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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland.
müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Gesicht bekämen, daß die Her-
zogin Wittwe aus St. Wendel weggezogen sei, daß so viele Coburger und
Gothaer angestellt würden, während Lichtenberg doch an einheimischen Ta-
lenten Ueberfluß hätte. Da diese und andere Beschwerden fruchtlos blieben,
so brach bald eine gemüthliche Anarchie herein; denn das Land wurde schlecht
verwaltet, nach französischen Gesetzen, aber ohne die stramme Ordnung des
Präfectensystems; die Regierung that gar nichts um dem Schmuggel zu
wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecherischen Treiben der Bande
noire,
der Wucherjuden zu schützen. Ueberall Volksversammlungen und
tobende Straßenaufzüge, auch viele "Rothkäppchen" mit Jacobinermützen
zeigten sich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel-
mäßig einen "Markt", um den Bauern die radicalen pfälzischen Blätter
vorzulesen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige
preußische Truppen ein, und sofort nach ihrem Erscheinen ward Alles still;
doch kaum waren sie abgezogen, so begann der Lärm von Neuem, bis
endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits-
baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inschrift: "Welcher Henkers-
knecht es wagt mit frevelnder Hand dieses Heiligthum anzutasten, ist des
Todes!" Der Pöbel ließ die Gensdarmen nicht heran und tanzte die
Nacht hindurch die Carmagnole um das Symbol der Freiheit.

Mittlerweile begannen auch die bairischen Pfälzer vom Zeitungslesen
zu Thätlichkeiten vorzuschreiten. In jedem Wirthshause des weinseligen
Landes saßen die politisirenden Krischer zusammen. Da und dort ward
ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Massen gegen die Polizei-
mannschaft vertheidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich
ausgeprügelt. Wirth bildete im Anschluß an die Polenvereine einen
Vaterlandsverein zum Schutze der freien Presse, der sich bald über
mehrere Städte des Südwestens verzweigte, und stellte den Genossen zur
höchsten Aufgabe die Neugestaltung des Deutschen Bundes: an der Spitze
der Nation steht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender
Präsident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter-
worfen; jede deutsche Provinz darf sich durch Volksabstimmung als
selbständiger Bundesstaat einrichten, mit einer republikanischen oder con-
stitutionellen Verfassung. Ein solches Programm erschien der Mehrzahl
der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen;
aber wohin sollte das wüste Treiben aller dieser Zeitungen und Vereine
noch führen, hier dicht vor den Thoren der radicalsten deutschen Stadt,
Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man
in Berlin, daß der französische Gesandte Mortier dem bairischen Minister
Gise vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen -- das will sagen: Bun-
destruppen -- könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden.*)

*) Küster's Bericht, 5. April 1832.

IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Geſicht bekämen, daß die Her-
zogin Wittwe aus St. Wendel weggezogen ſei, daß ſo viele Coburger und
Gothaer angeſtellt würden, während Lichtenberg doch an einheimiſchen Ta-
lenten Ueberfluß hätte. Da dieſe und andere Beſchwerden fruchtlos blieben,
ſo brach bald eine gemüthliche Anarchie herein; denn das Land wurde ſchlecht
verwaltet, nach franzöſiſchen Geſetzen, aber ohne die ſtramme Ordnung des
Präfectenſyſtems; die Regierung that gar nichts um dem Schmuggel zu
wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecheriſchen Treiben der Bande
noire,
der Wucherjuden zu ſchützen. Ueberall Volksverſammlungen und
tobende Straßenaufzüge, auch viele „Rothkäppchen“ mit Jacobinermützen
zeigten ſich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel-
mäßig einen „Markt“, um den Bauern die radicalen pfälziſchen Blätter
vorzuleſen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige
preußiſche Truppen ein, und ſofort nach ihrem Erſcheinen ward Alles ſtill;
doch kaum waren ſie abgezogen, ſo begann der Lärm von Neuem, bis
endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits-
baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inſchrift: „Welcher Henkers-
knecht es wagt mit frevelnder Hand dieſes Heiligthum anzutaſten, iſt des
Todes!“ Der Pöbel ließ die Gensdarmen nicht heran und tanzte die
Nacht hindurch die Carmagnole um das Symbol der Freiheit.

Mittlerweile begannen auch die bairiſchen Pfälzer vom Zeitungsleſen
zu Thätlichkeiten vorzuſchreiten. In jedem Wirthshauſe des weinſeligen
Landes ſaßen die politiſirenden Kriſcher zuſammen. Da und dort ward
ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Maſſen gegen die Polizei-
mannſchaft vertheidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich
ausgeprügelt. Wirth bildete im Anſchluß an die Polenvereine einen
Vaterlandsverein zum Schutze der freien Preſſe, der ſich bald über
mehrere Städte des Südweſtens verzweigte, und ſtellte den Genoſſen zur
höchſten Aufgabe die Neugeſtaltung des Deutſchen Bundes: an der Spitze
der Nation ſteht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender
Präſident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter-
worfen; jede deutſche Provinz darf ſich durch Volksabſtimmung als
ſelbſtändiger Bundesſtaat einrichten, mit einer republikaniſchen oder con-
ſtitutionellen Verfaſſung. Ein ſolches Programm erſchien der Mehrzahl
der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen;
aber wohin ſollte das wüſte Treiben aller dieſer Zeitungen und Vereine
noch führen, hier dicht vor den Thoren der radicalſten deutſchen Stadt,
Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man
in Berlin, daß der franzöſiſche Geſandte Mortier dem bairiſchen Miniſter
Giſe vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen — das will ſagen: Bun-
destruppen — könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden.*)

*) Küſter’s Bericht, 5. April 1832.
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[254/0268] IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland. müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Geſicht bekämen, daß die Her- zogin Wittwe aus St. Wendel weggezogen ſei, daß ſo viele Coburger und Gothaer angeſtellt würden, während Lichtenberg doch an einheimiſchen Ta- lenten Ueberfluß hätte. Da dieſe und andere Beſchwerden fruchtlos blieben, ſo brach bald eine gemüthliche Anarchie herein; denn das Land wurde ſchlecht verwaltet, nach franzöſiſchen Geſetzen, aber ohne die ſtramme Ordnung des Präfectenſyſtems; die Regierung that gar nichts um dem Schmuggel zu wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecheriſchen Treiben der Bande noire, der Wucherjuden zu ſchützen. Ueberall Volksverſammlungen und tobende Straßenaufzüge, auch viele „Rothkäppchen“ mit Jacobinermützen zeigten ſich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel- mäßig einen „Markt“, um den Bauern die radicalen pfälziſchen Blätter vorzuleſen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige preußiſche Truppen ein, und ſofort nach ihrem Erſcheinen ward Alles ſtill; doch kaum waren ſie abgezogen, ſo begann der Lärm von Neuem, bis endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits- baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inſchrift: „Welcher Henkers- knecht es wagt mit frevelnder Hand dieſes Heiligthum anzutaſten, iſt des Todes!“ Der Pöbel ließ die Gensdarmen nicht heran und tanzte die Nacht hindurch die Carmagnole um das Symbol der Freiheit. Mittlerweile begannen auch die bairiſchen Pfälzer vom Zeitungsleſen zu Thätlichkeiten vorzuſchreiten. In jedem Wirthshauſe des weinſeligen Landes ſaßen die politiſirenden Kriſcher zuſammen. Da und dort ward ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Maſſen gegen die Polizei- mannſchaft vertheidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich ausgeprügelt. Wirth bildete im Anſchluß an die Polenvereine einen Vaterlandsverein zum Schutze der freien Preſſe, der ſich bald über mehrere Städte des Südweſtens verzweigte, und ſtellte den Genoſſen zur höchſten Aufgabe die Neugeſtaltung des Deutſchen Bundes: an der Spitze der Nation ſteht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender Präſident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter- worfen; jede deutſche Provinz darf ſich durch Volksabſtimmung als ſelbſtändiger Bundesſtaat einrichten, mit einer republikaniſchen oder con- ſtitutionellen Verfaſſung. Ein ſolches Programm erſchien der Mehrzahl der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen; aber wohin ſollte das wüſte Treiben aller dieſer Zeitungen und Vereine noch führen, hier dicht vor den Thoren der radicalſten deutſchen Stadt, Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man in Berlin, daß der franzöſiſche Geſandte Mortier dem bairiſchen Miniſter Giſe vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen — das will ſagen: Bun- destruppen — könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden. *) *) Küſter’s Bericht, 5. April 1832.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/268>, abgerufen am 28.03.2024.