Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite
I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.

Für eine ernstliche Reform des Reichs fehlten noch immer alle Vor-
bedingungen, es fehlte vor Allem der Wille der Nation. Ueber das alte
Wahngebilde der deutschen Freiheit kamen auch die reichspatriotischen Ver-
theidiger des Fürstenbundes nicht hinaus. Die josephinische Politik, so
versichert Hertzberg beweglich, drohe die Kräfte Deutschlands zu einer
Masse zusammenzuballen, das freie Europa einer Universalmonarchie
zu unterwerfen; und in Dohms Augen erscheint es als eine preiswürdige
Aufgabe des neuen Bundes, die Westgrenzen Oesterreichs offen zu halten,
damit Frankreich jederzeit zu Gunsten deutscher Freiheit einschreiten könne.
Das Volk empfand dunkel, daß das Bestehende nicht werth sei zu bestehen;
in Schubarts Schriften werden die kleinen schwäbischen Territorien oft
geschildert als ein offener Taubenschlag, der dem fürstlichen Marder dicht
vor den Klauen liege. Doch alle solche Einfälle und Ahnungen wurden
darniedergehalten von einem Gefühle hoffnungsloser Entsagung, das die
kräftigere Gegenwart kaum noch versteht; den Deutschen war zu Muthe,
als ob eine unerforschlich geheimnißvolle Schicksalsmacht dies Volk ver-
dammt hätte, für alle Ewigkeit in einem widersinnigen Zustande zu ver-
harren, der jedes Recht des Daseins längst verloren. Als der große
König schied, da hinterließ er zwar ein Geschlecht, das froher und stolzer
in die Welt blickte denn die Väter, und gewaltig hatte sich die Macht
des Staates gehoben, der vielleicht dereinst einen neuen Tag über
Deutschland heraufführen konnte. Doch die Frage: durch welche Mittel
und Wege eine lebensfähige Ordnung für das deutsche Gemeinwesen zu
schaffen sei? -- erschien bei Friedrichs Tode fast noch ebenso räthselhaft wie
bei seiner Thronbesteigung; ja sie wurde von der ungeheuren Mehrzahl
der Deutschen nicht einmal ernstlich aufgeworfen. Noch bestanden kaum die
ersten Anfänge einer Parteibildung in der Nation; nur ein Wunder des
Himmels schien der rathlosen Hilfe bringen zu können. Die entsetzliche
Verschrobenheit aller Verhältnisse erhellt mit unheimlicher Klarheit aus
der einen Thatsache, daß der Held, der einst mit seinem guten Schwerte
die Nichtigkeit der Institutionen des Reichs erwiesen hatte, nun damit
enden mußte, diese entgeisteten Formen selber gegen das Reichsoberhaupt
zu vertheidigen.

Wenn Friedrich die Entscheidung der deutschen Verfassungsfrage nur
vorbereiten, nicht vollenden konnte, so hat er dagegen auf die innere
Politik der deutschen Territorien tief und nachhaltig eingewirkt und unser
Volk zu einer edleren Staatsgesinnung, einer würdigeren Ansicht vom
Wesen des Staates erzogen. Er stand am Ende der großen Tage der
unbeschränkten Monarchie und erschien gleichwohl den Zeitgenossen als
der Vertreter eines neuen Staatsgedankens, des aufgeklärten Despotismus.
Nur der Genius besitzt die Kraft der Propaganda, vermag die wider-
strebende Welt um das Banner neuer Gedanken zu schaaren. Wie die
Ideen der Revolution erst durch Napoleon wirksam verbreitet wurden, so

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.

Für eine ernſtliche Reform des Reichs fehlten noch immer alle Vor-
bedingungen, es fehlte vor Allem der Wille der Nation. Ueber das alte
Wahngebilde der deutſchen Freiheit kamen auch die reichspatriotiſchen Ver-
theidiger des Fürſtenbundes nicht hinaus. Die joſephiniſche Politik, ſo
verſichert Hertzberg beweglich, drohe die Kräfte Deutſchlands zu einer
Maſſe zuſammenzuballen, das freie Europa einer Univerſalmonarchie
zu unterwerfen; und in Dohms Augen erſcheint es als eine preiswürdige
Aufgabe des neuen Bundes, die Weſtgrenzen Oeſterreichs offen zu halten,
damit Frankreich jederzeit zu Gunſten deutſcher Freiheit einſchreiten könne.
Das Volk empfand dunkel, daß das Beſtehende nicht werth ſei zu beſtehen;
in Schubarts Schriften werden die kleinen ſchwäbiſchen Territorien oft
geſchildert als ein offener Taubenſchlag, der dem fürſtlichen Marder dicht
vor den Klauen liege. Doch alle ſolche Einfälle und Ahnungen wurden
darniedergehalten von einem Gefühle hoffnungsloſer Entſagung, das die
kräftigere Gegenwart kaum noch verſteht; den Deutſchen war zu Muthe,
als ob eine unerforſchlich geheimnißvolle Schickſalsmacht dies Volk ver-
dammt hätte, für alle Ewigkeit in einem widerſinnigen Zuſtande zu ver-
harren, der jedes Recht des Daſeins längſt verloren. Als der große
König ſchied, da hinterließ er zwar ein Geſchlecht, das froher und ſtolzer
in die Welt blickte denn die Väter, und gewaltig hatte ſich die Macht
des Staates gehoben, der vielleicht dereinſt einen neuen Tag über
Deutſchland heraufführen konnte. Doch die Frage: durch welche Mittel
und Wege eine lebensfähige Ordnung für das deutſche Gemeinweſen zu
ſchaffen ſei? — erſchien bei Friedrichs Tode faſt noch ebenſo räthſelhaft wie
bei ſeiner Thronbeſteigung; ja ſie wurde von der ungeheuren Mehrzahl
der Deutſchen nicht einmal ernſtlich aufgeworfen. Noch beſtanden kaum die
erſten Anfänge einer Parteibildung in der Nation; nur ein Wunder des
Himmels ſchien der rathloſen Hilfe bringen zu können. Die entſetzliche
Verſchrobenheit aller Verhältniſſe erhellt mit unheimlicher Klarheit aus
der einen Thatſache, daß der Held, der einſt mit ſeinem guten Schwerte
die Nichtigkeit der Inſtitutionen des Reichs erwieſen hatte, nun damit
enden mußte, dieſe entgeiſteten Formen ſelber gegen das Reichsoberhaupt
zu vertheidigen.

Wenn Friedrich die Entſcheidung der deutſchen Verfaſſungsfrage nur
vorbereiten, nicht vollenden konnte, ſo hat er dagegen auf die innere
Politik der deutſchen Territorien tief und nachhaltig eingewirkt und unſer
Volk zu einer edleren Staatsgeſinnung, einer würdigeren Anſicht vom
Weſen des Staates erzogen. Er ſtand am Ende der großen Tage der
unbeſchränkten Monarchie und erſchien gleichwohl den Zeitgenoſſen als
der Vertreter eines neuen Staatsgedankens, des aufgeklärten Despotismus.
Nur der Genius beſitzt die Kraft der Propaganda, vermag die wider-
ſtrebende Welt um das Banner neuer Gedanken zu ſchaaren. Wie die
Ideen der Revolution erſt durch Napoleon wirkſam verbreitet wurden, ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0086" n="70"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 1. Deut&#x017F;chland nach dem We&#x017F;tphäli&#x017F;chen Frieden.</fw><lb/>
            <p>Für eine ern&#x017F;tliche Reform des Reichs fehlten noch immer alle Vor-<lb/>
bedingungen, es fehlte vor Allem der Wille der Nation. Ueber das alte<lb/>
Wahngebilde der deut&#x017F;chen Freiheit kamen auch die reichspatrioti&#x017F;chen Ver-<lb/>
theidiger des Für&#x017F;tenbundes nicht hinaus. Die jo&#x017F;ephini&#x017F;che Politik, &#x017F;o<lb/>
ver&#x017F;ichert Hertzberg beweglich, drohe die Kräfte Deut&#x017F;chlands zu einer<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;e zu&#x017F;ammenzuballen, das freie Europa einer Univer&#x017F;almonarchie<lb/>
zu unterwerfen; und in Dohms Augen er&#x017F;cheint es als eine preiswürdige<lb/>
Aufgabe des neuen Bundes, die We&#x017F;tgrenzen Oe&#x017F;terreichs offen zu halten,<lb/>
damit Frankreich jederzeit zu Gun&#x017F;ten deut&#x017F;cher Freiheit ein&#x017F;chreiten könne.<lb/>
Das Volk empfand dunkel, daß das Be&#x017F;tehende nicht werth &#x017F;ei zu be&#x017F;tehen;<lb/>
in Schubarts Schriften werden die kleinen &#x017F;chwäbi&#x017F;chen Territorien oft<lb/>
ge&#x017F;childert als ein offener Tauben&#x017F;chlag, der dem für&#x017F;tlichen Marder dicht<lb/>
vor den Klauen liege. Doch alle &#x017F;olche Einfälle und Ahnungen wurden<lb/>
darniedergehalten von einem Gefühle hoffnungslo&#x017F;er Ent&#x017F;agung, das die<lb/>
kräftigere Gegenwart kaum noch ver&#x017F;teht; den Deut&#x017F;chen war zu Muthe,<lb/>
als ob eine unerfor&#x017F;chlich geheimnißvolle Schick&#x017F;alsmacht dies Volk ver-<lb/>
dammt hätte, für alle Ewigkeit in einem wider&#x017F;innigen Zu&#x017F;tande zu ver-<lb/>
harren, der jedes Recht des Da&#x017F;eins läng&#x017F;t verloren. Als der große<lb/>
König &#x017F;chied, da hinterließ er zwar ein Ge&#x017F;chlecht, das froher und &#x017F;tolzer<lb/>
in die Welt blickte denn die Väter, und gewaltig hatte &#x017F;ich die Macht<lb/>
des Staates gehoben, der vielleicht derein&#x017F;t einen neuen Tag über<lb/>
Deut&#x017F;chland heraufführen konnte. Doch die Frage: durch welche Mittel<lb/>
und Wege eine lebensfähige Ordnung für das deut&#x017F;che Gemeinwe&#x017F;en zu<lb/>
&#x017F;chaffen &#x017F;ei? &#x2014; er&#x017F;chien bei Friedrichs Tode fa&#x017F;t noch eben&#x017F;o räth&#x017F;elhaft wie<lb/>
bei &#x017F;einer Thronbe&#x017F;teigung; ja &#x017F;ie wurde von der ungeheuren Mehrzahl<lb/>
der Deut&#x017F;chen nicht einmal ern&#x017F;tlich aufgeworfen. Noch be&#x017F;tanden kaum die<lb/>
er&#x017F;ten Anfänge einer Parteibildung in der Nation; nur ein Wunder des<lb/>
Himmels &#x017F;chien der rathlo&#x017F;en Hilfe bringen zu können. Die ent&#x017F;etzliche<lb/>
Ver&#x017F;chrobenheit aller Verhältni&#x017F;&#x017F;e erhellt mit unheimlicher Klarheit aus<lb/>
der einen That&#x017F;ache, daß der Held, der ein&#x017F;t mit &#x017F;einem guten Schwerte<lb/>
die Nichtigkeit der In&#x017F;titutionen des Reichs erwie&#x017F;en hatte, nun damit<lb/>
enden mußte, die&#x017F;e entgei&#x017F;teten Formen &#x017F;elber gegen das Reichsoberhaupt<lb/>
zu vertheidigen.</p><lb/>
            <p>Wenn Friedrich die Ent&#x017F;cheidung der deut&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ungsfrage nur<lb/>
vorbereiten, nicht vollenden konnte, &#x017F;o hat er dagegen auf die innere<lb/>
Politik der deut&#x017F;chen Territorien tief und nachhaltig eingewirkt und un&#x017F;er<lb/>
Volk zu einer edleren Staatsge&#x017F;innung, einer würdigeren An&#x017F;icht vom<lb/>
We&#x017F;en des Staates erzogen. Er &#x017F;tand am Ende der großen Tage der<lb/>
unbe&#x017F;chränkten Monarchie und er&#x017F;chien gleichwohl den Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en als<lb/>
der Vertreter eines neuen Staatsgedankens, des aufgeklärten Despotismus.<lb/>
Nur der Genius be&#x017F;itzt die Kraft der Propaganda, vermag die wider-<lb/>
&#x017F;trebende Welt um das Banner neuer Gedanken zu &#x017F;chaaren. Wie die<lb/>
Ideen der Revolution er&#x017F;t durch Napoleon wirk&#x017F;am verbreitet wurden, &#x017F;o<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0086] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Für eine ernſtliche Reform des Reichs fehlten noch immer alle Vor- bedingungen, es fehlte vor Allem der Wille der Nation. Ueber das alte Wahngebilde der deutſchen Freiheit kamen auch die reichspatriotiſchen Ver- theidiger des Fürſtenbundes nicht hinaus. Die joſephiniſche Politik, ſo verſichert Hertzberg beweglich, drohe die Kräfte Deutſchlands zu einer Maſſe zuſammenzuballen, das freie Europa einer Univerſalmonarchie zu unterwerfen; und in Dohms Augen erſcheint es als eine preiswürdige Aufgabe des neuen Bundes, die Weſtgrenzen Oeſterreichs offen zu halten, damit Frankreich jederzeit zu Gunſten deutſcher Freiheit einſchreiten könne. Das Volk empfand dunkel, daß das Beſtehende nicht werth ſei zu beſtehen; in Schubarts Schriften werden die kleinen ſchwäbiſchen Territorien oft geſchildert als ein offener Taubenſchlag, der dem fürſtlichen Marder dicht vor den Klauen liege. Doch alle ſolche Einfälle und Ahnungen wurden darniedergehalten von einem Gefühle hoffnungsloſer Entſagung, das die kräftigere Gegenwart kaum noch verſteht; den Deutſchen war zu Muthe, als ob eine unerforſchlich geheimnißvolle Schickſalsmacht dies Volk ver- dammt hätte, für alle Ewigkeit in einem widerſinnigen Zuſtande zu ver- harren, der jedes Recht des Daſeins längſt verloren. Als der große König ſchied, da hinterließ er zwar ein Geſchlecht, das froher und ſtolzer in die Welt blickte denn die Väter, und gewaltig hatte ſich die Macht des Staates gehoben, der vielleicht dereinſt einen neuen Tag über Deutſchland heraufführen konnte. Doch die Frage: durch welche Mittel und Wege eine lebensfähige Ordnung für das deutſche Gemeinweſen zu ſchaffen ſei? — erſchien bei Friedrichs Tode faſt noch ebenſo räthſelhaft wie bei ſeiner Thronbeſteigung; ja ſie wurde von der ungeheuren Mehrzahl der Deutſchen nicht einmal ernſtlich aufgeworfen. Noch beſtanden kaum die erſten Anfänge einer Parteibildung in der Nation; nur ein Wunder des Himmels ſchien der rathloſen Hilfe bringen zu können. Die entſetzliche Verſchrobenheit aller Verhältniſſe erhellt mit unheimlicher Klarheit aus der einen Thatſache, daß der Held, der einſt mit ſeinem guten Schwerte die Nichtigkeit der Inſtitutionen des Reichs erwieſen hatte, nun damit enden mußte, dieſe entgeiſteten Formen ſelber gegen das Reichsoberhaupt zu vertheidigen. Wenn Friedrich die Entſcheidung der deutſchen Verfaſſungsfrage nur vorbereiten, nicht vollenden konnte, ſo hat er dagegen auf die innere Politik der deutſchen Territorien tief und nachhaltig eingewirkt und unſer Volk zu einer edleren Staatsgeſinnung, einer würdigeren Anſicht vom Weſen des Staates erzogen. Er ſtand am Ende der großen Tage der unbeſchränkten Monarchie und erſchien gleichwohl den Zeitgenoſſen als der Vertreter eines neuen Staatsgedankens, des aufgeklärten Despotismus. Nur der Genius beſitzt die Kraft der Propaganda, vermag die wider- ſtrebende Welt um das Banner neuer Gedanken zu ſchaaren. Wie die Ideen der Revolution erſt durch Napoleon wirkſam verbreitet wurden, ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/86
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/86>, abgerufen am 19.04.2024.