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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Der alte Goethe.
lautete, sittlicher und tiefsinniger als das mönchische Memento mori, der
Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meister. Bis zum letzten Athem-
zuge blieb der Dichter seinem Worte treu, ein heiter Entsagender, dank-
bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbstes, beruhigt
in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Theil des Lebens und das höchste
Glück auf Erden, die Freuden des Gemüths, der ganzen Welt gemein seien.

Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die
ihm Walter Scott mit den schottischen Dichtern und so viele andere Aus-
länder darbrachten. Er sah, daß Deutschland jetzt an der Spitze der
Weltliteratur stand, und sagte den Fremden aufrichtig: "wer die deutsche
Sprache versteht, spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert."
Mit diesem ruhigen Selbstgefühle paarte sich eine wunderbare, allen Neid
entwaffnende Demuth; fast siebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick
einer Ausgabe seiner Werke die Verse schrieb:

Seh' ich die Werke der Meister an,
So seh' ich das was sie gethan.
Betracht' ich meine Siebensachen,
Seh' ich was ich hätt' sollen machen.

Wie that es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlyle,
dem Uebersetzer und Kritiker der deutschen classischen Literatur, den ersten
Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutschen Denkens stand.
"Ganze Generationen werden Sie dereinst dafür segnen, daß sie statt des
Vermuthens und Leugnens wieder zu glauben und zu wissen gelernt
haben" -- so sagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei-
fanatiker zugleich beschämend. Goethe ahnte, was Deutschland an diesem
seinen wärmsten und treuesten Freunde draußen besaß; er wurde nicht
müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einsamkeit der schottischen Berge
bald seine neuesten Werke, bald eine Medaille für die Genossen drüben,
bald ein Armband oder eine feine schmiedeeiserne Halskette oder ein anderes
einfaches deutsches Geschenk für die junge Frau zu senden. "Und so fortan.
Goethe" -- damit schloß er in der Regel seine patriarchalischen Briefe.

Von jeher hatte er das Wesen der Schönheit darin gesucht, daß wir
"beim Anschauen des gesetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und
in größte Thätigkeit versetzt fühlen". Alles Empfangen reizte ihn sogleich zum
Schaffen, und jetzt, da er in der stillen Sammlung des hohen Alters
jede Zerstreuung abweisen durfte, war sein ganzes Leben nur noch un-
ausgesetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge-
liebten Stimme der "großen, leise sprechenden Natur" lauschen, oder an
den neuen Werken der Kunst und Forschung, die ihm von allen Enden
der Welt zuströmten, sich liebevoll erfreuen, immer schritt er aufwärts,
immer baute er fort an dem umfassenden Weltenbilde, das leuchtend vor
seiner Seele stand, mit den Jahren stets freier, heller, größer sich ge-
staltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm "bisher undenkbare

Der alte Goethe.
lautete, ſittlicher und tiefſinniger als das mönchiſche Memento mori, der
Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meiſter. Bis zum letzten Athem-
zuge blieb der Dichter ſeinem Worte treu, ein heiter Entſagender, dank-
bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbſtes, beruhigt
in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Theil des Lebens und das höchſte
Glück auf Erden, die Freuden des Gemüths, der ganzen Welt gemein ſeien.

Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die
ihm Walter Scott mit den ſchottiſchen Dichtern und ſo viele andere Aus-
länder darbrachten. Er ſah, daß Deutſchland jetzt an der Spitze der
Weltliteratur ſtand, und ſagte den Fremden aufrichtig: „wer die deutſche
Sprache verſteht, ſpielt den Dolmetſcher, indem er ſich ſelbſt bereichert.“
Mit dieſem ruhigen Selbſtgefühle paarte ſich eine wunderbare, allen Neid
entwaffnende Demuth; faſt ſiebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick
einer Ausgabe ſeiner Werke die Verſe ſchrieb:

Seh’ ich die Werke der Meiſter an,
So ſeh’ ich das was ſie gethan.
Betracht’ ich meine Siebenſachen,
Seh’ ich was ich hätt’ ſollen machen.

Wie that es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlyle,
dem Ueberſetzer und Kritiker der deutſchen claſſiſchen Literatur, den erſten
Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutſchen Denkens ſtand.
„Ganze Generationen werden Sie dereinſt dafür ſegnen, daß ſie ſtatt des
Vermuthens und Leugnens wieder zu glauben und zu wiſſen gelernt
haben“ — ſo ſagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei-
fanatiker zugleich beſchämend. Goethe ahnte, was Deutſchland an dieſem
ſeinen wärmſten und treueſten Freunde draußen beſaß; er wurde nicht
müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einſamkeit der ſchottiſchen Berge
bald ſeine neueſten Werke, bald eine Medaille für die Genoſſen drüben,
bald ein Armband oder eine feine ſchmiedeeiſerne Halskette oder ein anderes
einfaches deutſches Geſchenk für die junge Frau zu ſenden. „Und ſo fortan.
Goethe“ — damit ſchloß er in der Regel ſeine patriarchaliſchen Briefe.

Von jeher hatte er das Weſen der Schönheit darin geſucht, daß wir
„beim Anſchauen des geſetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und
in größte Thätigkeit verſetzt fühlen“. Alles Empfangen reizte ihn ſogleich zum
Schaffen, und jetzt, da er in der ſtillen Sammlung des hohen Alters
jede Zerſtreuung abweiſen durfte, war ſein ganzes Leben nur noch un-
ausgeſetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge-
liebten Stimme der „großen, leiſe ſprechenden Natur“ lauſchen, oder an
den neuen Werken der Kunſt und Forſchung, die ihm von allen Enden
der Welt zuſtrömten, ſich liebevoll erfreuen, immer ſchritt er aufwärts,
immer baute er fort an dem umfaſſenden Weltenbilde, das leuchtend vor
ſeiner Seele ſtand, mit den Jahren ſtets freier, heller, größer ſich ge-
ſtaltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm „bisher undenkbare

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[409/0423] Der alte Goethe. lautete, ſittlicher und tiefſinniger als das mönchiſche Memento mori, der Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meiſter. Bis zum letzten Athem- zuge blieb der Dichter ſeinem Worte treu, ein heiter Entſagender, dank- bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbſtes, beruhigt in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Theil des Lebens und das höchſte Glück auf Erden, die Freuden des Gemüths, der ganzen Welt gemein ſeien. Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die ihm Walter Scott mit den ſchottiſchen Dichtern und ſo viele andere Aus- länder darbrachten. Er ſah, daß Deutſchland jetzt an der Spitze der Weltliteratur ſtand, und ſagte den Fremden aufrichtig: „wer die deutſche Sprache verſteht, ſpielt den Dolmetſcher, indem er ſich ſelbſt bereichert.“ Mit dieſem ruhigen Selbſtgefühle paarte ſich eine wunderbare, allen Neid entwaffnende Demuth; faſt ſiebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick einer Ausgabe ſeiner Werke die Verſe ſchrieb: Seh’ ich die Werke der Meiſter an, So ſeh’ ich das was ſie gethan. Betracht’ ich meine Siebenſachen, Seh’ ich was ich hätt’ ſollen machen. Wie that es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlyle, dem Ueberſetzer und Kritiker der deutſchen claſſiſchen Literatur, den erſten Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutſchen Denkens ſtand. „Ganze Generationen werden Sie dereinſt dafür ſegnen, daß ſie ſtatt des Vermuthens und Leugnens wieder zu glauben und zu wiſſen gelernt haben“ — ſo ſagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei- fanatiker zugleich beſchämend. Goethe ahnte, was Deutſchland an dieſem ſeinen wärmſten und treueſten Freunde draußen beſaß; er wurde nicht müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einſamkeit der ſchottiſchen Berge bald ſeine neueſten Werke, bald eine Medaille für die Genoſſen drüben, bald ein Armband oder eine feine ſchmiedeeiſerne Halskette oder ein anderes einfaches deutſches Geſchenk für die junge Frau zu ſenden. „Und ſo fortan. Goethe“ — damit ſchloß er in der Regel ſeine patriarchaliſchen Briefe. Von jeher hatte er das Weſen der Schönheit darin geſucht, daß wir „beim Anſchauen des geſetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und in größte Thätigkeit verſetzt fühlen“. Alles Empfangen reizte ihn ſogleich zum Schaffen, und jetzt, da er in der ſtillen Sammlung des hohen Alters jede Zerſtreuung abweiſen durfte, war ſein ganzes Leben nur noch un- ausgeſetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge- liebten Stimme der „großen, leiſe ſprechenden Natur“ lauſchen, oder an den neuen Werken der Kunſt und Forſchung, die ihm von allen Enden der Welt zuſtrömten, ſich liebevoll erfreuen, immer ſchritt er aufwärts, immer baute er fort an dem umfaſſenden Weltenbilde, das leuchtend vor ſeiner Seele ſtand, mit den Jahren ſtets freier, heller, größer ſich ge- ſtaltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm „bisher undenkbare

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/423>, abgerufen am 18.04.2024.