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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
schauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöse Erregung der
Zeit sich beruhigte, um so dichter ward der Kreis der Andächtigen, die
ohne nach den klügelnden Ausdeutungen so mancher krausen Allegorien
viel zu fragen, schlichtweg als Schauende an den Faust herantraten und
bei jedem neuen Lesen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer
klarer erkannten, wie fest die beiden Theile, trotz der Verschiedenheit des
Stiles und des Kunstwerthes unter sich zusammenhingen. Was man auch
mäkeln und ergrübeln mochte, der Faust blieb die Tragödie des neuen
Jahrhunderts, wie Dante's Dichtung das Bekenntniß des ausgehenden
Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entstehen,
in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der christlichen Ge-
sittung getragen haben. Wie verschwand doch Alles was andere Dichter
von dem unbändigen Erkenntnißdrange der modernen Menschheit gesungen
hatten, wie klein und kränklich erschien selbst in Byron's Manfred, der dem
Faust noch am nächsten kam, der selbstzerstörerische, gegenstandslose Welt-
schmerz neben dem echten Titanenstolze des Goethischen Helden:

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Als das Gedicht allmählich auch über unsere Grenzen hinausdrang, da
glaubten manche geistreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres
eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre
nach Goethe's Tode, der Faust sei den Russen vielleicht verständlicher als
jeder anderen Nation. Deutlicher ließ sich nicht aussprechen, daß der
deutschen Dichtung die centrale Stelle in der modernen Gesittung gebührte.
Der hohe menschliche Sinn, der den Fremden so traulich zum Herzen
sprach, war doch nichts Anderes als die feinste Blüthe unserer nationalen
Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar
wie in keinem anderen Werke Goethe's rauschte im Faust der Flügelschlag
deutscher Geschichte, und nicht zufällig stand grade hier die Mahnung des
Dichters, daß wir das Erbe unserer Väter erwerben sollen um es zu besitzen.

Gleichzeitig mit dem Faust beendete Goethe den vierten Theil von
Dichtung und Wahrheit, die rührende Geschichte der tiefsten Herzensneigung
seiner Jugend, und so warm, so zart, so lebendig erzählte der Achtzigjährige
noch, daß er wagen durfte die halbverschollenen alten Lilli-Lieder mit ein-
zuflechten; die süßen Töne klangen als wären sie gestern entstanden. Also
hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch seine letzten Träume vergoldet;
durch ein langes Leben voll starker Mannesarbeit war sie ihm gefolgt, von
jenen fernen Tagen an, da der sinnenfrohe Jüngling den Amor besang,
der schalkhaft und bescheiden sich fest die beiden Augen zuhält, bis zu der
glühenden Abschiedsklage des Greises:

War unersättlich nach viel tausend Küssen,
Und mußt' mit Einem Kuß am Ende scheiden!

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
ſchauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöſe Erregung der
Zeit ſich beruhigte, um ſo dichter ward der Kreis der Andächtigen, die
ohne nach den klügelnden Ausdeutungen ſo mancher krauſen Allegorien
viel zu fragen, ſchlichtweg als Schauende an den Fauſt herantraten und
bei jedem neuen Leſen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer
klarer erkannten, wie feſt die beiden Theile, trotz der Verſchiedenheit des
Stiles und des Kunſtwerthes unter ſich zuſammenhingen. Was man auch
mäkeln und ergrübeln mochte, der Fauſt blieb die Tragödie des neuen
Jahrhunderts, wie Dante’s Dichtung das Bekenntniß des ausgehenden
Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entſtehen,
in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der chriſtlichen Ge-
ſittung getragen haben. Wie verſchwand doch Alles was andere Dichter
von dem unbändigen Erkenntnißdrange der modernen Menſchheit geſungen
hatten, wie klein und kränklich erſchien ſelbſt in Byron’s Manfred, der dem
Fauſt noch am nächſten kam, der ſelbſtzerſtöreriſche, gegenſtandsloſe Welt-
ſchmerz neben dem echten Titanenſtolze des Goethiſchen Helden:

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Als das Gedicht allmählich auch über unſere Grenzen hinausdrang, da
glaubten manche geiſtreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres
eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre
nach Goethe’s Tode, der Fauſt ſei den Ruſſen vielleicht verſtändlicher als
jeder anderen Nation. Deutlicher ließ ſich nicht ausſprechen, daß der
deutſchen Dichtung die centrale Stelle in der modernen Geſittung gebührte.
Der hohe menſchliche Sinn, der den Fremden ſo traulich zum Herzen
ſprach, war doch nichts Anderes als die feinſte Blüthe unſerer nationalen
Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar
wie in keinem anderen Werke Goethe’s rauſchte im Fauſt der Flügelſchlag
deutſcher Geſchichte, und nicht zufällig ſtand grade hier die Mahnung des
Dichters, daß wir das Erbe unſerer Väter erwerben ſollen um es zu beſitzen.

Gleichzeitig mit dem Fauſt beendete Goethe den vierten Theil von
Dichtung und Wahrheit, die rührende Geſchichte der tiefſten Herzensneigung
ſeiner Jugend, und ſo warm, ſo zart, ſo lebendig erzählte der Achtzigjährige
noch, daß er wagen durfte die halbverſchollenen alten Lilli-Lieder mit ein-
zuflechten; die ſüßen Töne klangen als wären ſie geſtern entſtanden. Alſo
hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch ſeine letzten Träume vergoldet;
durch ein langes Leben voll ſtarker Mannesarbeit war ſie ihm gefolgt, von
jenen fernen Tagen an, da der ſinnenfrohe Jüngling den Amor beſang,
der ſchalkhaft und beſcheiden ſich feſt die beiden Augen zuhält, bis zu der
glühenden Abſchiedsklage des Greiſes:

War unerſättlich nach viel tauſend Küſſen,
Und mußt’ mit Einem Kuß am Ende ſcheiden!
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[416/0430] IV. 7. Das Junge Deutſchland. ſchauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöſe Erregung der Zeit ſich beruhigte, um ſo dichter ward der Kreis der Andächtigen, die ohne nach den klügelnden Ausdeutungen ſo mancher krauſen Allegorien viel zu fragen, ſchlichtweg als Schauende an den Fauſt herantraten und bei jedem neuen Leſen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer klarer erkannten, wie feſt die beiden Theile, trotz der Verſchiedenheit des Stiles und des Kunſtwerthes unter ſich zuſammenhingen. Was man auch mäkeln und ergrübeln mochte, der Fauſt blieb die Tragödie des neuen Jahrhunderts, wie Dante’s Dichtung das Bekenntniß des ausgehenden Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entſtehen, in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der chriſtlichen Ge- ſittung getragen haben. Wie verſchwand doch Alles was andere Dichter von dem unbändigen Erkenntnißdrange der modernen Menſchheit geſungen hatten, wie klein und kränklich erſchien ſelbſt in Byron’s Manfred, der dem Fauſt noch am nächſten kam, der ſelbſtzerſtöreriſche, gegenſtandsloſe Welt- ſchmerz neben dem echten Titanenſtolze des Goethiſchen Helden: Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in Aeonen untergehn. Als das Gedicht allmählich auch über unſere Grenzen hinausdrang, da glaubten manche geiſtreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre nach Goethe’s Tode, der Fauſt ſei den Ruſſen vielleicht verſtändlicher als jeder anderen Nation. Deutlicher ließ ſich nicht ausſprechen, daß der deutſchen Dichtung die centrale Stelle in der modernen Geſittung gebührte. Der hohe menſchliche Sinn, der den Fremden ſo traulich zum Herzen ſprach, war doch nichts Anderes als die feinſte Blüthe unſerer nationalen Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar wie in keinem anderen Werke Goethe’s rauſchte im Fauſt der Flügelſchlag deutſcher Geſchichte, und nicht zufällig ſtand grade hier die Mahnung des Dichters, daß wir das Erbe unſerer Väter erwerben ſollen um es zu beſitzen. Gleichzeitig mit dem Fauſt beendete Goethe den vierten Theil von Dichtung und Wahrheit, die rührende Geſchichte der tiefſten Herzensneigung ſeiner Jugend, und ſo warm, ſo zart, ſo lebendig erzählte der Achtzigjährige noch, daß er wagen durfte die halbverſchollenen alten Lilli-Lieder mit ein- zuflechten; die ſüßen Töne klangen als wären ſie geſtern entſtanden. Alſo hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch ſeine letzten Träume vergoldet; durch ein langes Leben voll ſtarker Mannesarbeit war ſie ihm gefolgt, von jenen fernen Tagen an, da der ſinnenfrohe Jüngling den Amor beſang, der ſchalkhaft und beſcheiden ſich feſt die beiden Augen zuhält, bis zu der glühenden Abſchiedsklage des Greiſes: War unerſättlich nach viel tauſend Küſſen, Und mußt’ mit Einem Kuß am Ende ſcheiden!

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/430>, abgerufen am 19.04.2024.