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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Der Meerengen-Vertrag.

Dergestalt nahm dieser große diplomatische Kampf, der langwie-
rigste welchen Europa seit dem belgischen Streite erlebt hatte, ein armse-
liges Ende. Im Grunde konnte sich nur der Sultan des Ausgangs freuen.
Er war durch die vier Mächte vor den Folgen einer schmählichen Nieder-
lage bewahrt worden und durfte nunmehr hoffen, unbelästigt durch einen
thatkräftigen Hausmeier sein nichtiges Schlummerleben noch eine gute
Weile fortzuführen. Selbst die Erbherrschaft des Rebellen am Nil ließ
sich zur Noth ertragen. Den Osmanen galt sie keineswegs für eine un-
abänderliche Thatsache, weil Mehemed Ali's Geschlecht nicht heilig war
und der Orient ein gesichertes Thronfolgerecht kaum kennt. Die Fäul-
niß des Reiches der Sultane hatte sich freilich so grell offenbart, daß
sogar H. v. Moltke, der den Türken so viel edle Kraft geopfert hatte, jetzt
in der Allgemeinen Zeitung rundweg aussprach, ein christlich-byzantinisches
Reich müsse dereinst die Erbschaft am Bosporus antreten. Vorläufig je-
doch stand der Halbmond auf der Kuppel der Hagia Sophia wieder fest,
und bei der Eifersucht der Franken blieb es sehr zweifelhaft, wann jemals
das Kreuz wieder über dem Christendome Justinian's glänzen würde. Noch
mehr, die Türkei war jetzt zum ersten male in eine europäische Conferenz
als vertragschließende Macht eingetreten und hatte also, vornehmlich
durch Englands Schuld, in der Völkergesellschaft des Abendlandes eine
Stellung erlangt, welche ihr in keiner Weise gebührte; denn das euro-
päische Völkerrecht beruht auf der christlichen Idee der Verbrüderung der
Nationen, der Koran hingegen kennt nur zwei Reiche auf Erden, das
Reich des Islams und das Reich des Krieges, mithin darf ein muha-
medanischer Staat die Grundgedanken völkerrechtlicher Gleichheit und
Gegenseitigkeit nicht ehrlich anerkennen. Die vielverheißene Gleichberech-
tigung der Rajahvölker mußte ein leeres Wort bleiben, weil die Herr-
schaft der Gläubigen über die Ungläubigen eben das Wesen dieser un-
wandelbaren theokratischen Verfassung ausmachte; noch immer diente kein
einziger Christ im türkischen Heer, das ja ausdrücklich zur Knebelung der
Christen bestimmt war. Die Aufnahme eines solchen Staates in die
Rechtsgemeinschaft der christlichen Völker war eine häßliche Unwahrheit;
sie wurde jedoch von der aufgeklärten liberalen Welt, die sich der christlichen
Grundlagen unserer Cultur nur ungern erinnerte, als ein erfreulicher Fort-
schritt der Gesittung gepriesen; praktisch schien sie darum erträglich, weil
die Pforte im Gefühle ihrer Schwäche sich bald von einer bald von meh-
reren der christlichen Mächte leiten ließ.

Wie man in Petersburg die Londoner Verträge ansah, das hat Nessel-
rode 1850 ausgesprochen in einem Rechenschaftsberichte über die auswärtige
Politik des letzten Vierteljahrhunderts, den er dem Czaren zum Regierungs-
jubelfeste überreichte. Da schilderte er -- aufrichtig wie er unter vier
Augen sprechen durfte, und mit einer fast mongolischen Ruhmredigkeit:
-- erst die Julirevolution habe der Regierung des Kaisers "den wahren

Der Meerengen-Vertrag.

Dergeſtalt nahm dieſer große diplomatiſche Kampf, der langwie-
rigſte welchen Europa ſeit dem belgiſchen Streite erlebt hatte, ein armſe-
liges Ende. Im Grunde konnte ſich nur der Sultan des Ausgangs freuen.
Er war durch die vier Mächte vor den Folgen einer ſchmählichen Nieder-
lage bewahrt worden und durfte nunmehr hoffen, unbeläſtigt durch einen
thatkräftigen Hausmeier ſein nichtiges Schlummerleben noch eine gute
Weile fortzuführen. Selbſt die Erbherrſchaft des Rebellen am Nil ließ
ſich zur Noth ertragen. Den Osmanen galt ſie keineswegs für eine un-
abänderliche Thatſache, weil Mehemed Ali’s Geſchlecht nicht heilig war
und der Orient ein geſichertes Thronfolgerecht kaum kennt. Die Fäul-
niß des Reiches der Sultane hatte ſich freilich ſo grell offenbart, daß
ſogar H. v. Moltke, der den Türken ſo viel edle Kraft geopfert hatte, jetzt
in der Allgemeinen Zeitung rundweg ausſprach, ein chriſtlich-byzantiniſches
Reich müſſe dereinſt die Erbſchaft am Bosporus antreten. Vorläufig je-
doch ſtand der Halbmond auf der Kuppel der Hagia Sophia wieder feſt,
und bei der Eiferſucht der Franken blieb es ſehr zweifelhaft, wann jemals
das Kreuz wieder über dem Chriſtendome Juſtinian’s glänzen würde. Noch
mehr, die Türkei war jetzt zum erſten male in eine europäiſche Conferenz
als vertragſchließende Macht eingetreten und hatte alſo, vornehmlich
durch Englands Schuld, in der Völkergeſellſchaft des Abendlandes eine
Stellung erlangt, welche ihr in keiner Weiſe gebührte; denn das euro-
päiſche Völkerrecht beruht auf der chriſtlichen Idee der Verbrüderung der
Nationen, der Koran hingegen kennt nur zwei Reiche auf Erden, das
Reich des Islams und das Reich des Krieges, mithin darf ein muha-
medaniſcher Staat die Grundgedanken völkerrechtlicher Gleichheit und
Gegenſeitigkeit nicht ehrlich anerkennen. Die vielverheißene Gleichberech-
tigung der Rajahvölker mußte ein leeres Wort bleiben, weil die Herr-
ſchaft der Gläubigen über die Ungläubigen eben das Weſen dieſer un-
wandelbaren theokratiſchen Verfaſſung ausmachte; noch immer diente kein
einziger Chriſt im türkiſchen Heer, das ja ausdrücklich zur Knebelung der
Chriſten beſtimmt war. Die Aufnahme eines ſolchen Staates in die
Rechtsgemeinſchaft der chriſtlichen Völker war eine häßliche Unwahrheit;
ſie wurde jedoch von der aufgeklärten liberalen Welt, die ſich der chriſtlichen
Grundlagen unſerer Cultur nur ungern erinnerte, als ein erfreulicher Fort-
ſchritt der Geſittung geprieſen; praktiſch ſchien ſie darum erträglich, weil
die Pforte im Gefühle ihrer Schwäche ſich bald von einer bald von meh-
reren der chriſtlichen Mächte leiten ließ.

Wie man in Petersburg die Londoner Verträge anſah, das hat Neſſel-
rode 1850 ausgeſprochen in einem Rechenſchaftsberichte über die auswärtige
Politik des letzten Vierteljahrhunderts, den er dem Czaren zum Regierungs-
jubelfeſte überreichte. Da ſchilderte er — aufrichtig wie er unter vier
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— erſt die Julirevolution habe der Regierung des Kaiſers „den wahren

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[117/0131] Der Meerengen-Vertrag. Dergeſtalt nahm dieſer große diplomatiſche Kampf, der langwie- rigſte welchen Europa ſeit dem belgiſchen Streite erlebt hatte, ein armſe- liges Ende. Im Grunde konnte ſich nur der Sultan des Ausgangs freuen. Er war durch die vier Mächte vor den Folgen einer ſchmählichen Nieder- lage bewahrt worden und durfte nunmehr hoffen, unbeläſtigt durch einen thatkräftigen Hausmeier ſein nichtiges Schlummerleben noch eine gute Weile fortzuführen. Selbſt die Erbherrſchaft des Rebellen am Nil ließ ſich zur Noth ertragen. Den Osmanen galt ſie keineswegs für eine un- abänderliche Thatſache, weil Mehemed Ali’s Geſchlecht nicht heilig war und der Orient ein geſichertes Thronfolgerecht kaum kennt. Die Fäul- niß des Reiches der Sultane hatte ſich freilich ſo grell offenbart, daß ſogar H. v. Moltke, der den Türken ſo viel edle Kraft geopfert hatte, jetzt in der Allgemeinen Zeitung rundweg ausſprach, ein chriſtlich-byzantiniſches Reich müſſe dereinſt die Erbſchaft am Bosporus antreten. Vorläufig je- doch ſtand der Halbmond auf der Kuppel der Hagia Sophia wieder feſt, und bei der Eiferſucht der Franken blieb es ſehr zweifelhaft, wann jemals das Kreuz wieder über dem Chriſtendome Juſtinian’s glänzen würde. Noch mehr, die Türkei war jetzt zum erſten male in eine europäiſche Conferenz als vertragſchließende Macht eingetreten und hatte alſo, vornehmlich durch Englands Schuld, in der Völkergeſellſchaft des Abendlandes eine Stellung erlangt, welche ihr in keiner Weiſe gebührte; denn das euro- päiſche Völkerrecht beruht auf der chriſtlichen Idee der Verbrüderung der Nationen, der Koran hingegen kennt nur zwei Reiche auf Erden, das Reich des Islams und das Reich des Krieges, mithin darf ein muha- medaniſcher Staat die Grundgedanken völkerrechtlicher Gleichheit und Gegenſeitigkeit nicht ehrlich anerkennen. Die vielverheißene Gleichberech- tigung der Rajahvölker mußte ein leeres Wort bleiben, weil die Herr- ſchaft der Gläubigen über die Ungläubigen eben das Weſen dieſer un- wandelbaren theokratiſchen Verfaſſung ausmachte; noch immer diente kein einziger Chriſt im türkiſchen Heer, das ja ausdrücklich zur Knebelung der Chriſten beſtimmt war. Die Aufnahme eines ſolchen Staates in die Rechtsgemeinſchaft der chriſtlichen Völker war eine häßliche Unwahrheit; ſie wurde jedoch von der aufgeklärten liberalen Welt, die ſich der chriſtlichen Grundlagen unſerer Cultur nur ungern erinnerte, als ein erfreulicher Fort- ſchritt der Geſittung geprieſen; praktiſch ſchien ſie darum erträglich, weil die Pforte im Gefühle ihrer Schwäche ſich bald von einer bald von meh- reren der chriſtlichen Mächte leiten ließ. Wie man in Petersburg die Londoner Verträge anſah, das hat Neſſel- rode 1850 ausgeſprochen in einem Rechenſchaftsberichte über die auswärtige Politik des letzten Vierteljahrhunderts, den er dem Czaren zum Regierungs- jubelfeſte überreichte. Da ſchilderte er — aufrichtig wie er unter vier Augen ſprechen durfte, und mit einer faſt mongoliſchen Ruhmredigkeit: — erſt die Julirevolution habe der Regierung des Kaiſers „den wahren

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/131>, abgerufen am 29.03.2024.