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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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ganz geschwätzig sein dürfen, um gerne zu sprechen; müßte
alles erörtern, erklären, und herleiten dürfen, um nur von ir-
gend etwas sprechen zu mögen. Dazu greift mich Schreiben
zu sehr an, und die Neugier die Briefe zu sehr! -- Glauben
Sie mir indeß so viel, bis Sie Einmal selbst vor einem sol-
chen Ereigniß stehen: es ist nicht erfreulich, nach längerer Ab-
wesenheit, wenn man nicht in halber Kindheit abgereist ist,
und in Jugend ankommt, nach der Heimath zurückzukommen!
Erstlich, hab' ich keine eigentliche Heimath, keine materielle.
Weder Haus, noch Hof, noch Garten, noch irgend einen Be-
sitzer solcher Dinge, zu dem ich wirklich gehörte; ich sehe also
lauter veralterte Figuren; treffe verjährte Gesinnungen, abge-
tragene Meinungen, verparktes Wissen; und auf all dieses,
verstockten Stolz! Mir bleibt Schweigen: aber ich rede viel,
aber nur um das, was ich eigentlich sagen möchte, herum:
d. h. ich lüge nicht, sage aber das Wahre nur in Scherz
und Ernst über solche Gegenstände, die niemand und nichts
berühren, und woraus die Wahrheit hervorginge, wenn man
sie hinausließe.

Vorgestern sah ich Sappho von Mlle. Maas. Da war
die Herzogin Cumberland als eine Art von Großmama in der
Mittelloge, ihren Sohn und Schwiegertochter zur Seite --
sonst sah ich sie selbst als junges Prinzeßchen dort. -- Im
Orchester war Möser Konzertmeister mit gräulichem Kopf, --
sonst sah ich ihn eben so geschickt unter Righini in den Wun-
deropern Possen treiben, und so jung er war, fast allein den
Sinn des Meisters und die Art der Sänger auffassen, aus-
üben, und ihm nachgeben, die andern leitend. -- Die engen

ganz geſchwätzig ſein dürfen, um gerne zu ſprechen; müßte
alles erörtern, erklären, und herleiten dürfen, um nur von ir-
gend etwas ſprechen zu mögen. Dazu greift mich Schreiben
zu ſehr an, und die Neugier die Briefe zu ſehr! — Glauben
Sie mir indeß ſo viel, bis Sie Einmal ſelbſt vor einem ſol-
chen Ereigniß ſtehen: es iſt nicht erfreulich, nach längerer Ab-
weſenheit, wenn man nicht in halber Kindheit abgereiſt iſt,
und in Jugend ankommt, nach der Heimath zurückzukommen!
Erſtlich, hab’ ich keine eigentliche Heimath, keine materielle.
Weder Haus, noch Hof, noch Garten, noch irgend einen Be-
ſitzer ſolcher Dinge, zu dem ich wirklich gehörte; ich ſehe alſo
lauter veralterte Figuren; treffe verjährte Geſinnungen, abge-
tragene Meinungen, verparktes Wiſſen; und auf all dieſes,
verſtockten Stolz! Mir bleibt Schweigen: aber ich rede viel,
aber nur um das, was ich eigentlich ſagen möchte, herum:
d. h. ich lüge nicht, ſage aber das Wahre nur in Scherz
und Ernſt über ſolche Gegenſtände, die niemand und nichts
berühren, und woraus die Wahrheit hervorginge, wenn man
ſie hinausließe.

Vorgeſtern ſah ich Sappho von Mlle. Maas. Da war
die Herzogin Cumberland als eine Art von Großmama in der
Mittelloge, ihren Sohn und Schwiegertochter zur Seite —
ſonſt ſah ich ſie ſelbſt als junges Prinzeßchen dort. — Im
Orcheſter war Möſer Konzertmeiſter mit gräulichem Kopf, —
ſonſt ſah ich ihn eben ſo geſchickt unter Righini in den Wun-
deropern Poſſen treiben, und ſo jung er war, faſt allein den
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üben, und ihm nachgeben, die andern leitend. — Die engen

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[603/0611] ganz geſchwätzig ſein dürfen, um gerne zu ſprechen; müßte alles erörtern, erklären, und herleiten dürfen, um nur von ir- gend etwas ſprechen zu mögen. Dazu greift mich Schreiben zu ſehr an, und die Neugier die Briefe zu ſehr! — Glauben Sie mir indeß ſo viel, bis Sie Einmal ſelbſt vor einem ſol- chen Ereigniß ſtehen: es iſt nicht erfreulich, nach längerer Ab- weſenheit, wenn man nicht in halber Kindheit abgereiſt iſt, und in Jugend ankommt, nach der Heimath zurückzukommen! Erſtlich, hab’ ich keine eigentliche Heimath, keine materielle. Weder Haus, noch Hof, noch Garten, noch irgend einen Be- ſitzer ſolcher Dinge, zu dem ich wirklich gehörte; ich ſehe alſo lauter veralterte Figuren; treffe verjährte Geſinnungen, abge- tragene Meinungen, verparktes Wiſſen; und auf all dieſes, verſtockten Stolz! Mir bleibt Schweigen: aber ich rede viel, aber nur um das, was ich eigentlich ſagen möchte, herum: d. h. ich lüge nicht, ſage aber das Wahre nur in Scherz und Ernſt über ſolche Gegenſtände, die niemand und nichts berühren, und woraus die Wahrheit hervorginge, wenn man ſie hinausließe. Vorgeſtern ſah ich Sappho von Mlle. Maas. Da war die Herzogin Cumberland als eine Art von Großmama in der Mittelloge, ihren Sohn und Schwiegertochter zur Seite — ſonſt ſah ich ſie ſelbſt als junges Prinzeßchen dort. — Im Orcheſter war Möſer Konzertmeiſter mit gräulichem Kopf, — ſonſt ſah ich ihn eben ſo geſchickt unter Righini in den Wun- deropern Poſſen treiben, und ſo jung er war, faſt allein den Sinn des Meiſters und die Art der Sänger auffaſſen, aus- üben, und ihm nachgeben, die andern leitend. — Die engen

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/611>, abgerufen am 16.04.2024.