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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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XXIII. Stimmungen der württembergischen Opposition. 1838.

So scheiterten alle Versuche, einen besseren Zustand zu begründen, an der Furcht
vor dem Bunde. ... Ich weiß wohl, welche Einwendungen gegen die Grundsätze der
Opposition geltend gemacht werden.

Württemberg ist nach den Ansichten -- selbst mancher Bessergesinnten zu unmächtig,
um sich dem Einfluße der absoluten Großstaaten beim Bunde widersetzen zu können.

Indem man aber unsere Regierung auf solche Art entschuldigt, bedenkt man auch,
daß man eben hiermit das Verdammungs-Urtheil über die Kleinstaaten ausspricht? Denn
ein Staat, der mit dem besten Willen nicht im Stande ist, dasjenige zu thun, was er
in seinen grundgesetzlichen Bestimmungen selbst für recht erklärt hat, kann vernünftiger-
weise keinen Anspruch auf Existenz machen.

Ich halte jedoch die obige Einwendung nicht für richtig.

Vielmehr glaube ich, daß weder Oestreich noch Preußen einschreiten würden, wenn
es einer der constitutionellen Regierungen Deutschlands gefiele, nach den Vorschriften der
Verfassung zu regieren. Denn unter welchem Vorwande sollte eine Einschreitung statt-
finden? Sie wäre eine Gewaltthat, deren Folgen sicherlich auf ihre Urheber zurückfallen
würden. Ueberdieß fürchten selbst die Großstaaten gegenwärtig nichts mehr, als die Ver-
anlassung zu einer möglichen Störung des Friedens.

Die Rückkehr zum Gesetze müßte aber, auch dann, wenn sie zunächst auch nur von
Einem Lande ausginge, auf alle übrigen Verfassungs-Länder günstig zurückwirken, weil
das gegebene Beispiel den Regierungen und Völkern die Möglichkeit eines geordneten
freisinnigen Rechts-Zustandes darthäte.

Ja selbst die in solcher Richtung laufenden Bestrebungen einer einzelnen Volks-
Kammer
müßten sich am Ende eines siegreichen Erfolges erfreuen, sobald das Ziel nicht
nur von einer schwachen Minorität, sondern von einer imposanten Majorität mit Be-
harrlichkeit verfolgt würde. Hierzu sind nun freylich in Württemberg keine Aussichten
vorhanden und gerade diese traurige Gewißheit ist es, welche die Opposition bestimmt,
fruchtlose Versuche nicht wieder zu erneuern.

Zwar wird man ihr den Vorwurf machen,
"sie verlasse das Volk;" --
man wird ihr zu bedenken geben,
"wenn sie auch nicht Gutes zu Stande bringen könne, so vermöge sie doch
Schlimmes zu verhindern;"

man wird sie darauf aufmerksam machen:
"ihre Worte seyen nicht verloren; wenn sie auch nicht im Augenblicke
wirken, so werden sie doch seiner Zeit Früchte tragen;"

-- und diejenigen, welche uns, so lange wir zu wirken suchten, auf jede Art verdächtigten
und schmähten, werden sich an die Spitze der Tadler stellen; aber, die Wohlmeynenden
mögen bedenken, daß ohne Oeffentlichkeit nicht einmal eine moralische Wirksamkeit möglich
ist. Man wende mir nicht ein, die Sitzungen der Kammer der Abgeordneten seien
öffentlich. Denn wer partizipirt an dieser Oeffentlichkeit? Zehn oder fünfzig Zuhörer
und einige Zeitungsschreiber, deren Berichte aber theils wegen der Censur, theils wegen
des eigenen Geschmackes der Berichterstatter so unvollkommen, so entstellt und wohl auch
so partheyisch sind, daß es in vielen Fällen besser wäre, wenn auf diesem Wege von den
Leistungen der Opposition gar nichts ins Publicum gelangte.

Will man aber falsch dargestellte Aeußerungen berichtigen, so tritt der Censor ent-
gegen, sobald der Gegenstand der Berichtigung unter die verpönten Dinge gehört.

Somit bleiben von der gerühmten Oeffentlichkeit nur noch die Protokolle übrig.

Aber wer liest diese? Wem kann man zumuthen, unter einer Masse von Spreu
die Körner zu suchen? ...

Der Sinn für das Oeffentliche hat sich nachgerade so abgestumpft, daß selbst das
Gedächtniß an die bessere Vergangenheit verschwunden ist. Man braucht sich daher nicht
mehr von einem lästigen Schaam-Gefühle meistern zu lassen, sondern kann fortan der ur-

XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.

So ſcheiterten alle Verſuche, einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der Furcht
vor dem Bunde. … Ich weiß wohl, welche Einwendungen gegen die Grundſätze der
Oppoſition geltend gemacht werden.

Württemberg iſt nach den Anſichten — ſelbſt mancher Beſſergeſinnten zu unmächtig,
um ſich dem Einfluße der abſoluten Großſtaaten beim Bunde widerſetzen zu können.

Indem man aber unſere Regierung auf ſolche Art entſchuldigt, bedenkt man auch,
daß man eben hiermit das Verdammungs-Urtheil über die Kleinſtaaten ausſpricht? Denn
ein Staat, der mit dem beſten Willen nicht im Stande iſt, dasjenige zu thun, was er
in ſeinen grundgeſetzlichen Beſtimmungen ſelbſt für recht erklärt hat, kann vernünftiger-
weiſe keinen Anſpruch auf Exiſtenz machen.

Ich halte jedoch die obige Einwendung nicht für richtig.

Vielmehr glaube ich, daß weder Oeſtreich noch Preußen einſchreiten würden, wenn
es einer der conſtitutionellen Regierungen Deutſchlands gefiele, nach den Vorſchriften der
Verfaſſung zu regieren. Denn unter welchem Vorwande ſollte eine Einſchreitung ſtatt-
finden? Sie wäre eine Gewaltthat, deren Folgen ſicherlich auf ihre Urheber zurückfallen
würden. Ueberdieß fürchten ſelbſt die Großſtaaten gegenwärtig nichts mehr, als die Ver-
anlaſſung zu einer möglichen Störung des Friedens.

Die Rückkehr zum Geſetze müßte aber, auch dann, wenn ſie zunächſt auch nur von
Einem Lande ausginge, auf alle übrigen Verfaſſungs-Länder günſtig zurückwirken, weil
das gegebene Beiſpiel den Regierungen und Völkern die Möglichkeit eines geordneten
freiſinnigen Rechts-Zuſtandes darthäte.

Ja ſelbſt die in ſolcher Richtung laufenden Beſtrebungen einer einzelnen Volks-
Kammer
müßten ſich am Ende eines ſiegreichen Erfolges erfreuen, ſobald das Ziel nicht
nur von einer ſchwachen Minorität, ſondern von einer impoſanten Majorität mit Be-
harrlichkeit verfolgt würde. Hierzu ſind nun freylich in Württemberg keine Ausſichten
vorhanden und gerade dieſe traurige Gewißheit iſt es, welche die Oppoſition beſtimmt,
fruchtloſe Verſuche nicht wieder zu erneuern.

Zwar wird man ihr den Vorwurf machen,
„ſie verlaſſe das Volk;“ —
man wird ihr zu bedenken geben,
„wenn ſie auch nicht Gutes zu Stande bringen könne, ſo vermöge ſie doch
Schlimmes zu verhindern;“

man wird ſie darauf aufmerkſam machen:
„ihre Worte ſeyen nicht verloren; wenn ſie auch nicht im Augenblicke
wirken, ſo werden ſie doch ſeiner Zeit Früchte tragen;“

— und diejenigen, welche uns, ſo lange wir zu wirken ſuchten, auf jede Art verdächtigten
und ſchmähten, werden ſich an die Spitze der Tadler ſtellen; aber, die Wohlmeynenden
mögen bedenken, daß ohne Oeffentlichkeit nicht einmal eine moraliſche Wirkſamkeit möglich
iſt. Man wende mir nicht ein, die Sitzungen der Kammer der Abgeordneten ſeien
öffentlich. Denn wer partizipirt an dieſer Oeffentlichkeit? Zehn oder fünfzig Zuhörer
und einige Zeitungsſchreiber, deren Berichte aber theils wegen der Cenſur, theils wegen
des eigenen Geſchmackes der Berichterſtatter ſo unvollkommen, ſo entſtellt und wohl auch
ſo partheyiſch ſind, daß es in vielen Fällen beſſer wäre, wenn auf dieſem Wege von den
Leiſtungen der Oppoſition gar nichts ins Publicum gelangte.

Will man aber falſch dargeſtellte Aeußerungen berichtigen, ſo tritt der Cenſor ent-
gegen, ſobald der Gegenſtand der Berichtigung unter die verpönten Dinge gehört.

Somit bleiben von der gerühmten Oeffentlichkeit nur noch die Protokolle übrig.

Aber wer lieſt dieſe? Wem kann man zumuthen, unter einer Maſſe von Spreu
die Körner zu ſuchen? …

Der Sinn für das Oeffentliche hat ſich nachgerade ſo abgeſtumpft, daß ſelbſt das
Gedächtniß an die beſſere Vergangenheit verſchwunden iſt. Man braucht ſich daher nicht
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[751/0765] XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838. So ſcheiterten alle Verſuche, einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der Furcht vor dem Bunde. … Ich weiß wohl, welche Einwendungen gegen die Grundſätze der Oppoſition geltend gemacht werden. Württemberg iſt nach den Anſichten — ſelbſt mancher Beſſergeſinnten zu unmächtig, um ſich dem Einfluße der abſoluten Großſtaaten beim Bunde widerſetzen zu können. Indem man aber unſere Regierung auf ſolche Art entſchuldigt, bedenkt man auch, daß man eben hiermit das Verdammungs-Urtheil über die Kleinſtaaten ausſpricht? Denn ein Staat, der mit dem beſten Willen nicht im Stande iſt, dasjenige zu thun, was er in ſeinen grundgeſetzlichen Beſtimmungen ſelbſt für recht erklärt hat, kann vernünftiger- weiſe keinen Anſpruch auf Exiſtenz machen. Ich halte jedoch die obige Einwendung nicht für richtig. Vielmehr glaube ich, daß weder Oeſtreich noch Preußen einſchreiten würden, wenn es einer der conſtitutionellen Regierungen Deutſchlands gefiele, nach den Vorſchriften der Verfaſſung zu regieren. Denn unter welchem Vorwande ſollte eine Einſchreitung ſtatt- finden? Sie wäre eine Gewaltthat, deren Folgen ſicherlich auf ihre Urheber zurückfallen würden. Ueberdieß fürchten ſelbſt die Großſtaaten gegenwärtig nichts mehr, als die Ver- anlaſſung zu einer möglichen Störung des Friedens. Die Rückkehr zum Geſetze müßte aber, auch dann, wenn ſie zunächſt auch nur von Einem Lande ausginge, auf alle übrigen Verfaſſungs-Länder günſtig zurückwirken, weil das gegebene Beiſpiel den Regierungen und Völkern die Möglichkeit eines geordneten freiſinnigen Rechts-Zuſtandes darthäte. Ja ſelbſt die in ſolcher Richtung laufenden Beſtrebungen einer einzelnen Volks- Kammer müßten ſich am Ende eines ſiegreichen Erfolges erfreuen, ſobald das Ziel nicht nur von einer ſchwachen Minorität, ſondern von einer impoſanten Majorität mit Be- harrlichkeit verfolgt würde. Hierzu ſind nun freylich in Württemberg keine Ausſichten vorhanden und gerade dieſe traurige Gewißheit iſt es, welche die Oppoſition beſtimmt, fruchtloſe Verſuche nicht wieder zu erneuern. Zwar wird man ihr den Vorwurf machen, „ſie verlaſſe das Volk;“ — man wird ihr zu bedenken geben, „wenn ſie auch nicht Gutes zu Stande bringen könne, ſo vermöge ſie doch Schlimmes zu verhindern;“ man wird ſie darauf aufmerkſam machen: „ihre Worte ſeyen nicht verloren; wenn ſie auch nicht im Augenblicke wirken, ſo werden ſie doch ſeiner Zeit Früchte tragen;“ — und diejenigen, welche uns, ſo lange wir zu wirken ſuchten, auf jede Art verdächtigten und ſchmähten, werden ſich an die Spitze der Tadler ſtellen; aber, die Wohlmeynenden mögen bedenken, daß ohne Oeffentlichkeit nicht einmal eine moraliſche Wirkſamkeit möglich iſt. Man wende mir nicht ein, die Sitzungen der Kammer der Abgeordneten ſeien öffentlich. Denn wer partizipirt an dieſer Oeffentlichkeit? Zehn oder fünfzig Zuhörer und einige Zeitungsſchreiber, deren Berichte aber theils wegen der Cenſur, theils wegen des eigenen Geſchmackes der Berichterſtatter ſo unvollkommen, ſo entſtellt und wohl auch ſo partheyiſch ſind, daß es in vielen Fällen beſſer wäre, wenn auf dieſem Wege von den Leiſtungen der Oppoſition gar nichts ins Publicum gelangte. Will man aber falſch dargeſtellte Aeußerungen berichtigen, ſo tritt der Cenſor ent- gegen, ſobald der Gegenſtand der Berichtigung unter die verpönten Dinge gehört. Somit bleiben von der gerühmten Oeffentlichkeit nur noch die Protokolle übrig. Aber wer lieſt dieſe? Wem kann man zumuthen, unter einer Maſſe von Spreu die Körner zu ſuchen? … Der Sinn für das Oeffentliche hat ſich nachgerade ſo abgeſtumpft, daß ſelbſt das Gedächtniß an die beſſere Vergangenheit verſchwunden iſt. Man braucht ſich daher nicht mehr von einem läſtigen Schaam-Gefühle meiſtern zu laſſen, ſondern kann fortan der ur-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 751. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/765>, abgerufen am 29.03.2024.