Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
wagten, schienen alle einig in christlich-vaterländischer Begeisterung. Doch
kaum war der Friede geschlossen, so brachen alle die schroffen Gegensätze,
welche das vielgestaltige deutsche Leben umschloß, mit einem male wieder
hervor. Selbst halbverschollene Gedanken aus den ersten Jahren der
Revolution, Ideen die man längst überwunden glaubte, traten wieder
an das Tageslicht; denn es ist das Loos jeder Literatur, die nicht mehr
in der ersten Jugend steht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig
wird und die Schatten der Todten sich in den Kampf der Lebendigen
mischen. Rationalismus und religiöses Gefühl, Kritik und Mystik, Na-
turrecht und historische Staatslehre, nazarenische und hellenische Ideale,
Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Bestrebungen be-
kämpften und durchkreuzten sich in ewigem Wechsel.

Nicht blos der ängstliche Gentz klagte erschrocken, die ersehnte Frie-
denszeit habe den Deutschen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch
Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte sein Entsetzen nicht verbergen,
wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußischen Kronprinzen Alexan-
der Humboldt, den Vertreter der rein wissenschaftlichen Weltanschauung,
und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißsporne der christlich-germa-
nischen Glaubensinbrunst verkehren sah; er fragte besorgt, wie dies Volk
bei so unermeßlichem Abstande der Gesinnungen zum inneren Frieden, zur
festen Entschließung gelangen solle. Auf die Dauer fand der gesunde Sinn
der Nation freilich heraus was in diesem anarchischen Durcheinander echt
und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem
Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den
Kämpfen des deutschen Geistes theilzunehmen, mußte auf ein entsagungs-
volles Loos gefaßt sein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn
er hoch über dem Sektengeiste stand, willig oder nicht, in den Streit der
literarischen Parteien hineingerissen, von den Einen auf den Schild ge-
hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügellosigkeit deutscher Tadel-
sucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beschieden war,
konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver-
spätete Anerkennung zu finden.


Schon in den heiteren Jugendtagen der classischen Literatur hatte
die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge-
hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutschland siebzig Jahre lang fast alle
erdenklichen Kunststile und noch mannichfachere ästhetische Theorien ver-
sucht hatte, zeigte sich das künstlerische Schaffen von gelehrter Ueberbil-
dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter schwerer als
das Drama, das der Volksgunst bedarf wie die Blume der Sonne.
Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
wagten, ſchienen alle einig in chriſtlich-vaterländiſcher Begeiſterung. Doch
kaum war der Friede geſchloſſen, ſo brachen alle die ſchroffen Gegenſätze,
welche das vielgeſtaltige deutſche Leben umſchloß, mit einem male wieder
hervor. Selbſt halbverſchollene Gedanken aus den erſten Jahren der
Revolution, Ideen die man längſt überwunden glaubte, traten wieder
an das Tageslicht; denn es iſt das Loos jeder Literatur, die nicht mehr
in der erſten Jugend ſteht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig
wird und die Schatten der Todten ſich in den Kampf der Lebendigen
miſchen. Rationalismus und religiöſes Gefühl, Kritik und Myſtik, Na-
turrecht und hiſtoriſche Staatslehre, nazareniſche und helleniſche Ideale,
Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Beſtrebungen be-
kämpften und durchkreuzten ſich in ewigem Wechſel.

Nicht blos der ängſtliche Gentz klagte erſchrocken, die erſehnte Frie-
denszeit habe den Deutſchen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch
Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte ſein Entſetzen nicht verbergen,
wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußiſchen Kronprinzen Alexan-
der Humboldt, den Vertreter der rein wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung,
und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißſporne der chriſtlich-germa-
niſchen Glaubensinbrunſt verkehren ſah; er fragte beſorgt, wie dies Volk
bei ſo unermeßlichem Abſtande der Geſinnungen zum inneren Frieden, zur
feſten Entſchließung gelangen ſolle. Auf die Dauer fand der geſunde Sinn
der Nation freilich heraus was in dieſem anarchiſchen Durcheinander echt
und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem
Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den
Kämpfen des deutſchen Geiſtes theilzunehmen, mußte auf ein entſagungs-
volles Loos gefaßt ſein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn
er hoch über dem Sektengeiſte ſtand, willig oder nicht, in den Streit der
literariſchen Parteien hineingeriſſen, von den Einen auf den Schild ge-
hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügelloſigkeit deutſcher Tadel-
ſucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beſchieden war,
konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver-
ſpätete Anerkennung zu finden.


Schon in den heiteren Jugendtagen der claſſiſchen Literatur hatte
die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge-
hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutſchland ſiebzig Jahre lang faſt alle
erdenklichen Kunſtſtile und noch mannichfachere äſthetiſche Theorien ver-
ſucht hatte, zeigte ſich das künſtleriſche Schaffen von gelehrter Ueberbil-
dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter ſchwerer als
das Drama, das der Volksgunſt bedarf wie die Blume der Sonne.
Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0030" n="16"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. Gei&#x017F;tige Strömungen der er&#x017F;ten Friedensjahre.</fw><lb/>
wagten, &#x017F;chienen alle einig in chri&#x017F;tlich-vaterländi&#x017F;cher Begei&#x017F;terung. Doch<lb/>
kaum war der Friede ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o brachen alle die &#x017F;chroffen Gegen&#x017F;ätze,<lb/>
welche das vielge&#x017F;taltige deut&#x017F;che Leben um&#x017F;chloß, mit einem male wieder<lb/>
hervor. Selb&#x017F;t halbver&#x017F;chollene Gedanken aus den er&#x017F;ten Jahren der<lb/>
Revolution, Ideen die man läng&#x017F;t überwunden glaubte, traten wieder<lb/>
an das Tageslicht; denn es i&#x017F;t das Loos jeder Literatur, die nicht mehr<lb/>
in der er&#x017F;ten Jugend &#x017F;teht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig<lb/>
wird und die Schatten der Todten &#x017F;ich in den Kampf der Lebendigen<lb/>
mi&#x017F;chen. Rationalismus und religiö&#x017F;es Gefühl, Kritik und My&#x017F;tik, Na-<lb/>
turrecht und hi&#x017F;tori&#x017F;che Staatslehre, nazareni&#x017F;che und helleni&#x017F;che Ideale,<lb/>
Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Be&#x017F;trebungen be-<lb/>
kämpften und durchkreuzten &#x017F;ich in ewigem Wech&#x017F;el.</p><lb/>
          <p>Nicht blos der äng&#x017F;tliche Gentz klagte er&#x017F;chrocken, die er&#x017F;ehnte Frie-<lb/>
denszeit habe den Deut&#x017F;chen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch<lb/>
Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte &#x017F;ein Ent&#x017F;etzen nicht verbergen,<lb/>
wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußi&#x017F;chen Kronprinzen Alexan-<lb/>
der Humboldt, den Vertreter der rein wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Weltan&#x017F;chauung,<lb/>
und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heiß&#x017F;porne der chri&#x017F;tlich-germa-<lb/>
ni&#x017F;chen Glaubensinbrun&#x017F;t verkehren &#x017F;ah; er fragte be&#x017F;orgt, wie dies Volk<lb/>
bei &#x017F;o unermeßlichem Ab&#x017F;tande der Ge&#x017F;innungen zum inneren Frieden, zur<lb/>
fe&#x017F;ten Ent&#x017F;chließung gelangen &#x017F;olle. Auf die Dauer fand der ge&#x017F;unde Sinn<lb/>
der Nation freilich heraus was in die&#x017F;em anarchi&#x017F;chen Durcheinander echt<lb/>
und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem<lb/>
Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den<lb/>
Kämpfen des deut&#x017F;chen Gei&#x017F;tes theilzunehmen, mußte auf ein ent&#x017F;agungs-<lb/>
volles Loos gefaßt &#x017F;ein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn<lb/>
er hoch über dem Sektengei&#x017F;te &#x017F;tand, willig oder nicht, in den Streit der<lb/>
literari&#x017F;chen Parteien hineingeri&#x017F;&#x017F;en, von den Einen auf den Schild ge-<lb/>
hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügello&#x017F;igkeit deut&#x017F;cher Tadel-<lb/>
&#x017F;ucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter be&#x017F;chieden war,<lb/>
konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver-<lb/>
&#x017F;pätete Anerkennung zu finden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Schon in den heiteren Jugendtagen der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Literatur hatte<lb/>
die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge-<lb/>
hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deut&#x017F;chland &#x017F;iebzig Jahre lang fa&#x017F;t alle<lb/>
erdenklichen Kun&#x017F;t&#x017F;tile und noch mannichfachere ä&#x017F;theti&#x017F;che Theorien ver-<lb/>
&#x017F;ucht hatte, zeigte &#x017F;ich das kün&#x017F;tleri&#x017F;che Schaffen von gelehrter Ueberbil-<lb/>
dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter &#x017F;chwerer als<lb/>
das Drama, das der Volksgun&#x017F;t bedarf wie die Blume der Sonne.<lb/>
Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0030] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. wagten, ſchienen alle einig in chriſtlich-vaterländiſcher Begeiſterung. Doch kaum war der Friede geſchloſſen, ſo brachen alle die ſchroffen Gegenſätze, welche das vielgeſtaltige deutſche Leben umſchloß, mit einem male wieder hervor. Selbſt halbverſchollene Gedanken aus den erſten Jahren der Revolution, Ideen die man längſt überwunden glaubte, traten wieder an das Tageslicht; denn es iſt das Loos jeder Literatur, die nicht mehr in der erſten Jugend ſteht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig wird und die Schatten der Todten ſich in den Kampf der Lebendigen miſchen. Rationalismus und religiöſes Gefühl, Kritik und Myſtik, Na- turrecht und hiſtoriſche Staatslehre, nazareniſche und helleniſche Ideale, Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Beſtrebungen be- kämpften und durchkreuzten ſich in ewigem Wechſel. Nicht blos der ängſtliche Gentz klagte erſchrocken, die erſehnte Frie- denszeit habe den Deutſchen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte ſein Entſetzen nicht verbergen, wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußiſchen Kronprinzen Alexan- der Humboldt, den Vertreter der rein wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung, und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißſporne der chriſtlich-germa- niſchen Glaubensinbrunſt verkehren ſah; er fragte beſorgt, wie dies Volk bei ſo unermeßlichem Abſtande der Geſinnungen zum inneren Frieden, zur feſten Entſchließung gelangen ſolle. Auf die Dauer fand der geſunde Sinn der Nation freilich heraus was in dieſem anarchiſchen Durcheinander echt und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den Kämpfen des deutſchen Geiſtes theilzunehmen, mußte auf ein entſagungs- volles Loos gefaßt ſein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn er hoch über dem Sektengeiſte ſtand, willig oder nicht, in den Streit der literariſchen Parteien hineingeriſſen, von den Einen auf den Schild ge- hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügelloſigkeit deutſcher Tadel- ſucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beſchieden war, konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver- ſpätete Anerkennung zu finden. Schon in den heiteren Jugendtagen der claſſiſchen Literatur hatte die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge- hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutſchland ſiebzig Jahre lang faſt alle erdenklichen Kunſtſtile und noch mannichfachere äſthetiſche Theorien ver- ſucht hatte, zeigte ſich das künſtleriſche Schaffen von gelehrter Ueberbil- dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter ſchwerer als das Drama, das der Volksgunſt bedarf wie die Blume der Sonne. Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/30
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/30>, abgerufen am 29.03.2024.