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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Eilfte Vorlesung.
masse besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös,
die andere faserig ist, sondern nur die, dass die eine Mark
enthält, die andere nicht. Im Allgemeinen kann man den Zu-
stand der Marklosigkeit als etwas Niedereres, Unvollständigeres
bezeichnen, während die Markhaltigkeit eine reichere Ernäh-
rung und Entwicklung des Theiles anzeigt.

Ich habe vor nicht langer Zeit eine Beobachtung gemacht,
wo eine unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zu-
stände in einer sehr unerwarteten Weise hervortrat, indem die
sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige
weisse verwandelt war, nämlich an der Retina. Ich fand näm-
lich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes,
bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Um-
fang der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durch-
scheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie

[Abbildung] Fig. 79
man sie im Kleinen zuweilen bei
Hunden und ziemlich constant bei
Kaninchen in einzelnen Richtun-
gen trifft. Die mikroskopische
Untersuchung ergab, dass in ähn-
licher Weise, wie bei diesen
Thieren, in der Retina markhal-
tige Fasern sich entwickelt hat-
ten, und dass die Faserlage der
Retina durch die Aufnahme von
Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die
einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie
von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach
hinten gegen die Papille verfolgte, sie allmählig an Breite zu-
nahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später
sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark erkennen
liessen. Das ist also eine Art der Umbildung, welche die
[Abbildung] Fig. 79.

Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges
(vgl. Archiv f. pathologische Anatomie und Physiologie. Bd. X. S. 190.).
A. Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilia
optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern
aus. B. Die Opticusfasern bei 300 maliger Vergrösserung: a eine blasse,
gewöhnliche, leicht variköse Faser, b eine mit allmählig zunehmender
Markscheide, c eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.

Eilfte Vorlesung.
masse besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös,
die andere faserig ist, sondern nur die, dass die eine Mark
enthält, die andere nicht. Im Allgemeinen kann man den Zu-
stand der Marklosigkeit als etwas Niedereres, Unvollständigeres
bezeichnen, während die Markhaltigkeit eine reichere Ernäh-
rung und Entwicklung des Theiles anzeigt.

Ich habe vor nicht langer Zeit eine Beobachtung gemacht,
wo eine unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zu-
stände in einer sehr unerwarteten Weise hervortrat, indem die
sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige
weisse verwandelt war, nämlich an der Retina. Ich fand näm-
lich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes,
bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Um-
fang der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durch-
scheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie

[Abbildung] Fig. 79
man sie im Kleinen zuweilen bei
Hunden und ziemlich constant bei
Kaninchen in einzelnen Richtun-
gen trifft. Die mikroskopische
Untersuchung ergab, dass in ähn-
licher Weise, wie bei diesen
Thieren, in der Retina markhal-
tige Fasern sich entwickelt hat-
ten, und dass die Faserlage der
Retina durch die Aufnahme von
Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die
einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie
von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach
hinten gegen die Papille verfolgte, sie allmählig an Breite zu-
nahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später
sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark erkennen
liessen. Das ist also eine Art der Umbildung, welche die
[Abbildung] Fig. 79.

Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges
(vgl. Archiv f. pathologische Anatomie und Physiologie. Bd. X. S. 190.).
A. Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilia
optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern
aus. B. Die Opticusfasern bei 300 maliger Vergrösserung: a eine blasse,
gewöhnliche, leicht variköse Faser, b eine mit allmählig zunehmender
Markscheide, c eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.

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[208/0230] Eilfte Vorlesung. masse besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös, die andere faserig ist, sondern nur die, dass die eine Mark enthält, die andere nicht. Im Allgemeinen kann man den Zu- stand der Marklosigkeit als etwas Niedereres, Unvollständigeres bezeichnen, während die Markhaltigkeit eine reichere Ernäh- rung und Entwicklung des Theiles anzeigt. Ich habe vor nicht langer Zeit eine Beobachtung gemacht, wo eine unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zu- stände in einer sehr unerwarteten Weise hervortrat, indem die sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige weisse verwandelt war, nämlich an der Retina. Ich fand näm- lich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes, bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Um- fang der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durch- scheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie [Abbildung Fig. 79] man sie im Kleinen zuweilen bei Hunden und ziemlich constant bei Kaninchen in einzelnen Richtun- gen trifft. Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass in ähn- licher Weise, wie bei diesen Thieren, in der Retina markhal- tige Fasern sich entwickelt hat- ten, und dass die Faserlage der Retina durch die Aufnahme von Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach hinten gegen die Papille verfolgte, sie allmählig an Breite zu- nahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark erkennen liessen. Das ist also eine Art der Umbildung, welche die [Abbildung Fig. 79. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges (vgl. Archiv f. pathologische Anatomie und Physiologie. Bd. X. S. 190.). A. Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilia optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern aus. B. Die Opticusfasern bei 300 maliger Vergrösserung: a eine blasse, gewöhnliche, leicht variköse Faser, b eine mit allmählig zunehmender Markscheide, c eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.]

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/230>, abgerufen am 24.04.2024.