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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Preußens friedliche Haltung.
überholt worden sei.*) Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht,
der neue Thron war aufgerichtet, und die Gesandten schilderten in ihren
Berichten das Geschehene übereinstimmend als eine unabwendbare Noth-
wendigkeit. Sie waren zumeist auch persönlich erbittert gegen Polignac,
der über seinen Staatsstreichsplänen die Geschäfte des Auswärtigen Amts
ganz vernachlässigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini
Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten sich vor der vollendeten That-
sache; der ansteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Gesinnungs-
wechsels, welcher die Revolutionen in Frankreich so furchtbar macht, konnte
sich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchisten, schrieb Werther schon
am 5. August, wünschen dringend, daß die vier Mächte sich zu der neuen
Krone freundlich stellen; sonst bricht die Republik, die Anarchie herein.**)

Ueber den großen Rechtsbruch tröstete man sich mit der Erwägung,
daß die Orleans doch dem alten Capetingerhause angehörten und mithin
-- so lautete der neue Verlegenheitsausdruck -- sich mindestens einer
Quasi-Legitimität rühmen dürften; die Unterschlagung, welche dem neuen
Herrscher zum Throne verhalf, ward in der stürmischen Unruhe dieser
ersten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging sich in brünsti-
gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen seiner Liebe zum Frieden,
zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beständig, wäre die
Republik, die Propaganda, der allgemeine Umsturz. Sein Minister des
Auswärtigen, Graf Mole schrieb an Werther: "Wir mußten Frankreich
retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erschütterung
bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge-
zogen. Aber seit sie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet
sich diese glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung
und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung
wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majestät gekostet hat Sich
zur Besteigung eines Thrones zu entschließen, der doch um des allge-
meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte."***) Nach
Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er sei "seinen
Unterthanen schuldig das peinliche Opfer seiner Grundsätze und Gefühle
zu bringen"; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinsames Vorgehen
des Vierbundes und schlug daher den drei befreundeten Mächten vor,
daß sie durch gleichlautende Erklärungen die neue französische Regierung
anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des
Besitzstandes, des Friedens förmlich verlangen sollten.+)

*) Werther's Bericht 17. August 1830 nebst Protokoll über die Berathung der
vier Gesandten.
**) Werther's Bericht, 5. August 1830.
***) Mole an Werther, 12. August 1830.
+) Brockhausen's Berichte 11. 18. 23. August. Ancillon, Weisung an die Gesandt-
schaften 14. August 1830.

Preußens friedliche Haltung.
überholt worden ſei.*) Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht,
der neue Thron war aufgerichtet, und die Geſandten ſchilderten in ihren
Berichten das Geſchehene übereinſtimmend als eine unabwendbare Noth-
wendigkeit. Sie waren zumeiſt auch perſönlich erbittert gegen Polignac,
der über ſeinen Staatsſtreichsplänen die Geſchäfte des Auswärtigen Amts
ganz vernachläſſigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini
Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten ſich vor der vollendeten That-
ſache; der anſteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Geſinnungs-
wechſels, welcher die Revolutionen in Frankreich ſo furchtbar macht, konnte
ſich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchiſten, ſchrieb Werther ſchon
am 5. Auguſt, wünſchen dringend, daß die vier Mächte ſich zu der neuen
Krone freundlich ſtellen; ſonſt bricht die Republik, die Anarchie herein.**)

Ueber den großen Rechtsbruch tröſtete man ſich mit der Erwägung,
daß die Orleans doch dem alten Capetingerhauſe angehörten und mithin
— ſo lautete der neue Verlegenheitsausdruck — ſich mindeſtens einer
Quaſi-Legitimität rühmen dürften; die Unterſchlagung, welche dem neuen
Herrſcher zum Throne verhalf, ward in der ſtürmiſchen Unruhe dieſer
erſten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging ſich in brünſti-
gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen ſeiner Liebe zum Frieden,
zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beſtändig, wäre die
Republik, die Propaganda, der allgemeine Umſturz. Sein Miniſter des
Auswärtigen, Graf Molé ſchrieb an Werther: „Wir mußten Frankreich
retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erſchütterung
bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge-
zogen. Aber ſeit ſie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet
ſich dieſe glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung
und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung
wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majeſtät gekoſtet hat Sich
zur Beſteigung eines Thrones zu entſchließen, der doch um des allge-
meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte.“***) Nach
Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er ſei „ſeinen
Unterthanen ſchuldig das peinliche Opfer ſeiner Grundſätze und Gefühle
zu bringen“; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinſames Vorgehen
des Vierbundes und ſchlug daher den drei befreundeten Mächten vor,
daß ſie durch gleichlautende Erklärungen die neue franzöſiſche Regierung
anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des
Beſitzſtandes, des Friedens förmlich verlangen ſollten.†)

*) Werther’s Bericht 17. Auguſt 1830 nebſt Protokoll über die Berathung der
vier Geſandten.
**) Werther’s Bericht, 5. Auguſt 1830.
***) Molé an Werther, 12. Auguſt 1830.
†) Brockhauſen’s Berichte 11. 18. 23. Auguſt. Ancillon, Weiſung an die Geſandt-
ſchaften 14. Auguſt 1830.
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[37/0051] Preußens friedliche Haltung. überholt worden ſei. *) Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht, der neue Thron war aufgerichtet, und die Geſandten ſchilderten in ihren Berichten das Geſchehene übereinſtimmend als eine unabwendbare Noth- wendigkeit. Sie waren zumeiſt auch perſönlich erbittert gegen Polignac, der über ſeinen Staatsſtreichsplänen die Geſchäfte des Auswärtigen Amts ganz vernachläſſigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten ſich vor der vollendeten That- ſache; der anſteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Geſinnungs- wechſels, welcher die Revolutionen in Frankreich ſo furchtbar macht, konnte ſich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchiſten, ſchrieb Werther ſchon am 5. Auguſt, wünſchen dringend, daß die vier Mächte ſich zu der neuen Krone freundlich ſtellen; ſonſt bricht die Republik, die Anarchie herein. **) Ueber den großen Rechtsbruch tröſtete man ſich mit der Erwägung, daß die Orleans doch dem alten Capetingerhauſe angehörten und mithin — ſo lautete der neue Verlegenheitsausdruck — ſich mindeſtens einer Quaſi-Legitimität rühmen dürften; die Unterſchlagung, welche dem neuen Herrſcher zum Throne verhalf, ward in der ſtürmiſchen Unruhe dieſer erſten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging ſich in brünſti- gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen ſeiner Liebe zum Frieden, zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beſtändig, wäre die Republik, die Propaganda, der allgemeine Umſturz. Sein Miniſter des Auswärtigen, Graf Molé ſchrieb an Werther: „Wir mußten Frankreich retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erſchütterung bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge- zogen. Aber ſeit ſie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet ſich dieſe glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majeſtät gekoſtet hat Sich zur Beſteigung eines Thrones zu entſchließen, der doch um des allge- meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte.“ ***) Nach Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er ſei „ſeinen Unterthanen ſchuldig das peinliche Opfer ſeiner Grundſätze und Gefühle zu bringen“; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinſames Vorgehen des Vierbundes und ſchlug daher den drei befreundeten Mächten vor, daß ſie durch gleichlautende Erklärungen die neue franzöſiſche Regierung anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des Beſitzſtandes, des Friedens förmlich verlangen ſollten. †) *) Werther’s Bericht 17. Auguſt 1830 nebſt Protokoll über die Berathung der vier Geſandten. **) Werther’s Bericht, 5. Auguſt 1830. ***) Molé an Werther, 12. Auguſt 1830. †) Brockhauſen’s Berichte 11. 18. 23. Auguſt. Ancillon, Weiſung an die Geſandt- ſchaften 14. Auguſt 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/51>, abgerufen am 28.03.2024.