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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Schreib- und Lesesucht.

Mit dem sicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erspähte der
rührige F. A. Brockhaus diesen mächtigen Zug der Zeit und ließ seit
dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu
einem großen Conversationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha-
betischer Reihenfolge dem gebildeten Deutschen "alles Wissenswerthe" hand-
lich vorlegte. Es war der Anfang jener massenhaften Eselsbrücken-Lite-
ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu seinem Vortheil aus-
zeichnet. Das Unternehmen, so undeutsch wie sein Name, fand doch
Anklang in weiten Kreisen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne
solche Krücken konnte sich dies mit der Erbschaft so vieler Jahrhunderte
belastete Geschlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit
unverhohlenem Entsetzen die Wandlung, die sich in der Gesittung der
Nation allmählich vorbereitete; er sah voraus, wie friedlos, leer und zer-
fahren, wie unselbständig in ihrem Denken die moderne Welt werden
mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwissens, das Verlangen
nach immer wechselnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte,
daß hier die schlimmste Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts
lag, und schrieb die ernste Warnung:

Daß nur immer in Erneuung
Jeder täglich Neues höre,
Und zugleich auch die Zerstreuung
Jeden in sich selbst zerstöre!

In einer so leselustigen Welt stumpfte sich der feine Formensinn schnell
ab. Man trachtete vor Allem nach stofflichem Reiz, und da jede Zeit
die Schriftsteller hat, welche sie verlangt und verdient, so fand sich auch
ein Heer von rührigen Romanschreibern, die sich begnügten für den Zeit-
vertreib zu sorgen und einige Jahre lang in den kritischen Blättern ge-
nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterscheidender Charakterzug des
neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poesie wie vereinzelte Goldkörner
in einem ungeheueren Schutthaufen werthloser Unterhaltungsschriften ver-
steckt lagen und immer erst nach längerer Zeit aus der Masse des tauben
Gesteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anspruchslosen
Tagen nicht wie heute die industrielle Betriebsamkeit, was so viele Un-
berufene auf den deutschen Parnaß führte, sondern in der Regel die
Eitelkeit und die literarische Mode. Wie in der dramatischen so zeigten
auch in der Roman- und Novellendichtung die poetischen Naturen selten
das Talent der Composition, während die Virtuosen der spannenden und
fesselnden Erzählung ebenso selten die gestaltende Kraft des Dichters be-
währten.

Durch die strenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche
Gefühlsseligkeit, die sich einst vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge-
nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann sie
wieder Raum; in vielen Häusern Norddeutschlands herrschte ein abge-

Schreib- und Leſeſucht.

Mit dem ſicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erſpähte der
rührige F. A. Brockhaus dieſen mächtigen Zug der Zeit und ließ ſeit
dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu
einem großen Converſationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha-
betiſcher Reihenfolge dem gebildeten Deutſchen „alles Wiſſenswerthe“ hand-
lich vorlegte. Es war der Anfang jener maſſenhaften Eſelsbrücken-Lite-
ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu ſeinem Vortheil aus-
zeichnet. Das Unternehmen, ſo undeutſch wie ſein Name, fand doch
Anklang in weiten Kreiſen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne
ſolche Krücken konnte ſich dies mit der Erbſchaft ſo vieler Jahrhunderte
belaſtete Geſchlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit
unverhohlenem Entſetzen die Wandlung, die ſich in der Geſittung der
Nation allmählich vorbereitete; er ſah voraus, wie friedlos, leer und zer-
fahren, wie unſelbſtändig in ihrem Denken die moderne Welt werden
mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwiſſens, das Verlangen
nach immer wechſelnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte,
daß hier die ſchlimmſte Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts
lag, und ſchrieb die ernſte Warnung:

Daß nur immer in Erneuung
Jeder täglich Neues höre,
Und zugleich auch die Zerſtreuung
Jeden in ſich ſelbſt zerſtöre!

In einer ſo leſeluſtigen Welt ſtumpfte ſich der feine Formenſinn ſchnell
ab. Man trachtete vor Allem nach ſtofflichem Reiz, und da jede Zeit
die Schriftſteller hat, welche ſie verlangt und verdient, ſo fand ſich auch
ein Heer von rührigen Romanſchreibern, die ſich begnügten für den Zeit-
vertreib zu ſorgen und einige Jahre lang in den kritiſchen Blättern ge-
nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterſcheidender Charakterzug des
neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poeſie wie vereinzelte Goldkörner
in einem ungeheueren Schutthaufen werthloſer Unterhaltungsſchriften ver-
ſteckt lagen und immer erſt nach längerer Zeit aus der Maſſe des tauben
Geſteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anſpruchsloſen
Tagen nicht wie heute die induſtrielle Betriebſamkeit, was ſo viele Un-
berufene auf den deutſchen Parnaß führte, ſondern in der Regel die
Eitelkeit und die literariſche Mode. Wie in der dramatiſchen ſo zeigten
auch in der Roman- und Novellendichtung die poetiſchen Naturen ſelten
das Talent der Compoſition, während die Virtuoſen der ſpannenden und
feſſelnden Erzählung ebenſo ſelten die geſtaltende Kraft des Dichters be-
währten.

Durch die ſtrenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche
Gefühlsſeligkeit, die ſich einſt vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge-
nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann ſie
wieder Raum; in vielen Häuſern Norddeutſchlands herrſchte ein abge-

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[25/0039] Schreib- und Leſeſucht. Mit dem ſicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erſpähte der rührige F. A. Brockhaus dieſen mächtigen Zug der Zeit und ließ ſeit dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu einem großen Converſationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha- betiſcher Reihenfolge dem gebildeten Deutſchen „alles Wiſſenswerthe“ hand- lich vorlegte. Es war der Anfang jener maſſenhaften Eſelsbrücken-Lite- ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu ſeinem Vortheil aus- zeichnet. Das Unternehmen, ſo undeutſch wie ſein Name, fand doch Anklang in weiten Kreiſen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne ſolche Krücken konnte ſich dies mit der Erbſchaft ſo vieler Jahrhunderte belaſtete Geſchlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit unverhohlenem Entſetzen die Wandlung, die ſich in der Geſittung der Nation allmählich vorbereitete; er ſah voraus, wie friedlos, leer und zer- fahren, wie unſelbſtändig in ihrem Denken die moderne Welt werden mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwiſſens, das Verlangen nach immer wechſelnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte, daß hier die ſchlimmſte Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts lag, und ſchrieb die ernſte Warnung: Daß nur immer in Erneuung Jeder täglich Neues höre, Und zugleich auch die Zerſtreuung Jeden in ſich ſelbſt zerſtöre! In einer ſo leſeluſtigen Welt ſtumpfte ſich der feine Formenſinn ſchnell ab. Man trachtete vor Allem nach ſtofflichem Reiz, und da jede Zeit die Schriftſteller hat, welche ſie verlangt und verdient, ſo fand ſich auch ein Heer von rührigen Romanſchreibern, die ſich begnügten für den Zeit- vertreib zu ſorgen und einige Jahre lang in den kritiſchen Blättern ge- nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterſcheidender Charakterzug des neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poeſie wie vereinzelte Goldkörner in einem ungeheueren Schutthaufen werthloſer Unterhaltungsſchriften ver- ſteckt lagen und immer erſt nach längerer Zeit aus der Maſſe des tauben Geſteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anſpruchsloſen Tagen nicht wie heute die induſtrielle Betriebſamkeit, was ſo viele Un- berufene auf den deutſchen Parnaß führte, ſondern in der Regel die Eitelkeit und die literariſche Mode. Wie in der dramatiſchen ſo zeigten auch in der Roman- und Novellendichtung die poetiſchen Naturen ſelten das Talent der Compoſition, während die Virtuoſen der ſpannenden und feſſelnden Erzählung ebenſo ſelten die geſtaltende Kraft des Dichters be- währten. Durch die ſtrenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche Gefühlsſeligkeit, die ſich einſt vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge- nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann ſie wieder Raum; in vielen Häuſern Norddeutſchlands herrſchte ein abge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/39>, abgerufen am 29.03.2024.