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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.
Verständniß für das geistige Leben der Nation, eine Theilnahme, die aller-
dings nicht in die Tiefe ging; denn Prinz Albert war, wie alle Coburger,
ohne warmes religiöses Gefühl, eine schwunglose prosaische Natur, die
sich leicht daran gewöhnte, nach englischer Weise Alles very interesting
zu finden; er hatte sich zu Brüssel tief eingelebt in die mechanische Welt-
anschauung des Statistikers Quetelet, der alle Erscheinungen des socialen
Lebens, auch die sittlichen, aus dem Walten blinder Naturgesetze erklärte.
Das Kunstgewerbe stand ihm höher als die Kunst, die Technik höher als
die Wissenschaft, das Merkwürdige höher als das Ideale. Den eigen-
thümlich trockenen Ton dieses sittsamen Hofes gaben späterhin Victoria's
"Blätter aus unserem Leben in den Hochlanden" getreulich wieder, unbe-
streitbar das langweiligste unter den vielgenannten Büchern des neunzehn-
ten Jahrhunderts.

Der Prinz betrachtete, gleich seinem Oheim Leopold, den Oranier
Wilhelm III. als sein Muster, und obwohl er weder die Macht noch das
Genie seines Vorbildes besaß, so wirkte er doch auf die Entwicklung der
englischen Verfassung nachhaltig ein. Er gewöhnte die Krone, ohne Wider-
spänstigkeit und unter Wahrung der äußeren Würde die neutrale Stellung
einzunehmen, welche ihr nach dem Verlaufe der Geschichte dieses Landes
allein noch zukam: die Stellung nicht über, sondern unter den Parteien.
Als er nach England kam, fand er die Whigs noch am Ruder und die
Königin ernstlich gewillt die Freunde ihrer Jugend im Besitze der Macht
zu erhalten. Albert selbst stand als Fremdling den Parteien unbefangener
gegenüber und wurde von seinem getreuen Stockmar dringend ermahnt
sich diese Freiheit zu erhalten. Als nun die Whig-Regierung bald nach
ihrem letzten Erfolge, dem Meerengen-Vertrage rettungslos zusammen-
brach, da war er es, der die Königin bewog, den jetzt unvermeidlichen
Torys mit Wohlwollen entgegenzukommen und selbst die Damen ihrer
Umgebung aus den Reihen der herrschenden Partei zu wählen. In späteren
Jahren trug er sich mehrmals mit der Absicht die Macht der Krone zu
verstärken, den persönlichen Willen des Monarchen nach deutscher Weise
zur Geltung zu bringen. Sobald er jedoch die Unmöglichkeit solcher
Pläne erkannte, gab er seiner Gemahlin den Rath, jedes Ministerium,
das der Mehrheit im Parlamente sicher sei, ohne Hintergedanken zu unter-
stützen. Der Rath wirkte, und die Krone ward nach und nach so an-
spruchslos, daß die Königin nicht einmal mehr wagte bei der Wahl der
Personen für das Cabinet mitzureden, sondern dem leitenden Staats-
manne der Mehrheit des Unterhauses die Bildung der neuen Regierung
stets unbeschränkt überließ.

Fortan herrschte Eintracht zwischen Krone und Parlament, während die
früheren Könige des Welfenhauses unwillkommene Minister immer durch
kleine Bosheiten zu schädigen gesucht hatten; und es ergab sich, daß eine
klug berathene Frau die Rolle eines parlamentarischen Schattenkönigs fast

V. 2. Die Kriegsgefahr.
Verſtändniß für das geiſtige Leben der Nation, eine Theilnahme, die aller-
dings nicht in die Tiefe ging; denn Prinz Albert war, wie alle Coburger,
ohne warmes religiöſes Gefühl, eine ſchwungloſe proſaiſche Natur, die
ſich leicht daran gewöhnte, nach engliſcher Weiſe Alles very interesting
zu finden; er hatte ſich zu Brüſſel tief eingelebt in die mechaniſche Welt-
anſchauung des Statiſtikers Quetelet, der alle Erſcheinungen des ſocialen
Lebens, auch die ſittlichen, aus dem Walten blinder Naturgeſetze erklärte.
Das Kunſtgewerbe ſtand ihm höher als die Kunſt, die Technik höher als
die Wiſſenſchaft, das Merkwürdige höher als das Ideale. Den eigen-
thümlich trockenen Ton dieſes ſittſamen Hofes gaben ſpäterhin Victoria’s
„Blätter aus unſerem Leben in den Hochlanden“ getreulich wieder, unbe-
ſtreitbar das langweiligſte unter den vielgenannten Büchern des neunzehn-
ten Jahrhunderts.

Der Prinz betrachtete, gleich ſeinem Oheim Leopold, den Oranier
Wilhelm III. als ſein Muſter, und obwohl er weder die Macht noch das
Genie ſeines Vorbildes beſaß, ſo wirkte er doch auf die Entwicklung der
engliſchen Verfaſſung nachhaltig ein. Er gewöhnte die Krone, ohne Wider-
ſpänſtigkeit und unter Wahrung der äußeren Würde die neutrale Stellung
einzunehmen, welche ihr nach dem Verlaufe der Geſchichte dieſes Landes
allein noch zukam: die Stellung nicht über, ſondern unter den Parteien.
Als er nach England kam, fand er die Whigs noch am Ruder und die
Königin ernſtlich gewillt die Freunde ihrer Jugend im Beſitze der Macht
zu erhalten. Albert ſelbſt ſtand als Fremdling den Parteien unbefangener
gegenüber und wurde von ſeinem getreuen Stockmar dringend ermahnt
ſich dieſe Freiheit zu erhalten. Als nun die Whig-Regierung bald nach
ihrem letzten Erfolge, dem Meerengen-Vertrage rettungslos zuſammen-
brach, da war er es, der die Königin bewog, den jetzt unvermeidlichen
Torys mit Wohlwollen entgegenzukommen und ſelbſt die Damen ihrer
Umgebung aus den Reihen der herrſchenden Partei zu wählen. In ſpäteren
Jahren trug er ſich mehrmals mit der Abſicht die Macht der Krone zu
verſtärken, den perſönlichen Willen des Monarchen nach deutſcher Weiſe
zur Geltung zu bringen. Sobald er jedoch die Unmöglichkeit ſolcher
Pläne erkannte, gab er ſeiner Gemahlin den Rath, jedes Miniſterium,
das der Mehrheit im Parlamente ſicher ſei, ohne Hintergedanken zu unter-
ſtützen. Der Rath wirkte, und die Krone ward nach und nach ſo an-
ſpruchslos, daß die Königin nicht einmal mehr wagte bei der Wahl der
Perſonen für das Cabinet mitzureden, ſondern dem leitenden Staats-
manne der Mehrheit des Unterhauſes die Bildung der neuen Regierung
ſtets unbeſchränkt überließ.

Fortan herrſchte Eintracht zwiſchen Krone und Parlament, während die
früheren Könige des Welfenhauſes unwillkommene Miniſter immer durch
kleine Bosheiten zu ſchädigen geſucht hatten; und es ergab ſich, daß eine
klug berathene Frau die Rolle eines parlamentariſchen Schattenkönigs faſt

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[128/0142] V. 2. Die Kriegsgefahr. Verſtändniß für das geiſtige Leben der Nation, eine Theilnahme, die aller- dings nicht in die Tiefe ging; denn Prinz Albert war, wie alle Coburger, ohne warmes religiöſes Gefühl, eine ſchwungloſe proſaiſche Natur, die ſich leicht daran gewöhnte, nach engliſcher Weiſe Alles very interesting zu finden; er hatte ſich zu Brüſſel tief eingelebt in die mechaniſche Welt- anſchauung des Statiſtikers Quetelet, der alle Erſcheinungen des ſocialen Lebens, auch die ſittlichen, aus dem Walten blinder Naturgeſetze erklärte. Das Kunſtgewerbe ſtand ihm höher als die Kunſt, die Technik höher als die Wiſſenſchaft, das Merkwürdige höher als das Ideale. Den eigen- thümlich trockenen Ton dieſes ſittſamen Hofes gaben ſpäterhin Victoria’s „Blätter aus unſerem Leben in den Hochlanden“ getreulich wieder, unbe- ſtreitbar das langweiligſte unter den vielgenannten Büchern des neunzehn- ten Jahrhunderts. Der Prinz betrachtete, gleich ſeinem Oheim Leopold, den Oranier Wilhelm III. als ſein Muſter, und obwohl er weder die Macht noch das Genie ſeines Vorbildes beſaß, ſo wirkte er doch auf die Entwicklung der engliſchen Verfaſſung nachhaltig ein. Er gewöhnte die Krone, ohne Wider- ſpänſtigkeit und unter Wahrung der äußeren Würde die neutrale Stellung einzunehmen, welche ihr nach dem Verlaufe der Geſchichte dieſes Landes allein noch zukam: die Stellung nicht über, ſondern unter den Parteien. Als er nach England kam, fand er die Whigs noch am Ruder und die Königin ernſtlich gewillt die Freunde ihrer Jugend im Beſitze der Macht zu erhalten. Albert ſelbſt ſtand als Fremdling den Parteien unbefangener gegenüber und wurde von ſeinem getreuen Stockmar dringend ermahnt ſich dieſe Freiheit zu erhalten. Als nun die Whig-Regierung bald nach ihrem letzten Erfolge, dem Meerengen-Vertrage rettungslos zuſammen- brach, da war er es, der die Königin bewog, den jetzt unvermeidlichen Torys mit Wohlwollen entgegenzukommen und ſelbſt die Damen ihrer Umgebung aus den Reihen der herrſchenden Partei zu wählen. In ſpäteren Jahren trug er ſich mehrmals mit der Abſicht die Macht der Krone zu verſtärken, den perſönlichen Willen des Monarchen nach deutſcher Weiſe zur Geltung zu bringen. Sobald er jedoch die Unmöglichkeit ſolcher Pläne erkannte, gab er ſeiner Gemahlin den Rath, jedes Miniſterium, das der Mehrheit im Parlamente ſicher ſei, ohne Hintergedanken zu unter- ſtützen. Der Rath wirkte, und die Krone ward nach und nach ſo an- ſpruchslos, daß die Königin nicht einmal mehr wagte bei der Wahl der Perſonen für das Cabinet mitzureden, ſondern dem leitenden Staats- manne der Mehrheit des Unterhauſes die Bildung der neuen Regierung ſtets unbeſchränkt überließ. Fortan herrſchte Eintracht zwiſchen Krone und Parlament, während die früheren Könige des Welfenhauſes unwillkommene Miniſter immer durch kleine Bosheiten zu ſchädigen geſucht hatten; und es ergab ſich, daß eine klug berathene Frau die Rolle eines parlamentariſchen Schattenkönigs faſt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/142>, abgerufen am 29.03.2024.