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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leser trug, statt
der erhebenden Einsicht in die Vernunft der sittlichen Welt, nur ein Ge-
fühl rathlosen Entsetzens davon. Da die Neuheit dieses tollen Einfalls
Aufsehen erregte und die romantische Welt ohnehin geneigt war, im Aber-
witze den tiefsten Sinn zu suchen, so fand sich bald ein geschickter Macher,
der die Schrulle nach deutscher Unart in ein System brachte. Der Wei-
ßenfelser Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama "die Schuld" und
entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick-
salstragödie: eine höhere Weltordnung, räthselhafter noch als das blinde
Schicksal der Alten, sollte in das irdische Leben hineinragen und durch
den albernen Zufall, durch eine zerspringende Saite, einen unheilvollen
Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben stürzen.
So ward denn Alles, was die protestantische Welt je über tragische Schuld
und Zurechnung gedacht, durch die zügellose Neuerungslust der romanti-
schen Doktrin wieder in Frage gestellt, und es schien, als sollte unsere
tragische Kunst geradezu in Selbstvernichtung enden. Müllner richtete
sich in drei literarischen Zeitschriften zugleich häuslich ein, pries mit lau-
tem Marktgeschrei die lange Reihe seiner eigenen Werke und erschreckte
die Gegner durch unfläthige Grobheit, so daß Goethe zürnte: "Der Edle
mault nur um das Maul den Andern zu verbieten." Einige Jahre lang
behauptete der grundprosaische Mensch den angemaßten Thron; und so
fest stand noch das Ansehen der deutschen Dichtung in der Welt, daß
selbst ausländische Blätter gläubig von der neuen dramatischen Offen-
barung sprachen. Dann verfiel auch die Schicksalstragödie dem unab-
wendbaren Loose der gespreizten Nichtigkeit: das Publikum begann sich zu
langweilen und wendete sich anderen Moden zu.

Unter dem Verfalle der dramatischen Dichtung litt auch die Schau-
spielkunst. Wie viele geistvolle Abhandlungen über das Theater als natio-
nale Erziehungsanstalt waren nun schon erschienen, und doch hatte bisher
unter allen deutschen Staatsmännern nur Stein sich diesen Gedanken
angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der
Bühne verpflichtet sei. Er stellte, als er bei seinem Abgange die veränderte
Organisation der preußischen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der
Akademie der Künste unter das Departement des Cultus und des Unter-
richts; doch kaum zwei Jahre später wurden sie durch Hardenberg wieder
in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanstalten verwiesen und, mit
Ausnahme der Hoftheater, der Aufsicht der Polizei unterworfen. Die
Unterstützung der großen Bühnen in den Residenzstädten galt allgemein
als persönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte sich bald,
daß diese Theater von der Freigebigkeit kunstfreundlicher Fürsten immerhin
noch mehr zu erwarten hatten, als von der sparsamen Kleinbürgergesin-
nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre
1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwiesen

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leſer trug, ſtatt
der erhebenden Einſicht in die Vernunft der ſittlichen Welt, nur ein Ge-
fühl rathloſen Entſetzens davon. Da die Neuheit dieſes tollen Einfalls
Aufſehen erregte und die romantiſche Welt ohnehin geneigt war, im Aber-
witze den tiefſten Sinn zu ſuchen, ſo fand ſich bald ein geſchickter Macher,
der die Schrulle nach deutſcher Unart in ein Syſtem brachte. Der Wei-
ßenfelſer Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama „die Schuld“ und
entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick-
ſalstragödie: eine höhere Weltordnung, räthſelhafter noch als das blinde
Schickſal der Alten, ſollte in das irdiſche Leben hineinragen und durch
den albernen Zufall, durch eine zerſpringende Saite, einen unheilvollen
Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben ſtürzen.
So ward denn Alles, was die proteſtantiſche Welt je über tragiſche Schuld
und Zurechnung gedacht, durch die zügelloſe Neuerungsluſt der romanti-
ſchen Doktrin wieder in Frage geſtellt, und es ſchien, als ſollte unſere
tragiſche Kunſt geradezu in Selbſtvernichtung enden. Müllner richtete
ſich in drei literariſchen Zeitſchriften zugleich häuslich ein, pries mit lau-
tem Marktgeſchrei die lange Reihe ſeiner eigenen Werke und erſchreckte
die Gegner durch unfläthige Grobheit, ſo daß Goethe zürnte: „Der Edle
mault nur um das Maul den Andern zu verbieten.“ Einige Jahre lang
behauptete der grundproſaiſche Menſch den angemaßten Thron; und ſo
feſt ſtand noch das Anſehen der deutſchen Dichtung in der Welt, daß
ſelbſt ausländiſche Blätter gläubig von der neuen dramatiſchen Offen-
barung ſprachen. Dann verfiel auch die Schickſalstragödie dem unab-
wendbaren Looſe der geſpreizten Nichtigkeit: das Publikum begann ſich zu
langweilen und wendete ſich anderen Moden zu.

Unter dem Verfalle der dramatiſchen Dichtung litt auch die Schau-
ſpielkunſt. Wie viele geiſtvolle Abhandlungen über das Theater als natio-
nale Erziehungsanſtalt waren nun ſchon erſchienen, und doch hatte bisher
unter allen deutſchen Staatsmännern nur Stein ſich dieſen Gedanken
angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der
Bühne verpflichtet ſei. Er ſtellte, als er bei ſeinem Abgange die veränderte
Organiſation der preußiſchen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der
Akademie der Künſte unter das Departement des Cultus und des Unter-
richts; doch kaum zwei Jahre ſpäter wurden ſie durch Hardenberg wieder
in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanſtalten verwieſen und, mit
Ausnahme der Hoftheater, der Aufſicht der Polizei unterworfen. Die
Unterſtützung der großen Bühnen in den Reſidenzſtädten galt allgemein
als perſönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte ſich bald,
daß dieſe Theater von der Freigebigkeit kunſtfreundlicher Fürſten immerhin
noch mehr zu erwarten hatten, als von der ſparſamen Kleinbürgergeſin-
nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre
1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwieſen

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[20/0034] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leſer trug, ſtatt der erhebenden Einſicht in die Vernunft der ſittlichen Welt, nur ein Ge- fühl rathloſen Entſetzens davon. Da die Neuheit dieſes tollen Einfalls Aufſehen erregte und die romantiſche Welt ohnehin geneigt war, im Aber- witze den tiefſten Sinn zu ſuchen, ſo fand ſich bald ein geſchickter Macher, der die Schrulle nach deutſcher Unart in ein Syſtem brachte. Der Wei- ßenfelſer Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama „die Schuld“ und entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick- ſalstragödie: eine höhere Weltordnung, räthſelhafter noch als das blinde Schickſal der Alten, ſollte in das irdiſche Leben hineinragen und durch den albernen Zufall, durch eine zerſpringende Saite, einen unheilvollen Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben ſtürzen. So ward denn Alles, was die proteſtantiſche Welt je über tragiſche Schuld und Zurechnung gedacht, durch die zügelloſe Neuerungsluſt der romanti- ſchen Doktrin wieder in Frage geſtellt, und es ſchien, als ſollte unſere tragiſche Kunſt geradezu in Selbſtvernichtung enden. Müllner richtete ſich in drei literariſchen Zeitſchriften zugleich häuslich ein, pries mit lau- tem Marktgeſchrei die lange Reihe ſeiner eigenen Werke und erſchreckte die Gegner durch unfläthige Grobheit, ſo daß Goethe zürnte: „Der Edle mault nur um das Maul den Andern zu verbieten.“ Einige Jahre lang behauptete der grundproſaiſche Menſch den angemaßten Thron; und ſo feſt ſtand noch das Anſehen der deutſchen Dichtung in der Welt, daß ſelbſt ausländiſche Blätter gläubig von der neuen dramatiſchen Offen- barung ſprachen. Dann verfiel auch die Schickſalstragödie dem unab- wendbaren Looſe der geſpreizten Nichtigkeit: das Publikum begann ſich zu langweilen und wendete ſich anderen Moden zu. Unter dem Verfalle der dramatiſchen Dichtung litt auch die Schau- ſpielkunſt. Wie viele geiſtvolle Abhandlungen über das Theater als natio- nale Erziehungsanſtalt waren nun ſchon erſchienen, und doch hatte bisher unter allen deutſchen Staatsmännern nur Stein ſich dieſen Gedanken angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der Bühne verpflichtet ſei. Er ſtellte, als er bei ſeinem Abgange die veränderte Organiſation der preußiſchen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der Akademie der Künſte unter das Departement des Cultus und des Unter- richts; doch kaum zwei Jahre ſpäter wurden ſie durch Hardenberg wieder in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanſtalten verwieſen und, mit Ausnahme der Hoftheater, der Aufſicht der Polizei unterworfen. Die Unterſtützung der großen Bühnen in den Reſidenzſtädten galt allgemein als perſönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte ſich bald, daß dieſe Theater von der Freigebigkeit kunſtfreundlicher Fürſten immerhin noch mehr zu erwarten hatten, als von der ſparſamen Kleinbürgergeſin- nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre 1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwieſen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/34>, abgerufen am 28.03.2024.