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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Phlebitis.
war aber insofern etwas schwierig, als man sich bald ziemlich
allgemein dahin einigte, dass eine primär eitrige Venenentzün-
dung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von Cruveil-
hier
mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfang immer ein
Blutgerinnsel vorhanden sei. Cruveilhier selbst war durch
diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theo-
rie daran knüpfte, welche über alles medicinische Fassungs-
vermögen hinauslag. Er schloss nämlich aus der Unmöglich-
keit, zu erklären, warum die Entzündungen der Venen mit Ge-
rinnung des Blutes anfangen, dass überhaupt jede Entzündung
in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit,
die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die
Gerinnung zu einem allgemeinen Gesetz erhoben und jede
Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen (Capillarphlebitis)
bezogen wurde. Cruveilhier wurde dazu um so mehr be-
stimmt, als er über andere Krankheitsprozesse ähnliche Vor-
stellungen hegte, und glaubte, dass Cysten, Tuberkeln, Krebs,
kurz alle wichtigen anatomischen Prozesse eigentlich innerhalb
besonderer, von ihm supponirter, kleiner Venen verliefen. Diese
Art zu denken blieb aber so vollständig fremd der grossen
Mehrzahl der gelehrten und ungelehrten Aerzte, dass die ein-
zelnen Schlussthesen von Cruveilhier, die man zum Theil
in seiner Formulirung in die Wissenschaft recipirte, ganz und
gar missverstanden wurden.

Cruveilhier hatte in dem Punkte Recht, der auch seit-
dem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte
Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand der Vene liegt,
sondern immer zuerst in der Mitte des schon vor ihm vorhan-
denen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses
überhaupt bezeichnet. Er stellte sich vor, dass die Eiterse-
cretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass
aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge
der "Capillarität" bis in die Mitte des Coagulums wandere.
Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann
nur annähernd begreift, wenn man, wie dies zu Cruveilhier's
Zeit noch geschehen ist, den Eiter für eine einfache Flüssig-
keit hält. Sieht man aber von diesen höchst dunkeln Deu-
tungen ab, so bleibt die Thatsache stehen, gegen die sich

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Phlebitis.
war aber insofern etwas schwierig, als man sich bald ziemlich
allgemein dahin einigte, dass eine primär eitrige Venenentzün-
dung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von Cruveil-
hier
mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfang immer ein
Blutgerinnsel vorhanden sei. Cruveilhier selbst war durch
diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theo-
rie daran knüpfte, welche über alles medicinische Fassungs-
vermögen hinauslag. Er schloss nämlich aus der Unmöglich-
keit, zu erklären, warum die Entzündungen der Venen mit Ge-
rinnung des Blutes anfangen, dass überhaupt jede Entzündung
in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit,
die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die
Gerinnung zu einem allgemeinen Gesetz erhoben und jede
Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen (Capillarphlebitis)
bezogen wurde. Cruveilhier wurde dazu um so mehr be-
stimmt, als er über andere Krankheitsprozesse ähnliche Vor-
stellungen hegte, und glaubte, dass Cysten, Tuberkeln, Krebs,
kurz alle wichtigen anatomischen Prozesse eigentlich innerhalb
besonderer, von ihm supponirter, kleiner Venen verliefen. Diese
Art zu denken blieb aber so vollständig fremd der grossen
Mehrzahl der gelehrten und ungelehrten Aerzte, dass die ein-
zelnen Schlussthesen von Cruveilhier, die man zum Theil
in seiner Formulirung in die Wissenschaft recipirte, ganz und
gar missverstanden wurden.

Cruveilhier hatte in dem Punkte Recht, der auch seit-
dem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte
Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand der Vene liegt,
sondern immer zuerst in der Mitte des schon vor ihm vorhan-
denen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses
überhaupt bezeichnet. Er stellte sich vor, dass die Eiterse-
cretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass
aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge
der „Capillarität“ bis in die Mitte des Coagulums wandere.
Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann
nur annähernd begreift, wenn man, wie dies zu Cruveilhier’s
Zeit noch geschehen ist, den Eiter für eine einfache Flüssig-
keit hält. Sieht man aber von diesen höchst dunkeln Deu-
tungen ab, so bleibt die Thatsache stehen, gegen die sich

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[177/0199] Phlebitis. war aber insofern etwas schwierig, als man sich bald ziemlich allgemein dahin einigte, dass eine primär eitrige Venenentzün- dung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von Cruveil- hier mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfang immer ein Blutgerinnsel vorhanden sei. Cruveilhier selbst war durch diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theo- rie daran knüpfte, welche über alles medicinische Fassungs- vermögen hinauslag. Er schloss nämlich aus der Unmöglich- keit, zu erklären, warum die Entzündungen der Venen mit Ge- rinnung des Blutes anfangen, dass überhaupt jede Entzündung in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit, die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die Gerinnung zu einem allgemeinen Gesetz erhoben und jede Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen (Capillarphlebitis) bezogen wurde. Cruveilhier wurde dazu um so mehr be- stimmt, als er über andere Krankheitsprozesse ähnliche Vor- stellungen hegte, und glaubte, dass Cysten, Tuberkeln, Krebs, kurz alle wichtigen anatomischen Prozesse eigentlich innerhalb besonderer, von ihm supponirter, kleiner Venen verliefen. Diese Art zu denken blieb aber so vollständig fremd der grossen Mehrzahl der gelehrten und ungelehrten Aerzte, dass die ein- zelnen Schlussthesen von Cruveilhier, die man zum Theil in seiner Formulirung in die Wissenschaft recipirte, ganz und gar missverstanden wurden. Cruveilhier hatte in dem Punkte Recht, der auch seit- dem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand der Vene liegt, sondern immer zuerst in der Mitte des schon vor ihm vorhan- denen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses überhaupt bezeichnet. Er stellte sich vor, dass die Eiterse- cretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge der „Capillarität“ bis in die Mitte des Coagulums wandere. Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann nur annähernd begreift, wenn man, wie dies zu Cruveilhier’s Zeit noch geschehen ist, den Eiter für eine einfache Flüssig- keit hält. Sieht man aber von diesen höchst dunkeln Deu- tungen ab, so bleibt die Thatsache stehen, gegen die sich 12

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/199>, abgerufen am 25.04.2024.