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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Erste Vorlesung.
selnde Eigenschaften des Zelleninhalts, dass es nicht die bis jetzt be-
trachteten Bestandtheile (Membran und Kern), sondern der Inhalt
oder auch ausserhalb der Zelle abgelagerte Massen sind, wel-
che die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Ge-
webe bedingen. Für uns ist es wesentlich zu wissen, dass
innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, wel-
che die Zelle gewissermassen in ihrer abstracten Form dar-
stellen, Kern und Membran, mit grosser Beständigkeit wieder-
kehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches
Element gewonnen wird, welches durch die ganze Reihe der
lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äus-
serlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere
Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine
ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage aller
Lebenserscheinungen erkennen lässt.

Meiner Auffassung nach ist dies der einzig mögliche Aus-
gangspunkt aller biologischen Doctrinen. Wenn eine bestimmte
Uebereinstimmung der elementaren Form durch die ganze
Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeb-
lich in dieser Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was
an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man
nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze
oder eines Thieres, zunächst betrachten als eine progressive
Summirung einer grösseren oder kleineren Zahl gleichartiger
oder ungleichartiger Zellen. Wie ein Baum eine in einer be-
stimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in wel-
cher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt
wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Ele-
mente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten.
Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einhei-
ten
, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an
sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann
nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation
gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur
in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche
jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass
die Zusammensetzung eines grösseren Körpers immer auf eine

Erste Vorlesung.
selnde Eigenschaften des Zelleninhalts, dass es nicht die bis jetzt be-
trachteten Bestandtheile (Membran und Kern), sondern der Inhalt
oder auch ausserhalb der Zelle abgelagerte Massen sind, wel-
che die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Ge-
webe bedingen. Für uns ist es wesentlich zu wissen, dass
innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, wel-
che die Zelle gewissermassen in ihrer abstracten Form dar-
stellen, Kern und Membran, mit grosser Beständigkeit wieder-
kehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches
Element gewonnen wird, welches durch die ganze Reihe der
lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äus-
serlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere
Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine
ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage aller
Lebenserscheinungen erkennen lässt.

Meiner Auffassung nach ist dies der einzig mögliche Aus-
gangspunkt aller biologischen Doctrinen. Wenn eine bestimmte
Uebereinstimmung der elementaren Form durch die ganze
Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeb-
lich in dieser Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was
an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man
nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze
oder eines Thieres, zunächst betrachten als eine progressive
Summirung einer grösseren oder kleineren Zahl gleichartiger
oder ungleichartiger Zellen. Wie ein Baum eine in einer be-
stimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in wel-
cher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt
wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Ele-
mente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten.
Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einhei-
ten
, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an
sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann
nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation
gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur
in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche
jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass
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[12/0034] Erste Vorlesung. selnde Eigenschaften des Zelleninhalts, dass es nicht die bis jetzt be- trachteten Bestandtheile (Membran und Kern), sondern der Inhalt oder auch ausserhalb der Zelle abgelagerte Massen sind, wel- che die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Ge- webe bedingen. Für uns ist es wesentlich zu wissen, dass innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, wel- che die Zelle gewissermassen in ihrer abstracten Form dar- stellen, Kern und Membran, mit grosser Beständigkeit wieder- kehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches Element gewonnen wird, welches durch die ganze Reihe der lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äus- serlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage aller Lebenserscheinungen erkennen lässt. Meiner Auffassung nach ist dies der einzig mögliche Aus- gangspunkt aller biologischen Doctrinen. Wenn eine bestimmte Uebereinstimmung der elementaren Form durch die ganze Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeb- lich in dieser Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze oder eines Thieres, zunächst betrachten als eine progressive Summirung einer grösseren oder kleineren Zahl gleichartiger oder ungleichartiger Zellen. Wie ein Baum eine in einer be- stimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in wel- cher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Ele- mente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten. Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einhei- ten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass die Zusammensetzung eines grösseren Körpers immer auf eine

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/34>, abgerufen am 24.04.2024.