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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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eusunoptos, bewegt er sich in der Zeit, eumnemoneutos. Er darf aber
auch nicht zu klein seyn: sugkheitai gar e theoria eggus tou%1FC0; anais-
thetou khronou ginomene. Dieser Begriff des Ueberschaulichen und in
sich Unterscheidbaren ist nun zwar wesentlich, aber ebenfalls keine Be-
griffsbestimmung des Schönen; er giebt die Grenze, nicht die innere
Natur an. Das innere Wesen der Durchdringung zu begreifen,
wodurch die Gestalt zur schönen wird, dazu hat Aristoteles mehr als
irgendwo einen Schritt gethan in der Stelle, die Ed. Müller anführt
(a. a. O. S. 105, aus der Politik III, 6.): schöne Menschen unter-
scheiden sich dadurch von nicht schönen und so auch die Gemälde der
Kunst von der Wirklichkeit, daß das hie und da Zerstreute in ihnen
verbunden und vereinigt ist, denn sonst wäre wohl, was das Einzelne
anbetrifft, auch einmal schöner dieses Menschen Auge, von einem Anderen
ein anderer Theil, als in den Gemälden. Allein dieser Gedanke, der
geradezu dahin führt, wohin wir unter Abschn. C. uns zu stellen haben,
wird nicht verfolgt.

Haben nun diese Bestimmungen der Alten eine Wirkung der im
schönen Körper gegenwärtigen Idee auf dessen Form zwar aufgefaßt,
aber eine solche, welche dieser gemein hat mit Anderem, worin die Idee
auf andere Weise wirkend gegenwärtig ist, so liegt es nahe, dieser zu
großen Weite dadurch abzuhelfen, daß man ins Enge geht und nicht nur
Harmonie der Form, sondern eine bestimmte Form oder bestimmte Formen
als das aufzustellen, worin das Wesen des Schönen liege. Die Sache
wird jetzt erst bedenklich; denn Plato und Aristoteles giengen aus von
dem Grunde der inneren Einheit, verfolgten ihn in seine Wirkungen
auf die Form, und wußten nun hier zwar das spezifisch Aesthetische
nicht zu finden, hatten aber doch, wenn sie nun die Merkmale der schönen
Form zu nennen suchten, den inneren Grund dabei immer, wiewohl
unvollständig, im Auge, konnten also nicht meynen, das Wesen erschöpft
zu haben, wenn sie solche Merkmale angaben. Plato nennt zwar im
Philebus auch gewisse abstracte geometrische Formen schön, die Kugel-
gestalt um ihrer Vollendung willen im Timäus, reine Flächen, gerundete
Formen und Winkel im Philebus, ebenda reine Töne und reine Farben,
besonders das reine Weiß. Da er sonst das Schöne nur in einem
organischen Ganzen sucht, so hat diese Stelle (Phileb. 51) ihre eigen-
thümliche Schwierigkeit. Nimmt er hier das Wort: schön nicht genau und
redet nur von Momenten des Schönen, welche erst in ihrer Zusammen-
stellung ein Schönes bilden können? Keineswegs. Plato bringt hier

εὐσύνοπτος, bewegt er ſich in der Zeit, εὐμνημόνευτος. Er darf aber
auch nicht zu klein ſeyn: συγχεῖται γὰρ ἡ ϑεωρία ἐγγὺς τȣ%1FC0; ἀναισ-
ϑήτȣ χρόνȣ γινομένη. Dieſer Begriff des Ueberſchaulichen und in
ſich Unterſcheidbaren iſt nun zwar weſentlich, aber ebenfalls keine Be-
griffsbeſtimmung des Schönen; er giebt die Grenze, nicht die innere
Natur an. Das innere Weſen der Durchdringung zu begreifen,
wodurch die Geſtalt zur ſchönen wird, dazu hat Ariſtoteles mehr als
irgendwo einen Schritt gethan in der Stelle, die Ed. Müller anführt
(a. a. O. S. 105, aus der Politik III, 6.): ſchöne Menſchen unter-
ſcheiden ſich dadurch von nicht ſchönen und ſo auch die Gemälde der
Kunſt von der Wirklichkeit, daß das hie und da Zerſtreute in ihnen
verbunden und vereinigt iſt, denn ſonſt wäre wohl, was das Einzelne
anbetrifft, auch einmal ſchöner dieſes Menſchen Auge, von einem Anderen
ein anderer Theil, als in den Gemälden. Allein dieſer Gedanke, der
geradezu dahin führt, wohin wir unter Abſchn. C. uns zu ſtellen haben,
wird nicht verfolgt.

Haben nun dieſe Beſtimmungen der Alten eine Wirkung der im
ſchönen Körper gegenwärtigen Idee auf deſſen Form zwar aufgefaßt,
aber eine ſolche, welche dieſer gemein hat mit Anderem, worin die Idee
auf andere Weiſe wirkend gegenwärtig iſt, ſo liegt es nahe, dieſer zu
großen Weite dadurch abzuhelfen, daß man ins Enge geht und nicht nur
Harmonie der Form, ſondern eine beſtimmte Form oder beſtimmte Formen
als das aufzuſtellen, worin das Weſen des Schönen liege. Die Sache
wird jetzt erſt bedenklich; denn Plato und Ariſtoteles giengen aus von
dem Grunde der inneren Einheit, verfolgten ihn in ſeine Wirkungen
auf die Form, und wußten nun hier zwar das ſpezifiſch Aeſthetiſche
nicht zu finden, hatten aber doch, wenn ſie nun die Merkmale der ſchönen
Form zu nennen ſuchten, den inneren Grund dabei immer, wiewohl
unvollſtändig, im Auge, konnten alſo nicht meynen, das Weſen erſchöpft
zu haben, wenn ſie ſolche Merkmale angaben. Plato nennt zwar im
Philebus auch gewiſſe abſtracte geometriſche Formen ſchön, die Kugel-
geſtalt um ihrer Vollendung willen im Timäus, reine Flächen, gerundete
Formen und Winkel im Philebus, ebenda reine Töne und reine Farben,
beſonders das reine Weiß. Da er ſonſt das Schöne nur in einem
organiſchen Ganzen ſucht, ſo hat dieſe Stelle (Phileb. 51) ihre eigen-
thümliche Schwierigkeit. Nimmt er hier das Wort: ſchön nicht genau und
redet nur von Momenten des Schönen, welche erſt in ihrer Zuſammen-
ſtellung ein Schönes bilden können? Keineswegs. Plato bringt hier

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/116>, abgerufen am 19.04.2024.