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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Grabbe. Raupach.
hoch über ihm stand; sie besprachen geheimnißvoll die Verwandtschaft des
Genius mit dem Wahnsinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor-
handen ist, und Niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe:
Das Genie gehorcht dem Gesetze am willigsten, weil es begreift, daß Kunst
nicht Natur ist.

Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, so konnte Ernst
Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr-
schen -- ein ernsthafter, schroffer, kalt verständiger Geschäftsmann ohne
jede dichterische Ader, aber ein geschickter Macher, der durch zahllose dra-
matische Gedichte "ernster und komischer Gattung" -- wie er sie selber
bezeichnend nannte -- die unersättliche Gier des Publikums nach neuen
Stoffen mit leidlichem Anstande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares
Wesen und seine tapfere monarchische Gesinnung verschafften ihm die
Gunst des Hofes, auch Hegel beschützte ihn als einen Widersacher der
Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik schärfer widersprechen
als diese entsetzlichen sechzehn Hohenstaufen-Tragödien -- jedes Stück in
fünf Akten mit einem Vorspiele -- die den Rationalismus Friedrich v.
Raumer's noch einmal verwässerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den
Historiker selbst beschämte, wurde der gesammte Thatbestand erschöpft;
nichts, gar nichts ward den Hörern erlassen; unerbittlich ging es weiter
bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin sein Haupt auf den Block
legte, und die Zuschauer mußten dem grausamen Dichter noch danken,
daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenstaufen leibhaftig über
die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende
der Auftritte und Akte zeichneten sich durch zuversichtliche Plattheit aus, und
noch lange lebte im Gedächtniß der Berliner der Schlußvers: "Das Glück
war niemals mit den Hohenstaufen." Und dennoch wirkten die Stücke;
die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauspielern manche
dankbare Aufgabe, falsche Declamation verbot sich von selbst in dieser
nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauspielhause sogar der ganze
Cyclus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum
hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend standhaft aus um
das jambische Collegium über die Kaisergeschichte des Mittelalters voll-
ständig zu hören.

Siebzig Jahre zuvor hatte Lessing die moralisirende Poetik vernichtet;
jetzt war durch Ueberbildung der Schönheitssinn wieder so abgestumpft,
daß Raupach dreist behaupten durfte, der Zweck der Bühne sei das Volk
zu belehren. Immerhin stellte er durch die Masse seiner Dramen den
hereinbrechenden Pariser Fluthen noch einen Damm entgegen; und das
nämliche Verdienst erwarb sich auch die gemüthliche Schwäbin Charlotte
Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauspielern,
deren das moderne Theater nicht entbehren kann weil es für den Haus-
bedarf aller sieben Wochenabende sorgen muß. Ihre meist nach Novellen

Grabbe. Raupach.
hoch über ihm ſtand; ſie beſprachen geheimnißvoll die Verwandtſchaft des
Genius mit dem Wahnſinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor-
handen iſt, und Niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe:
Das Genie gehorcht dem Geſetze am willigſten, weil es begreift, daß Kunſt
nicht Natur iſt.

Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, ſo konnte Ernſt
Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr-
ſchen — ein ernſthafter, ſchroffer, kalt verſtändiger Geſchäftsmann ohne
jede dichteriſche Ader, aber ein geſchickter Macher, der durch zahlloſe dra-
matiſche Gedichte „ernſter und komiſcher Gattung“ — wie er ſie ſelber
bezeichnend nannte — die unerſättliche Gier des Publikums nach neuen
Stoffen mit leidlichem Anſtande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares
Weſen und ſeine tapfere monarchiſche Geſinnung verſchafften ihm die
Gunſt des Hofes, auch Hegel beſchützte ihn als einen Widerſacher der
Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik ſchärfer widerſprechen
als dieſe entſetzlichen ſechzehn Hohenſtaufen-Tragödien — jedes Stück in
fünf Akten mit einem Vorſpiele — die den Rationalismus Friedrich v.
Raumer’s noch einmal verwäſſerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den
Hiſtoriker ſelbſt beſchämte, wurde der geſammte Thatbeſtand erſchöpft;
nichts, gar nichts ward den Hörern erlaſſen; unerbittlich ging es weiter
bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin ſein Haupt auf den Block
legte, und die Zuſchauer mußten dem grauſamen Dichter noch danken,
daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenſtaufen leibhaftig über
die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende
der Auftritte und Akte zeichneten ſich durch zuverſichtliche Plattheit aus, und
noch lange lebte im Gedächtniß der Berliner der Schlußvers: „Das Glück
war niemals mit den Hohenſtaufen.“ Und dennoch wirkten die Stücke;
die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauſpielern manche
dankbare Aufgabe, falſche Declamation verbot ſich von ſelbſt in dieſer
nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauſpielhauſe ſogar der ganze
Cyclus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum
hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend ſtandhaft aus um
das jambiſche Collegium über die Kaiſergeſchichte des Mittelalters voll-
ſtändig zu hören.

Siebzig Jahre zuvor hatte Leſſing die moraliſirende Poetik vernichtet;
jetzt war durch Ueberbildung der Schönheitsſinn wieder ſo abgeſtumpft,
daß Raupach dreiſt behaupten durfte, der Zweck der Bühne ſei das Volk
zu belehren. Immerhin ſtellte er durch die Maſſe ſeiner Dramen den
hereinbrechenden Pariſer Fluthen noch einen Damm entgegen; und das
nämliche Verdienſt erwarb ſich auch die gemüthliche Schwäbin Charlotte
Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauſpielern,
deren das moderne Theater nicht entbehren kann weil es für den Haus-
bedarf aller ſieben Wochenabende ſorgen muß. Ihre meiſt nach Novellen

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[453/0467] Grabbe. Raupach. hoch über ihm ſtand; ſie beſprachen geheimnißvoll die Verwandtſchaft des Genius mit dem Wahnſinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor- handen iſt, und Niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe: Das Genie gehorcht dem Geſetze am willigſten, weil es begreift, daß Kunſt nicht Natur iſt. Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, ſo konnte Ernſt Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr- ſchen — ein ernſthafter, ſchroffer, kalt verſtändiger Geſchäftsmann ohne jede dichteriſche Ader, aber ein geſchickter Macher, der durch zahlloſe dra- matiſche Gedichte „ernſter und komiſcher Gattung“ — wie er ſie ſelber bezeichnend nannte — die unerſättliche Gier des Publikums nach neuen Stoffen mit leidlichem Anſtande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares Weſen und ſeine tapfere monarchiſche Geſinnung verſchafften ihm die Gunſt des Hofes, auch Hegel beſchützte ihn als einen Widerſacher der Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik ſchärfer widerſprechen als dieſe entſetzlichen ſechzehn Hohenſtaufen-Tragödien — jedes Stück in fünf Akten mit einem Vorſpiele — die den Rationalismus Friedrich v. Raumer’s noch einmal verwäſſerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den Hiſtoriker ſelbſt beſchämte, wurde der geſammte Thatbeſtand erſchöpft; nichts, gar nichts ward den Hörern erlaſſen; unerbittlich ging es weiter bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin ſein Haupt auf den Block legte, und die Zuſchauer mußten dem grauſamen Dichter noch danken, daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenſtaufen leibhaftig über die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende der Auftritte und Akte zeichneten ſich durch zuverſichtliche Plattheit aus, und noch lange lebte im Gedächtniß der Berliner der Schlußvers: „Das Glück war niemals mit den Hohenſtaufen.“ Und dennoch wirkten die Stücke; die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauſpielern manche dankbare Aufgabe, falſche Declamation verbot ſich von ſelbſt in dieſer nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauſpielhauſe ſogar der ganze Cyclus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend ſtandhaft aus um das jambiſche Collegium über die Kaiſergeſchichte des Mittelalters voll- ſtändig zu hören. Siebzig Jahre zuvor hatte Leſſing die moraliſirende Poetik vernichtet; jetzt war durch Ueberbildung der Schönheitsſinn wieder ſo abgeſtumpft, daß Raupach dreiſt behaupten durfte, der Zweck der Bühne ſei das Volk zu belehren. Immerhin ſtellte er durch die Maſſe ſeiner Dramen den hereinbrechenden Pariſer Fluthen noch einen Damm entgegen; und das nämliche Verdienſt erwarb ſich auch die gemüthliche Schwäbin Charlotte Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauſpielern, deren das moderne Theater nicht entbehren kann weil es für den Haus- bedarf aller ſieben Wochenabende ſorgen muß. Ihre meiſt nach Novellen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/467>, abgerufen am 19.04.2024.