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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
schwänglichen Beinamen des Londoner Quadrupel-Allianz-Vertrags erhielt.
Der Sultan versprach, dem Pascha die erbliche Verwaltung Aegyptens
und für Lebenszeit das Paschalik Akkon zu überlassen; die vier Mächte
verpflichteten sich Mehemed Ali gemeinsam zur Annahme zu bewegen und
"behielten sich vor, zu diesem Zwecke zusammenzuwirken nach dem Maße der
Machtmittel (moyens d'action), worüber jede von ihnen verfügen kann."
Diese letzte Clausel hatte Bülow durchgesetzt um nöthigenfalls erklären zu
können, daß Preußen gegen den Aegypter überhaupt keine moyens d'action,
außer der moralischen Unterstützung, besitze. Zunächst dachten England und
Oesterreich mit ihren Flotten einzuschreiten; rückten die Aegypter durch
Kleinasien vor, dann wollten die vier Mächte sich noch verabreden wegen
gemeinsamer Sicherung Konstantinopels zu Lande und zur See. In Zu-
kunft aber sollten beide Meerengen, Bosporus und Dardanellen, zu
Friedenszeiten allen Nationen verschlossen bleiben. Damit gab der Czar
den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi auf. Dieser großmüthige Verzicht be-
deutete freilich wenig; denn der Vertrag ging ohnehin zu Ende, Rußland
aber blieb auch jetzt noch der Beherrscher des Pontus und, nach seiner
geographischen Stellung, der nächstberufene Beschützer Stambuls. Da
Gefahr im Verzuge war, so nahmen die Gesandten, wie Bülow gerathen
hatte, Alles auf ihren Kopf und verabredeten, ohne die Ratificationen ab-
zuwarten, die sofortige Absendung der englisch-österreichischen Flotte.

In Berlin erregten diese Nachrichten zugleich Freude und Besorgniß.
Unzweifelhaft hatte Bülow seine Instruktionen eigenmächtig übertreten, ob-
gleich er allerdings im Augenblicke des Abschlusses die beiden neuesten Wei-
sungen noch nicht besaß, welche ihm ausdrücklich anbefahlen, einen Vierer-
Vertrag nicht eher zu unterzeichnen, als bis die drei anderen Mächte die
Neutralität Preußens für den Kriegsfall förmlich anerkannt hätten.*)
Dem preußischen Hofe standen jetzt zwei Wege offen. Er mußte entweder
den ungehorsamen Gesandten abrufen und die Ratification verweigern,
oder wenn er das Geschehene billigte den Vertrag kurzweg genehmigen
und dessen gefährliche Folgen muthig auf sich nehmen. Einem stolzen
Staate stand es wahrlich übel an, zuerst die anderen Mächte zu kühnen
Thaten zu ermuntern und dann sich selber für neutral zu erklären. Gleich-
wohl glaubte der neue König diesen dritten Weg gehen zu können. Schon
bei dieser ersten an ihn herantretenden großen Aufgabe europäischer Politik
zeigte sich seine verhängnißvolle Vorliebe für unhaltbare diplomatische Stel-
lungen, für Alles was vom schlichten Menschenverstande abwich. Er wollte
Bülow's eigenmächtige Schritte billigen; denn er hielt es für seine könig-
liche Pflicht, den legitimen Sultan im Kampfe gegen den revolutionären
Aegypter zu unterstützen, und mit Freuden begrüßte er die Versöhnung
seines geliebten Englands mit den Ostmächten. Bei dieser diplomatischen

*) Werther, Weisungen an Bülow, 16. 18. Juli 1840.

V. 2. Die Kriegsgefahr.
ſchwänglichen Beinamen des Londoner Quadrupel-Allianz-Vertrags erhielt.
Der Sultan verſprach, dem Paſcha die erbliche Verwaltung Aegyptens
und für Lebenszeit das Paſchalik Akkon zu überlaſſen; die vier Mächte
verpflichteten ſich Mehemed Ali gemeinſam zur Annahme zu bewegen und
„behielten ſich vor, zu dieſem Zwecke zuſammenzuwirken nach dem Maße der
Machtmittel (moyens d’action), worüber jede von ihnen verfügen kann.“
Dieſe letzte Clauſel hatte Bülow durchgeſetzt um nöthigenfalls erklären zu
können, daß Preußen gegen den Aegypter überhaupt keine moyens d’action,
außer der moraliſchen Unterſtützung, beſitze. Zunächſt dachten England und
Oeſterreich mit ihren Flotten einzuſchreiten; rückten die Aegypter durch
Kleinaſien vor, dann wollten die vier Mächte ſich noch verabreden wegen
gemeinſamer Sicherung Konſtantinopels zu Lande und zur See. In Zu-
kunft aber ſollten beide Meerengen, Bosporus und Dardanellen, zu
Friedenszeiten allen Nationen verſchloſſen bleiben. Damit gab der Czar
den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi auf. Dieſer großmüthige Verzicht be-
deutete freilich wenig; denn der Vertrag ging ohnehin zu Ende, Rußland
aber blieb auch jetzt noch der Beherrſcher des Pontus und, nach ſeiner
geographiſchen Stellung, der nächſtberufene Beſchützer Stambuls. Da
Gefahr im Verzuge war, ſo nahmen die Geſandten, wie Bülow gerathen
hatte, Alles auf ihren Kopf und verabredeten, ohne die Ratificationen ab-
zuwarten, die ſofortige Abſendung der engliſch-öſterreichiſchen Flotte.

In Berlin erregten dieſe Nachrichten zugleich Freude und Beſorgniß.
Unzweifelhaft hatte Bülow ſeine Inſtruktionen eigenmächtig übertreten, ob-
gleich er allerdings im Augenblicke des Abſchluſſes die beiden neueſten Wei-
ſungen noch nicht beſaß, welche ihm ausdrücklich anbefahlen, einen Vierer-
Vertrag nicht eher zu unterzeichnen, als bis die drei anderen Mächte die
Neutralität Preußens für den Kriegsfall förmlich anerkannt hätten.*)
Dem preußiſchen Hofe ſtanden jetzt zwei Wege offen. Er mußte entweder
den ungehorſamen Geſandten abrufen und die Ratification verweigern,
oder wenn er das Geſchehene billigte den Vertrag kurzweg genehmigen
und deſſen gefährliche Folgen muthig auf ſich nehmen. Einem ſtolzen
Staate ſtand es wahrlich übel an, zuerſt die anderen Mächte zu kühnen
Thaten zu ermuntern und dann ſich ſelber für neutral zu erklären. Gleich-
wohl glaubte der neue König dieſen dritten Weg gehen zu können. Schon
bei dieſer erſten an ihn herantretenden großen Aufgabe europäiſcher Politik
zeigte ſich ſeine verhängnißvolle Vorliebe für unhaltbare diplomatiſche Stel-
lungen, für Alles was vom ſchlichten Menſchenverſtande abwich. Er wollte
Bülow’s eigenmächtige Schritte billigen; denn er hielt es für ſeine könig-
liche Pflicht, den legitimen Sultan im Kampfe gegen den revolutionären
Aegypter zu unterſtützen, und mit Freuden begrüßte er die Verſöhnung
ſeines geliebten Englands mit den Oſtmächten. Bei dieſer diplomatiſchen

*) Werther, Weiſungen an Bülow, 16. 18. Juli 1840.
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[78/0092] V. 2. Die Kriegsgefahr. ſchwänglichen Beinamen des Londoner Quadrupel-Allianz-Vertrags erhielt. Der Sultan verſprach, dem Paſcha die erbliche Verwaltung Aegyptens und für Lebenszeit das Paſchalik Akkon zu überlaſſen; die vier Mächte verpflichteten ſich Mehemed Ali gemeinſam zur Annahme zu bewegen und „behielten ſich vor, zu dieſem Zwecke zuſammenzuwirken nach dem Maße der Machtmittel (moyens d’action), worüber jede von ihnen verfügen kann.“ Dieſe letzte Clauſel hatte Bülow durchgeſetzt um nöthigenfalls erklären zu können, daß Preußen gegen den Aegypter überhaupt keine moyens d’action, außer der moraliſchen Unterſtützung, beſitze. Zunächſt dachten England und Oeſterreich mit ihren Flotten einzuſchreiten; rückten die Aegypter durch Kleinaſien vor, dann wollten die vier Mächte ſich noch verabreden wegen gemeinſamer Sicherung Konſtantinopels zu Lande und zur See. In Zu- kunft aber ſollten beide Meerengen, Bosporus und Dardanellen, zu Friedenszeiten allen Nationen verſchloſſen bleiben. Damit gab der Czar den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi auf. Dieſer großmüthige Verzicht be- deutete freilich wenig; denn der Vertrag ging ohnehin zu Ende, Rußland aber blieb auch jetzt noch der Beherrſcher des Pontus und, nach ſeiner geographiſchen Stellung, der nächſtberufene Beſchützer Stambuls. Da Gefahr im Verzuge war, ſo nahmen die Geſandten, wie Bülow gerathen hatte, Alles auf ihren Kopf und verabredeten, ohne die Ratificationen ab- zuwarten, die ſofortige Abſendung der engliſch-öſterreichiſchen Flotte. In Berlin erregten dieſe Nachrichten zugleich Freude und Beſorgniß. Unzweifelhaft hatte Bülow ſeine Inſtruktionen eigenmächtig übertreten, ob- gleich er allerdings im Augenblicke des Abſchluſſes die beiden neueſten Wei- ſungen noch nicht beſaß, welche ihm ausdrücklich anbefahlen, einen Vierer- Vertrag nicht eher zu unterzeichnen, als bis die drei anderen Mächte die Neutralität Preußens für den Kriegsfall förmlich anerkannt hätten. *) Dem preußiſchen Hofe ſtanden jetzt zwei Wege offen. Er mußte entweder den ungehorſamen Geſandten abrufen und die Ratification verweigern, oder wenn er das Geſchehene billigte den Vertrag kurzweg genehmigen und deſſen gefährliche Folgen muthig auf ſich nehmen. Einem ſtolzen Staate ſtand es wahrlich übel an, zuerſt die anderen Mächte zu kühnen Thaten zu ermuntern und dann ſich ſelber für neutral zu erklären. Gleich- wohl glaubte der neue König dieſen dritten Weg gehen zu können. Schon bei dieſer erſten an ihn herantretenden großen Aufgabe europäiſcher Politik zeigte ſich ſeine verhängnißvolle Vorliebe für unhaltbare diplomatiſche Stel- lungen, für Alles was vom ſchlichten Menſchenverſtande abwich. Er wollte Bülow’s eigenmächtige Schritte billigen; denn er hielt es für ſeine könig- liche Pflicht, den legitimen Sultan im Kampfe gegen den revolutionären Aegypter zu unterſtützen, und mit Freuden begrüßte er die Verſöhnung ſeines geliebten Englands mit den Oſtmächten. Bei dieſer diplomatiſchen *) Werther, Weiſungen an Bülow, 16. 18. Juli 1840.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/92>, abgerufen am 19.04.2024.