freilich bereits eine Durchdringung des Zufälligen im Individuum mit dem Allgemeinen der Gattung, und von dieſer iſt ja hier noch nicht die Rede, ſondern ſoll erſt unter Abſchn. C. die Rede werden. Dennoch iſt hier keine unerlaubte

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/124>, abgerufen am 18.04.2024.